Konvention gegen Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt

Die ILO setzt für Frauen weltweit ein starkes Zeichen

Nach schwierigen Verhandlungen konnte die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) die längst fällige Konvention und Empfehlung gegen Gewalt in der Arbeitswelt kurz vor den Sommerferien 2019 verabschieden. Mit dieser Konvention wird ein starkes Zeichen gesetzt. Nicht nur damit, dass auf ein Dauerthema mit Bestimmungen von weltweiter Bedeutung geantwortet wird, sondern auch mit dem hundertjährigen Bestehen der ILO selbst. Darüber hinaus fällt diese Konvention in eine Zeit von weltweiten Massenmobilisierungen für Frauenrechte, des herausragenden Frauenstreiks in der Schweiz vom 14. Juni 2019, und auch der #MeToo-Debatten. Dafür hatten vor allem Gewerkschaften jahrelang national wie international gekämpft. Es ist ein Meilenstein von historischer Bedeutung für Gleichberechtigung und Respekt gegenüber Frauen auf der ganzen Welt.

Konventionen der ILO sind jedoch erst verbindlich, sobald sie von den einzelnen Mitgliedsstaaten ratifiziert worden sind. Nun geht es also darum, dass die Mitgliedsstaaten ein ebenso klares Zeichen setzen und die Konvention rasch unterzeichnen. Im Nachgang zum Frauenstreik in der Schweiz, bei dem der Kampf gegen Gewalt und sexuelle Belästigung ein zentrales Thema war, erwarten die Gewerkschaftsverbände, dass die Konvention von der Schweiz schnell und vorbehaltlos ratifiziert wird.

Unsichtbares wird sichtbar

Es ist beinahe 10 Jahre her, seit die ILO mit der Konvention 189 über menschenwürdige Arbeit für die in Haushalten Beschäftigten, namentlich Frauen, das letzte Mal ein internationales Instrument zum Schutz von Arbeitnehmenden verabschiedet hat. In der Tat machen ILO-Konventionen Unsichtbares sichtbar. Zuvor wurden Hausangestellte nicht als mit Rechten ausgestattete Arbeitskräfte wahrgenommen.

Die neue Konvention 190 gegen Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt greift ein Thema auf, das gern übersehen und verschwiegen wird. Zudem gibt es zurzeit keine allgemein akzeptierte Definition der Begriffe «Belästigung» oder «Gewalt» in der Welt der Arbeit und keine Standards, die allgemein gültig sind.

Konvention gegen Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt

Die Verhandlungen für die Konvention 190 gegen Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt haben sich über zwei Jahre hingezogen; sie verliefen schleppend. Der Normensetzungsausschuss V, der in Genf die Konvention aushandelte, setzte sich aus über fünfhundert Menschen zusammen, die Regierungen, Unternehmen und Gewerkschaften vertraten. Die schwierige Aufgabe bestand darin, ein Gleichgewicht zu finden zwischen einem detaillierten, aber schwer ratifizierbaren Konventionsentwurf und einem alternativen, aber beim Thema Menschrechtsverletzungen weniger schlagkräftigen Text.

Mühe bereitete die Definition des Geltungsbereiches Arbeitswelt sowie die Definition Gewalt und Belästigung, vor allem in geschlechtsspezifischer Hinsicht. Die vorbereitende Kommission der ILO stand vor der grossen Herausforderung, einen Text zu verhandeln, der sich auf verschiedenste sozio-ökonomische und kulturelle Realitäten und Gesetzgebungen anwenden lässt und gleichzeitig einer sich verändernden Arbeitswelt Rechnung trägt.

Bereits im Vorjahr wurde ein entscheidender Durchbruch erzielt: Der Geltungsbereich wurde nicht nur auf den Arbeitsplatz an sich beschränkt, sondern auf den Begriff Arbeitswelt ausgeweitet. Zudem wurde der Begriff „Arbeiter / Arbeiterinnen“ um PraktikantInnen, MigrantInnen oder Vertragslose erweitert, was als grosser Erfolg der Verhandlungen zu verbuchen ist. Umfangreiche Diskussionen gab es darüber, ob den Unternehmen aus der Schnittstelle häusliche Gewalt / Arbeitswelt und deren ökonomischen Folgen eine Handlungs- und Präventionspflicht erwächst. Die explizite Erwähnung von häuslicher Gewalt im Kontext der Arbeitswelt wurde von Arbeitgeberseite und einigen Regierungsvertretungen zwar hartnäckig bekämpft. Sie blieb schliesslich jedoch sowohl im Text der Konvention als auch in der Empfehlung erhalten.

Die erste Beratung im Jahr 2018 wäre beinahe an den kulturellen Differenzen bezüglich der Nennung von LGBTIQ im Text gescheitert (eine aus dem englischen Sprachraum kommende Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender: Lesbisch, Schwul, Bisexuell und Transgender). Die afrikanischen Regierungsvertretungen baten damals, ihren kulturellen Realitäten Rechnung zu tragen, da ihre Länder einer expliziten Erwähnung von LGBTIQ nicht zustimmen könnten. Schliesslich konnte ihrem Vorschlag „schutzbedürftige Gruppen“, ein interpretierbarer Begriff, ohne explizite Auflistung von Gruppierungen, Folge geleistet werden. Damit wurde ein tragbarer Konsens gefunden.

Andererseits machten sich die Regierungsvertretungen der afrikanischen Länder unter der besonnenen und intelligenten Wortführung von Uganda und Namibia in den Verhandlungsrunden für die Interessen der Arbeitskräfte stark und leisteten wertvolle Unterstützung. Dank der Intervention der afrikanischen Gruppen und dem Verweis auf die Arbeitsrealität in ihren Ländern fallen nun auch vertragslose Arbeitskräfte unter den Schutz der Konvention. Die verabschiedeten Regelungen sind sowohl auf öffentliche wie private Räume anwendbar, die als Arbeitsstätte genutzt werden, die aber auch für die Wege zwischen Wohnstätte und Arbeitsplatz, bei der Bewerbung oder am Firmenfest gelten.

Mitte Juni 2019, zur Halbzeit der Verhandlungen, sah es so aus, als gäbe es kaum Chancen, sich bis zum Ende der Konferenz weder auf einen gemeinsamen Wortlaut der Konvention zu einigen und eine begleitende Empfehlung zu verabschieden. Die Beratungen wurden von Arbeitgeberseite durch endlose Änderungsanträge immer wieder verzögert. Sie versuchte permanent ihre Verantwortlichkeiten im Text zu minimieren. Dies trotz wiederholter Bekenntnisse zum Sachverhalt, dass Gewalt und Belästigung menschenrechtliche Fragen sind, die Arbeitsplatz, Mitarbeitende und Produktivität eines Unternehmens beeinträchtigen. Die Delegationen rangen in langwierigen Sitzungen oft bis spätabends, um den begrifflichen Konsens zu finden.

Die Verhandlungen nahmen in der zweiten Junihälfte deutlich an Fahrt auf – offenbar ging auch die massive Mobilisierung des Frauenstreiks in der Schweiz an der ILO-Konferenz nicht spurlos vorbei. Wie auch immer, auf jeden Fall konnten der Kommissionsvorsitzende Rakesh Pakri und die Vice-Chairs Marie Clarke Walker und Alana Matheson am Freitag, 21. Juni 2019, dem Plenum den Text zur Annahme der neuen Konvention 190 vorlegen. Unter frenetischem Applaus und Standing Ovations würdigte das Plenum die historische Bedeutung und die dafür vorausgegangene grosse Arbeit. So wurde die Jahrhundertkonferenz der ILO zum Höhepunkt, denn sie konnte erstmals einen internationalen Vertrag gegen Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt verabschieden. Es ist die 190. Konvention der ILO und die erste neue Vereinbarung seit 2011.

Fazit

Delegationsmitglied und Berichterstatterin des schweizerischen Gewerkschaftsbundes, Anja Kyia Dräger, zieht den Schluss, dass der verabschiedete Text zwar linguistisch schwer verdaulich, weil er auf maximale Inklusivität abzielt, aber stark in der Formulierung und äusserst hilfreich in den Verhandlungen mit den Unternehmen sei. Die hart errungenen Kompromisse widerspiegeln sich in der Komplexität der Formulierungen. Die Ratizierung in den Mitgliedstaaten vorausgesetzt können sich künftig Betroffene im Kampf gegen Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt auf eine internationale Konvention berufen, welche von den Vertretungen der Mitgliedstaaten in Genf mit überwältigender Mehrheit verabschiedet wurde. Zum ersten Mal ist ein Übereinkommen zustande gekommen, das den Grundsatz festschreibt, dass jede Person das Recht hat auf ein Arbeitsumfeld, auf einen Arbeitsplatz und auf ein Arbeitsleben frei von Gewalt und Belästigung. Nach Anja Kyia Dräger defini ert das Übereinkommen genau, was unter Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz zu verstehen ist. Es verbietet diese und schreibe sowohl präventive Vorschriften vor, als auch Unterstützung für die Opfer. Ganz stark komme zum Ausdruck, dass die Konvention explizit die geschlechtsspezifische Gewalt im Visier habe und dabei auch Gewalt und Belästigung durch Drittparteien präzisiere, dazu gehören Kundschaft, Klientinnen und Klienten, kranke Menschen und andere. Sie schütze insbesondere die im öffentlichen Raum tätigen Personen.

Unter den Schutz der Konvention fallen alle Arbeitenden, unabhängig ihres vertraglichen Status; Personen in Vorgesetzten- und/oder in Funktionen auf Seiten des Arbeitgebers; Arbeitssuchende, PraktikantInnen, Auszubildende, Lehrlinge, VolontärInnen, Bewerbende, Arbeitnehmende in der informellen Wirtschaft sowie Opfer von häuslicher Gewalt, die Auswirkungen auf den Arbeitsplatz haben könnte. Zudem werden speziell besonders verletzliche Personengruppen geschützt; darunter wird nun LGBTIQ subsumiert.

Die Konvention verweist in ihrer Präambel auf die Erklärung von Philadelphia und weitere Menschenrechtsabkommen der ILO. Sie enthält Schlüsselelemente zur Gender-Sensibilisierung, zu Schulung, Prävention und zum Schutz sowie Massnahmen zur Durchsetzung. Damit werden sowohl Staaten wie Unternehmen in die Pflicht genommen, Strategien, Gesetze und Programme gegen Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt zu entwickeln und umzusetzen. Gemeinsam mit dem Übereinkommen hat das Plenum der ILO-Konferenz eine Empfehlung angenommen, die den Mitgliedsstaaten der ILO Unterstützung zur Umsetzung der Konvention bietet. Das Übereinkommen tritt zwölf Monate, nachdem es von mindestens zwei Mitgliedsstaaten ratifiziert worden ist, in Kraft.

Therese Wüthrich ist Gewerkschafterin, journalistisch und publizistisch tätig, und arbeitet in verschiedenen frauen- und sozialpolitischen Projekten, lebt in Bern.

Anmerkung: Der englische und französische Text der Konvention 190 und ihrer Empfehlung findet sich auf der Webseite der ILO.


„Der Weltfrieden kann auf die Dauer nur auf sozialer Gerechtigkeit aufgebaut werden.“

Diese Worte sind der Präambel der ILO von 1919 entnommen. Sie sind heute genauso aktuell und gültig wie damals.

Die ILO wurde 1919 gegründet; es handelt sich heute um eine Sonderorganisation der – später gegründeten – Vereinten Nationen. Die ILO umfasst 187 Mitgliedsstaaten. Sie ist die bedeutendste Organisation für die internationale Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Getragen vom gemeinsamen Willen der Regierungen, Unternehmen und Beschäftigten, soziale Gerechtigkeit voranzubringen, menschenwürdige Arbeit zu schaffen und Armut zu bekämpfen.

Die Idee der ILO geht auf die Versailler Verträge zurück, die 1918/1919 ausgehandelt wurden. Bei diesen Verträgen ging es um Fragen der Kriegsschuld und Reparationszahlungen, aber auch um Grenzziehungen in Europa. Der ILO liegt die Idee zu Grunde, auf internationaler Ebene eine Basis für paritätische Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten zu schaffen. Mit ihr wurde sozusagen der Grundstein für Sozialpartnerschaft gelegt. Bereits seit Beginn wurden Forderungen nach dem Acht-Stunden-Tag oder der 48-Stunden-Woche gestellt; dem Grundsatz gleicher Lohn ohne Unterschied des Geschlechts für eine Arbeit von gleichem Wert zugestimmt; ein Verbot von Kinderarbeit in Industriebetrieben ausgesprochen, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Gute Arbeitsbedingungen, gerechte Entlohnung, oder mit anderen Worten «decent work» ist ein menschliches Grundrecht und waren schon vor hundert Jahren Inhalte von Forderungen, Diskussionen und Auseinandersetzungen.

Die ILO feiert in diesem Jahr ihr hundertjähriges Bestehen; und konnte mit der Verabschiedung der Konvention 190 gegen Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt einen Meilenstein, in erster Linie für die Frauen auf der ganzen Welt, schaffen. Einmal mehr zeigte sich die ILO als Plattform des Dialogs von Regierungen, Arbeitgebern und Beschäftigten, die es zweifelsohne auch für die Zukunft braucht, wenn wir Fortschritte für menschwürdige Arbeit weltweit erreichen wollen. Mit der Konvention 190 wurde ein klares Signal für Nulltoleranz-Politik hinsichtlich Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt gesetzt!