Das Jahr 2018 steht im Zeichen des 200. Geburtstags von Karl Marx – Anlass für Jürgen Bönig (Verfasser von: Karl Marx in Hamburg. Der Produktionsprozess des „Kapital“), in vier LP21-Ausgaben an Marx als revolutionären Theoretiker und als revolutionären Praktiker zu erinnern.
Den vollen Arbeitsertrag für alle
Als Karl Marx am 3. Oktober 1874 auf der Rückreise von einem längeren Kuraufenthalt in Karlsbad mit Tochter Eleanor ein letztes Mal seinen Verleger in Hamburg aufsuchte, konnte er die zweite Auflage des Ersten Bandes des „Kapital“ entgegennehmen – im Frühjahr 1871 war die Erstauflage ausverkauft, als Marx als Verteidiger der Pariser Kommune bekannt geworden war.
In Hamburg erfuhr Marx auch, dass eine Einigung zwischen der Allgemeinen Deutschen Arbeiterpartei, 1863 von Ferdinand Lassalle gegründet, und Sozialdemokratischer Arbeiterpartei von 1869, der Marx nahestand, große Fortschritte mache.
»Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur, und da nutzbringende Arbeit nur in der Gesellschaft und durch die Gesellschaft möglich ist, gehört der Ertrag der Arbeit unverkürzt, nach gleichem Rechte, allen Gesellschaftsgliedern.«
So sollte der erste Satz des Programms der neuen Partei heißen.
Marx muss gedacht haben, er habe das „Kapital“ vergebens geschrieben, als er diesen Anfang las, der sicherlich auf Ferdinand Lassalle (1825-1864) und sein Offenes Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung eines Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig vom 1. März 1863 zurückging.
In grimmigen Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, die am 5. Mai 1875 von London an den Parteivorstand gingen und erst 1891 von Engels veröffentlicht wurden, wettert er:
»Die Arbeit ist nicht die Quelle alles Reichtums. Die Natur ist ebensosehr die Quelle der Gebrauchswerte […] als die Arbeit.«
Und dann zählt Marx auf, was alles aus dem „vollen Arbeitsertrag“ der Arbeit genommen werden muss, was auch der dümmste, etwas längerfristig denkende Kapitalist tut, bevor die Arbeitenden ans individuelle Konsumieren gehen können: das, was die verbrauchten Produktionsmittel ersetzt, was die Produktion ausdehnt und Fonds zur Absicherung gegen Störungen bildet.
Und schließlich können die Arbeitenden auch nicht das verzehren, was alle die brauchen, die nicht arbeiten können, weil sie beispielsweise mit der Verwaltung und Weiterentwicklung der Produktion beschäftigt, in Ausbildung befindlich oder zur Arbeit nicht fähig sind.
Gerechtigkeit bestünde eben nicht darin, dass die Arbeitenden sich als Unternehmer gegenüber den Produktionsmitteln verhalten. Sie müssten sich schon auf die gesellschaftliche Planung dessen einlassen, was sie gemeinsam produzieren und dabei Bedürfnisse derjenigen berücksichtigen, die eben nicht zur Produktion beitragen können.
Marx verzichtete darauf, seine Kritik am Programm beim Gothaer Vereinigungsparteitag Ende Mai 1875 bekanntzumachen. Wirkliche Organisationsfortschritte seien wichtiger als bereits praktisch überholte programmatische Positionen.
Aber ein wenig muss ihn schon gestört haben, dass nach 25 Jahren Arbeit über das Wirken der „kapitalistischen Produktionsweise“ immer noch die Vorstellungen Wilhelm Weitlings und der Handwerkerkommunisten zur Überwindung des Kapitalismus vorherrschten, dass nämlich die Arbeitenden Zettel mit ihren Arbeitsstunden erhalten und dafür genau diejenigen Güter bekommen können, die in gleicher Stundenzahl produziert worden seien – ohne dass für Erneuerung, Erweiterung und andere Entwicklung, ohne dass für Muße und Nichts-Tun, Leben und Faulheit etwas übrig bliebe.