Mit Zahlenteufel startet Lunapark21 in dieser Ausgabe eine neue Rubrik
2014 beendete Thomas Piketty sein Buch über „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ mit dem Satz: „Von den Zahlen nichts wissen zu wollen, dient selten der Sache der Ärmsten.“ Bei aller Kritik an Pikettys Zugang – siehe Lunapark21, Heft 28: https://www.lunapark21.net/der-zahlenteufel/ – dies war zwar keine neue, aber sehr richtige Einsicht. Bertolt Brecht formulierte sie einst so: „Was du nicht selber weißt / Weißt du nicht. / Prüfe die Rechnung / Du mußt sie bezahlen. / Lege den Finger auf jeden Posten / Frage: Wie kommt er hierher?“ (Lob des Lernens). Leider hat auch die Autorität Brechts unter Linken nur wenige dazu verführt, sich mit der Herkunft und Bedeutung wirtschaftlicher Größen genauer zu beschäftigen. Doch es muss nicht so bleiben, wie es ist.
Einen Krieg vorbereiten und einen Krieg führen sind zwei sehr verschiedene Dinge. Das gilt in jeder Beziehung, es gilt auch wirtschaftlich.
Beginnen wir mit einem Beispiel: Am 1. Mai 2024 lief die Fujian, Chinas modernster Flugzeugträger, zur ersten Probefahrt aus. Sie bietet Platz für mehr als 50 Flugzeuge und Hubschrauber. Mit einer Tonnage von 80.000 Tonnen ist sie größer als die beiden bereits im Dienst stehenden Schiffe. Und bei der Liaoning und der Shandong handelt es sich lediglich um Weiterentwicklungen eines alten sowjetischen Projekts. Sie verwenden zum Start eine Art Schanze, was Größe, Nutzlast und Reichweite der eingesetzten Flugzeuge begrenzt. Dagegen verfügt die Fujian über ein elektromagnetisches Katapult – wie sonst nur die 2017 in Dienst gestellte US-amerikanische Gerald Ford. China gehört zu den großen Seemächten. An Reichweite und Tragfähigkeit bleibt die konventionell angetriebene Fujian allerdings deutlich hinter den US-Trägern zurück. Die Gerald Ford wie die zehn Flugzeugträger der älteren Nimitz-Klasse verfügen über einen Nuklearantrieb: Nur einmal, etwa auf der Mitte des Nutzungszyklus von gut 50 Jahren, muss neuer Atombrennstoff angeliefert werden. Arbeiten an einem nuklear getriebenen Flugzeugträger sollen auch in China schon begonnen haben. Aber heute und auf absehbare Zeit sind nur die USA in der Lage, mit Flugzeugträgerkampfgruppen auf allen Weltmeeren militärische Gewalt zum Einsatz zu bringen.

Die Gesamtkosten für einen Träger der Nimitz-Klasse betragen etwa elf Milliarden Dollar in aktueller Kaufkraft. Für die Schiffe der Gerald-Ford-Klasse zeigt das Preisschild schon 13 bis 14 Milliarden Dollar.1 Nicht so klar ist, wie teuer die Fujian für die Volksrepublik China werden wird. Hergestellt wird das Schiff auf der Jiangnan-Werft in Shanghai. Der staatliche Mutterkonzern, die China State Shipbuilding Corporation (CSSC), erscheint in der Sipri-Liste der 100 größten Rüstungsproduzenten der Welt im Jahr 2022 auf Platz 16. Der Gesamtumsatz der CSSC im gleichen Jahr belief sich auf 51,5 Milliarden Dollar. Davon entfielen 10,5 Milliarden auf ihren Rüstungssektor.
Legitimität
Wirtschaftlich gesehen sind alle militärischen Aufwendungen eine Form gesellschaftlichen, zumeist staatlichen Konsums. Ein Zweck solcher Aufwendungen ist unspezifisch. Es ist die Verhinderung oder Begrenzung von Schäden. Es geht um bestimmte Schäden, die von anderen mit Gewalt herbeigeführt werden können. Die wiederum gewaltsamen Mittel, mit denen eine Gefahrenabwehr erreicht werden soll, sind spezifisch, das Ziel ist es nicht. In wirtschaftlicher Hinsicht unterscheidet sich dies nicht von Katastrophenschutz und -hilfe oder der Beseitigung von Umweltverschmutzungen. Es stellt sich nur die Frage, welche Schäden für wen abgewendet werden sollen. Die Uno-Charta zielt auf die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit (Art. 1). Das »naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung« gegen einen bewaffneten Angriff (Art. 51) ist davon unberührt. Auch Leute, die nicht viel zu verlieren haben, verteidigen doch die Gesell schaft, in der sie leben, wenn Eroberung noch mehr Fremdbestimmung heißt. Obwohl die Verfügung über Machtmittel und noch mehr der Einsatz von Gewalt unabhängig von den verfolgten Zielen immer negative Folgen haben, werden Ziele wie Landes- und Bündnisverteidigung jenseits streng pazifistischer Gruppen breit akzeptiert. Die Legitimität des atomaren Wettrüstens brach erst zusammen, als niemandem mehr zu vermitteln war, was auf diesem Weg noch geschützt werden sollte. Immerhin ein Beispiel für eine erfolgreiche humanitäre Intervention hat die Zeit nach 1945 zu bieten: Die Beendigung des Völkermords der Roten Khmer durch die vietnamesischen Streitkräfte 1978/79.
Andere Zwecke sind nicht mit der Uno-Charta zu vereinbaren und werden doch von Mitgliedsstaaten systematisch verfolgt: Die Aussicht, durch die gewaltsame Schädigung anderer zu gewinnen. Schon ohne Anwendung von Gewalt kann ihre Androhung der Erpressung dienen. Eine Veränderung des Kräfteverhältnisses ist möglich, indem der Zugang zu Ressourcen beschränkt, indem Vermögenswerte zerstört oder erobert, indem Menschen verletzt und getötet werden. Natürlich gibt es ein Risiko. Der Gegner kann stärker sein als erwartet. Und ein realistisches Bild vom Feind ist oft Mangelware, wenn starke Interessen die zuständigen Personen leiten – ein Problem, das auf allen Seiten eines Konfliktes regelmäßig auftritt.
Nebenkosten
Wie alle Formen staatlichen Konsums treffen auch Militärausgaben aus verschiedensten Gründen auf Kritik. Nicht immer geht solche Kritik von den Tatsachen aus. Wenn über Rüstung gesprochen wird, dann wird meist über Waffen und Waffensysteme gesprochen, über Flugzeuge und Raketen, über Schiffe und Kanonen, über Panzer und Gewehre. Auch Aufklärungs- und Spionagetechnik finden Aufmerksamkeit. Doch schon die Ausstattung mit der nötigen Munition hat vor dem russischen Überfall auf die Ukraine kaum je Nachrichtenwert gehabt. Da hat sich etwas geändert.
All das sind Rüstungsausgaben im eigentlichen Sinne. Um ein Militär einsatzfähig zu machen und zu unterhalten, sind noch viele andere Posten zu finanzieren: Unterkünfte, Infrastruktur, nicht zuletzt die Bezahlung der Militärangehörigen vom Sold bis zu den Pensionen und Hinterbliebenenrenten. In einem Land mit einem höheren Durchschnittseinkommen ist auch das Militär teurer. Entsprechend breit gestreut sind die wirtschaftlichen Interessen an der Existenz und einem Ausbau des Militärs, weit über den Militärisch-industriellen Komplex (MIK) hinaus. Allerdings profitieren nicht alle Unternehmen. Es gibt auch kapitalistische Zweifel am Sinn von Militärausgaben. Es hat sich herumgesprochen, dass nach 1945 Japan jahrzehntelang ohne diesen besonderen Abzug von der Akkumulation außerordentlich gewachsen ist.
Das Sipri in Stockholm berichtet regelmäßig über die Militärausgaben in aller Welt: Im Jahr 2022 kam es auf weltweit insgesamt 2,2 Billionen Dollar2, etwa soviel wie das Bruttoinlandsprodukt Russlands im selben Jahr. Zum Vergleich: Frankreichs BIP lag bei 2,8 Billionen, Großbritannien kam auf 3, Deutschland auf 4,1 und Japan auf 4,2 Billionen Dollar. In einer anderen Liga befinden sich China mit einem Bruttoinlandsprodukt von 18 Billionen und die USA mit 25,5 Billionen Dollar.
Die Angaben des Sipri zu den Militärausgaben sind Forschungsergebnisse, keine einfache Übernahme von amtlichen Veröffentlichungen. So belief sich der offizielle Verteidigungshaushalt der DDR 1988 auf 15,7 Milliarden Mark der DDR – das waren 6 Prozent des Nationaleinkommens nach der Systematik des Material Product System des Ostblocks, etwa 4,5 Prozent des BIP. Das Sipri geht realistisch von einem höheren Wert aus. Es beziffert die DDR-Militärausgaben im Jahr 1988 auf 21,7 Milliarden Mark der DDR – mehr als 8 Prozent des Nationaleinkommens, mehr als 6 Prozent des BIP.
Auf und Ab
Die Sipri-Statistik ist nicht vollständig. Für die meisten Länder des Warschauer Vertrags enthält die Übersicht Daten spätestens ab 1960, für die Sowjetunion nur für die Jahre 1988 bis 1990. Damit wird immerhin das Ende des Kalten Krieges – und mit den Angaben zur Russischen Föderation ab 1992 – auch der massive Rückgang der weltweiten Militärausgaben in den 1990er Jahren erfasst: Nach dem Höhepunkt im Zeitraum 1986-88 gingen die Militärausgaben – in Dollar konstanter Kaufkraft – bis 1998 weltweit um ein Drittel zurück. Erst 2007 wurde der Stand von 1986/87 wieder erreicht und dann überschritten. Auch die Entwicklung der US-Militärausgaben lag bis 1998 mit einem Rückgang von einem Drittel voll im Trend. Die Vertreter des MIK waren davon nicht begeistert, mussten sich jedoch unterordnen. In diesen Zahlen sind die Ausmusterung und Vernichtung vorhandener Vorräte an Waffen und Munition gar nicht berücksichtigt. Das Aus maß der weltweiten Abrüstungen in den 1990er Jahren wird durch den bloßen Rückgang der laufenden Militärausgaben deutlich unterschätzt. Im Rahmen des Vertrages über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) wurden allein bis 1996 über 50.000 Waffensysteme abgerüstet. Die Zahl der weltweit vorhanden Atomsprengköpfe ging von über 64.000 im Jahr 1986 über etwa 24.000 im Jahr 2000 auf noch 9300 im Jahr 2017 zurück. Inzwischen gibt es wieder fast 9600 Atomsprengköpfe.3
Die konventionelle Wiederaufrüstung kündigte sich 1999 mit dem Kosovo- und Tschetschenienkrieg an. Mit dem Irakkrieg 2003 bis 2011 entfielen wieder etwa 50 Prozent der weltweiten Militärausgaben allein auf die USA. Erst mit dem Abzug aus dem Irak sank dieser Anteil in der zweiten Amtszeit Barack Obamas auf unter 42, unter Joe Biden auf knapp 38 Prozent. Krieg führen oder keinen Krieg führen macht einen Unterschied. Der Anteil Chinas an den weltweiten Militärausgaben betrug 2010 gerade 7 Prozent, 2023 dagegen schon 13 Prozent.
In den USA und anderen Ländern mit heftigen parlamentarischen Konflikten über die Haushaltspolitik ist die Datenlage gut. Manchmal kann dagegen nur geschätzt werden. Schließlich bleiben weiße Flecken gerade bei vielen aktuellen Kriegs- und Krisengebieten: Syrien und Jemen, Libyen, Afghanistan, Eritrea, Sudan. Auf die Gesamtsumme hat das nur einen geringen Einfluss. In armen Ländern können auch große Katastrophen mit geringem wirtschaftlichem Aufwand hergestellt werden: Die Militärausgaben der Demokratischen Republik Kongo liegen selbst im afrikanischen Vergleich niedrig. Auch die Milizen im Osten des Landes sind nicht teuer. Dennoch haben die Kriege dort in den vergangenen 30 Jahren Millionen Menschen das Leben gekostet.
Die Rüstungsschmieden
Die Militärausgaben sind das breitere Konzept. Die eigentlichen Rüstungsausgaben, also die Beschaffung von Waffen, Munition und Gerät, machen davon nur etwa ein Drittel aus. Das Sipri berichtet auch über die Umsätze der 100 größten Rüstungsfirmen weltweit.4 Die summierten sich im Jahr 2022 auf knapp 600 Milliarden Dollar. Der größte wirtschaftliche Aufwand entfällt auf die modernsten Waffensysteme, und hier findet sich auch die größte Kapitalkonzentration: Auf die zehn größten Konzerne kommen fast 50 Prozent des Rüstungsumsatzes der Top 100. Außer der chinesischen Norinco auf Platz sieben haben alle anderen unter den Top Ten ihren Schwerpunkt im Bereich Flugzeuge und Lenkraketen: Lockheed Martin, Raytheon Technologies, Northrop Grumman, Boeing, General Dynamics Corp (alle USA), BAE Systems (Großbritannien), AVIC, CASC (beide China), Rostec (Russland). Die deutsche Rüstungsindustrie spielt in Europa über die transnationalen Konzerne Airbus und KNDS eine wichtige Rolle, doch keine erste Geige. Sie war 2022 nicht nur kleiner als die Großbritanniens und Frankreichs, sondern auch derjenigen Italiens: Allein die Leonardo-Gruppe hatte einen größeren Rüstungsumsatz als Rheinmetall, Thyssen-Krupp, Hensoldt und Diehl zusammengenommen. Heckler & Koch findet sich als Kleinwaffenproduzent nicht unter den Top 100. All das ist die konventionelle Rüstung. Der Aufwand für die Produktion und Einsatzbereitschaft von Atomwaffen ist trotz ihrer ungeheuren Zerstörungskraft sicher um Größenordnungen geringer. Nur eines der drei großen National Laboratories des US-Kernwaffenkomplexes hat es unter die Top 100 geschafft, die Sandia National Laboratories auf Platz 37.
Die gesellschaftliche Bedeutung des Militärs ist mit wirtschaftlichen Größen allein nicht zu umreißen. Aber es ist gut, von diesen Größen auszugehen. Theodor Fontane ließ eine seiner Figuren sagen: »Wir leben von der Hand in den Mund, und warum? weil der Staat Friedrichs des Großen nicht ein Land mit einer Armee, sondern eine Armee mit einem Lande ist. Unser Land ist nur Standquartier und Verpflegungsmagazin.« Seit dem Nato-Gipfel in Wales 2014 diskutieren Politiker und Öffentlichkeit immer wieder über die dort formulierte Verpflichtung, zwei Prozent des BIP für das Militär aufzuwenden. Donald Trump hatte wenig Erfolg mit seinem Drängen, alle Nato-Mitglieder sollten sich dieser Regel unterwerfen. Dann sorgte der russischen Überfall auf die Ukraine für eine Zeitenwende. Inzwischen sprechen EU-Politiker schon von Kriegswirtschaft – ohne zu wissen, was das ist. Die Ukraine wendete vor 2022 maximal 4,4 Prozent des BIP für das Milit är auf. 2022 waren es 26 Prozent, 2023 fast 37 Prozent: Das heißt Kriegswirtschaft für einen mittelgroßen Staat, der in seiner Existenz bedroht ist. Für Russland kommt das Sipri 2023 auf sechs Prozent.
In den Heften 1 und 3 der Lunapark21 des Jahres 2008 hat David Gold die wirtschaftswissenschaftliche Forschung zum – langfristig klar rückläufigen – Anteil der Militärausgaben am US-BIP resümiert.5 Der Schluss seines zweiten Beitrags sah über den Tellerrand der Ökonomen hinaus und ist bis heute aktuell: »Die schwerste Belastung durch das Militärbudget ist die erhöhte Neigung zur Anwendung militärischer Mittel und zu einem gewaltsamen Austragen von Konflikten. Das größte Übel für eine Ökonomie ist der Krieg.«
Anmerkungen:
1 https://crsreports.congress.gov/ product/pdf/RS/RS20643
2 https://www.sipri.org/databases/milex
3 https://thebulletin.org/nuclear-notebook/
4 https://www.sipri.org/databases/ armsindustry
5 https://www.files.ethz.ch/isn/15193/Gold_2005-01.pdf