Marx und Herkules


Besprechung der neuen Marx-Biographie von Michael Heinrich

Biografien sind unter den schier unüberschaubaren Einlassungen zu Karl Marx ein ganz besonderer Stoff, der – nicht überraschend – vor dem Hintergrund seines 200. Geburtstages am vergangenen 5. Mai zu einem Hoch anschwillt. Spätestens seit Paul Feyerabends Werk „Against Method“ (1975) wissen wir, dass methodisch alles erlaubt, was stringent und plausibel ist, was nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden sollte. Unabhängig von der Methodik geht dies fraglos in sich mit äußerst unterschiedlichen Qualitäten einher. Dies reicht beispielsweise von der antiquiert-orthodoxen, kleinbürgerlichen Biografie von Franz Mehring (1918) über Jürgen Neffes „Marx – Der Unvollendete“ (2017) mit blassen, teilweise ärgerlich-irreführenden Gegenwartsbezügen bis hin zu sehr ausgewogenen Abwägungen von Kurt Bayertz (2018), der unaufgeregt der – überwiegend impliziten – Philosophie im Leben und Wirken von Marx nachgeht, also „lediglich“ einen, wiewohl zentralen Aspekt in den Blick nimmt.

Michael Heinrich versucht sich in dem hier zu besprechenden Werk, dessen erster von drei geplanten Bänden vorliegt, an einer Gesamtsicht von Karl Marx. Dies ist für eine einzige Person eine gewagte Tat. Teils sind andere Autoren solche Herausforderungen in vielköpfigen Teams angegangen. Teils leiden bei Solo-Autoren solche Total-Perspektiven zu Marx darunter, dass ihre Verfasser überwiegend Historiker, Philosophie-Experten, Politologen oder Journalisten sind (selten Ökonomen), die ihr Fach meistenfalls gut beherrschen, jedoch hinsichtlich der Interdisziplinarität und Komplexität in der Regel nur sehr bescheidene Ergebnisse liefern und oft wegen mangelnder ökonomischer Kenntnisse scheitern.

Manchmal ist es sinnvoll, mit dem Ende zu beginnen. Im Anhang legt Heinrich dankenswerterweise auf den 21 Seiten seine Methode und Anforderungen an eine wissenschaftliche Biografie umfassend dar. Auf den ersten zehn Seiten werden in geraffter Form sowohl Geschichte wie Wendungen der Biographik in den letzten Jahrhunderten aufgezeigt. Diese münden in vier Anforderungen an eine „moderne politische Biografie“ (S. 371/2). Verkürzt: (1) Verknüpfungen von Person und (historischem) Wirkungszusammenhang nebst permanenten Rückwirkungen; (2) individuelle ausgestaltete „Lebensführung“ und das Werk als integrativer Bestandteil; (3) Verbindungslinien und biografische Brüche; (4) historisch-politische Handlungsspielräume und Perspektivität der jeweiligen Zeit. Heinrich kommt es insbesondere darauf an, dass eine wissenschaftliche Biografie nicht zu einem Entwicklungsroman verkommt, in dem lediglich soziale und historische Bedingungen eingeschoben werden. Alles Wissen über die Vergangenheit ist naturgemäß lückenhaft. Dies dürfe nicht durch Spekulation und schon gar nicht durch suggestive oder ungedeckte psychologische Annahmen aufgefüllt werden, indem man sich unstatthaft in die zu analysierende Person hineinversetzt. „Deshalb muss nicht nur das Wissen, sondern auch das Nicht-Wissen deutlich herausgestellt werden.“ (S. 380) Im zweiten Teil des Anhangs differenziert Heinrich dies aus anhand bisheriger Marx-Biografien, indem er nacheinander Dilthey, Rühe, Künzli, Pilgrim, Sperber, Foucault u.a. diskutiert und sich nachvollziehbar abgrenzt. Wegen der hohen Dichte des Textes kann hier keine Zusammenfassung erfolgen. Allein – das Ergebnis ist so elaboriert wie überzeugend und wird auch im Textteil des ersten Bands konsistent befolgt.

Heinrich ist lehrender wie forschender Wirtschaftswissenschaftler und ausgewiesener Kenner der „Politischen Ökonomie“ von Karl Marx. Dies spielt im ersten Band eine geringere Rolle; dies wird ihm jedoch sicherlich in seinen zwei Folge-Bänden noch mehr nützlich sein. Denn spätestens ab seinen Grundrissen 1857/58 hat Marx, wenn man so will, als ökonomisches Programm bis zu seinem Tode 1883 versucht einzulösen, was er als (dialektischen) historischen Materialismus in seiner Frühphase entwickelt hat.

Der erste Band reicht von der Geburt 1818 bis zum Jahre 1841, in dem Marx seine Dissertation in Jena einreicht, obwohl er vorher in Berlin studierte. Im ersten Kapitel liegen nur spärliche Informationen über Marx selbst vor. Systematisch untersucht Heinrich das Umfeld: Die Geburtsstadt Trier, das Elternhaus, die „politische(n) Zustände in Deutschland“, Marx im hiesigen Gymnasium, Bindungen und Anstöße. Das zweite Kapitel schildert die Studienphase von Marx zunächst als kurzes Zwischenspiel in Bonn, dann in Berlin. Im Fokus des zweiten Kapitels stehen seine fundamentale persönliche Krise, die Abkehr von der Dichtung und die Hinwendung zur Hegelschen Philosophie. Die gründlich recherchierten Ausführungen werfen ein ganz neues Licht auf diesen Lebensbruch, der von anderen Biografen oberflächlich als eine Angelegenheit von mangelndem Talent, weniger als eine Weiterentwicklung gesehen wird. Das dritte Kapitel mündet in das Dissertationsprojekt von Marx über die altgriechischen Materialisten und Atomisten Demokrit (ca. 460 bis ca.371 v. Chr.) und Epikur (ca. 341 bis ca. 271 v. Chr.). Dieser Prozess wird abgeleitet aus dem Marx‘schen Leben in Berlin und den dortigen politischen Diskussionen, bei denen die Hegelsche Philosophie und die Junghegelianer in den Mittelpunkt rücken. Als originell dürften die bislang nicht aufgearbeiteten Debatten mit Bruno Bauer (1809-1882) gelten, die nach fünf Jahren der Freundschaft und der gegenseitigen Inspiration später – 1842 – beidseits zu einer Abkehr führen.

Heinrich hat diesen Lebensabschnitt von Karl Marx ebenso professionell wie lesenswert aufbereitet. Das Buch ist auch für Nicht-Akademiker verständlich. Vor allem ist Heinrich den selbst aufgestellten Kriterien im Anhang stets verpflichtet geblieben. Es wird abwägend resümiert. Es ist mir keine Schlussfolgerung aufgefallen, die nicht fundiert ist. Das Buch ist ein Musterstück an Interdisziplinarität und Beherrschung von Komplexität, die so einfach kaum ein vergleichbares Beispiel findet.

Doch kann man bis zum Jahre 1841 als die eher ruhige Zeit von Karl Marx bezeichnen. Danach wurde sein Leben erst richtig turbulent: sowohl bezüglich der Flut an politischen Aktivitäten wie der Veröffentlichungen und der Korrespondenz. Diese analytisch einzufangen, steht Heinrich vor einer Herkules-Aufgabe bezüglich der geplanten Folge-Werke. Allein im Bereich der Politischen Ökonomie, will man der bisherigen Stringenz weiter folgen, sind umfassende Probleme zu analysieren wie die ungelöste Transformation der Werte und Preise; nämlich dass der Produktionspreis, der aus der Wert-Analyse der Ware abgeleitet ist, sich selbst voraussetzt. Oder das „Gesetz“ vom tendenziellen Fall der Profitrate, das so zumindest bisher nicht eingetreten ist. Oder die zunehmende Zentralisation und Konzentration des Kapitals – heute Monopolisierung genannt –, die eigentlich nach Marx längst das System an seinen Widersprüchen hätte scheitern lassen müssen. Ebenso im Bereich der Philosophie: Hat Marx sein Basis-Überbau-System, wie in seinen frühen Jahren entwickelt, nicht später gegen ein vierstufiges Eskalationsmodell eingetauscht? Bestimmt das Sein wirklich primär das Bewusstsein, oder stehen beide nicht in einer eher dialektischen Wechselwirkung? Inwieweit war Marx deterministisch – oder hat er hier mehr beliebig argumentiert? War Marx nicht doch indirekt noch ein wenig ein idealistischer Hegelianer – und zudem eine Spur teleologisch? Und: Marx als Flüchtling, in London mehr als ein Jahrzehnt am Hungertuch nagend. Marx als politischer Agitator, Revolutionär nicht zuletzt in der Ersten Internationalen, als Querkopf und Egoist und so weiter. ….

Viele Fragen… Ob Antworten dazu in zwei Bände zu pressen sind, ist eine ebensolche. Vielleicht ist doch zukünftig ein Format angebracht, das schlanker, selektiver, kurz „abgespeckt“ ist. Schließlich möchte der Rezensent gerne noch zu seinen Lebzeiten die zwei Folgebände in den Händen halten.

 Peter Frankenfeld ist Volkswirt, Politologe, promovierter Wirtschaftswissenschaftler und em. Professor. Er war u.a. Direktor des bremischen Instituts für Europäische Regionalökonomie IER. Seit Ende 2017 im Ruhestand.

Michael Heinrich: Karl Marx und die Geburt der modernen Gesellschaft
Biographie und Werkentwicklung.
Band 1: 1818-1841 [ISBN 978-3-89657-085-7]
Auflage: 1.; Erscheinungsjahr: 2018; Buch gebunden | 432 Seiten | Ladenpreis: 29,80 EUR / Verlag Schmetterling Stuttgart