Für ein alternatives Agrarsystem weltweit

Ernährungssouveränität und die Gemeinsame Agrarpolitik der EU
Irmi Salzer. Lunapark21 – Heft 27

Der Begriff Ernährungssouveränität wurde 1996 beim Welternährungsgipfel der FAO (Food and Agriculture Organization of the United Nations) von La Via Campesina, dem weltweiten Bündnis von Kleinbauern, Landarbeitskräften, Menschen, die vom Fischfang leben, Landlosen und Indigenen als zukunftsweisende Alternative zum vorherrschenden Agrar- und Ernährungsmodell vorgestellt. Seit diesem Zeitpunkt ist Ernährungssouveränität das politische Leitmotiv einer wachsenden Anzahl von sozialen Akteuren aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Sektoren: Bewegungen, Initiativen und Organisationen aus dem bäuerlichen Bereich, aus der Umweltschutzszene, Menschenrechtsorganisationen, Initiativen aus den Bereichen Verbraucherschutz und Frauenbewegung, aber auch urbane Bewegungen kämpfen weltweit für eine grundlegende Änderung unseres Agrar- und Ernährungssystems.

Ernährungssouveränität ist kein fertiges Modell. Sie wird vielmehr laufend an die jeweiligen sozialen, ökonomischen und territorialen Herausforderungen angepasst und demokratisch weiterentwickelt. Ausgangspunkt war die Kritik am technischen und von Institutionen wie der Welternährungsorganisation FAO oder der Weltbank verwendeten Begriff der Ernährungssicherheit, der sich auf die Menge und eventuell noch auf die Qualität von Nahrungsmitteln bezieht, die den Menschen eines Landes zur Verfügung stehen, der jedoch nichts darüber aussagt, wie und von wem diese Nahrungsmittel produziert werden, wer sie weiterverarbeitet, verteilt und konsumiert. Ernährungssicherheit blendet somit Produktionsbedingungen, Macht- und Herrschaftsverhältnisse aus.

Demgegenüber ist Ernährungssouveränität das Recht aller Menschen auf gutes und kulturell angepasstes Essen, das mittels nachhaltiger Produktionsmethoden hergestellt wurde, sowie das Recht der Menschen, ihre Ernährungs- und Agrarpolitik selbst zu bestimmen. Ernährungssouveränität beruht auf der Etablierung von lokalen bzw. regionalen Produktionssystemen, die auf vielfältige Art und Weise miteinander vernetzt sind. Wesentlich sind demnach die Stärkung der lokalen Kontrolle, die Mitgestaltung, die internationale Solidarität und somit eine tief greifende Demokratisierung der sozialen, ökologischen und ökonomischen Verhältnisse, die das Landwirtschafts- und Ernährungssystem prägen.

Gemeinsame Agrarpolitik der EU
Die EU ist weltweit eine der wichtigsten Akteurinnen im Bereich Landwirtschaft und Ernährung. Über die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) schafft sie die Rahmenbedingungen für europäische Produzentinnen und Produzenten und bestimmt daher, wie in Europa Landwirtschaft betrieben wird. Agrar- und Handelspolitiken der EU haben aber auch gravierende Auswirkungen auf landwirtschaftliche Märkte weltweit – und damit auf die ökonomischen und sozialen Perspektiven von kleinbäuerlichen Betrieben in Nord und Süd.

Die oberste Maxime der europäischen Agrarpolitik ist die globale Wettbewerbsfähigkeit – im Interesse global agierender Konzerne. Im Prinzip ist es trotz aller Lippenbekenntnisse nebensächlich, wie viele Bauern und Bäuerinnen dabei auf der Strecke bleiben. Zwischen 2003 und 2010 schlossen 20 Prozent der registrierten bäuerlichen Betriebe ihre Scheunentore. Noch immer bewirtschaften knapp über 10 Millionen der 13,4 Millionen landwirtschaftlichen Betriebe in der EU weniger als 10 Hektar. Die GAP in ihrer derzeitigen Ausprägung hält zwar einige Instrumente für kleinbäuerliche Betriebe bereit, in ihrem Kern fördert sie jedoch Konzentrationsprozesse, Betriebsvergrößerungen und das Schließen sogenannter nicht wettbewerbsfähiger Einheiten. (Zum Vergleich: Der durchschnittliche deutsche Betrieb bewirtschaftet 56 Hektar.)

Die Gemeinsame Agrarpolitik der EU (GAP) stammt aus einer Zeit, in der Hunger in Europa noch allgegenwärtig war und die Produktion von Lebensmitteln angekurbelt werden musste. Garantierte Mindestpreise und der technologische Fortschritt sorgten dafür, dass aus der Mangelversorgung bald eine Überschussproduktion wurde („Butterberge“ und „Milchseen“). Die EU (damals noch EWG) reagierte, indem sie begann, die Überschüsse auf dem Weltmarkt mithilfe von Exportsubventionen billig zu verkaufen. Billigimporte von Viehfutter steigerten die Überschussproduktion. Europa wurde zu einer riesigen Fleisch-, Milch- und Eierfabrik, mit dem Druck, die erzeugten Überschüsse zu exportieren.

Direktzahlungen und Konsequenzen
Der Subvention von Exporten beschuldigt, reduzierte die EU Anfang der 90er Jahre – scheinbar – ihre handelsverzerrenden Beihilfen. Eine Anti-Dumping-Klausel der Welthandelsorganisation verbietet direkte Exportsubventionen. Doch wenn Waren zu Inlandspreisen exportiert werden, gilt dies nicht als handelsverzerrend – selbst wenn diese Preise dank interner Beihilfen unter den realen Produktionskosten liegen. Mit der Umstellung ihrer Subventionen auf Direktzahlungen an die Betriebe – anstelle solcher für die landwirtschaftlichen Produkte – wurden die Kosten in der EU indirekt subventioniert und das Dumping geht in verdeckter Form weiter. Statt also Instrumente zur Verringerung der Überschussproduktion einzuführen, änderte die EU lediglich die Methoden der Subventionierung. Offiziell gibt es also kaum noch Exportsubventionen – die direkten Förderungen der GAP haben aber dieselben – wenn nicht sogar schlimmere – Auswirkungen auf die globalen Agrarmärkte.

Aber auch in Europa sind die Direktzahlungen Kernstück einer aus sozialökologischer Perspektive verfehlten Agrarpolitik. Europäische Bauern und Bäuerinnen können ohne Direktzahlungen kein ausreichendes Einkommen mehr erzielen – sie sind abhängig von den Zuschüssen aus öffentlichen Haushalten und so besonders in Zeiten der Austeritätspolitik in einer prekären Situation. Zudem sind die Zahlungen trotz angeblicher Entkoppelung von der Produktion indirekt an die Fläche gebunden – wer mehr Land bewirtschaftet, bezieht mehr öffentliche Gelder. Wachstums- und Verdrängungsprozesse sind die logische Konsequenz, denn kleinbäuerliche Betriebe können dem Wettbewerb um Land und Märkte immer weniger standhalten. Die Konzentration der Produktion in landwirtschaftlich besonders fruchtbaren Regionen führt zu Abwanderung und Verödung ganzer Landstriche. Nicht zuletzt zählen Umwelt und Kulturlandschaft zu den Verlierern des europäischen Agrarmodells: Industrielle Landbewirtschaftung mit all ihren Umweltfolgeschäden wird mit Steuergeldern subventioniert.

GAP-Reform – Greenwashing und ungerechte Fördergeldverteilung
Jährlich werden rund 60 Milliarden Euro in die EU-Landwirtschaft und die Entwicklung des ländlichen Raumes gepumpt. Dennoch – und teilweise deswegen – schrumpft in der EU die Anzahl der Betriebe. Trotz der EU-Umweltförderungen geht Biodiversität in Europa weiterhin in rasantem Ausmaß verloren. Die industrialisierte Landwirtschaft ist für einen unvermindert hohen Anteil klimaschädlicher Gase verantwortlich.

Angesichts sinkender Budgets fragen sich immer mehr Menschen, ob es weiterhin gerechtfertigt ist, mehr als ein Drittel des gesamten EU-Haushalts in eine Gemeinsame Agrarpolitik zu stecken, ohne dass die Herausforderungen und Schwierigkeiten, vor denen Europas Landwirtschaft steht, bewältigt werden können. Die Reform hätte die Gelegenheit geboten, die gesellschaftliche Legitimität der GAP wiederherzustellen. Doch als am 24. September 2013 die Verhandlungen über die Reform der GAP abgeschlossen wurden, war das Ergebnis eine herbe Enttäuschung.

Als Herzstück der GAP-Reform gilt die Neugestaltung der Direktzahlungen. Diese „entkoppelten“, d.h. produktionsunabhängigen Zahlungen bekamen Bauern und Bäuerinnen pro Hektar bisher ausbezahlt, wenn sie gewisse gesetzliche Auflagen und Richtlinien einhielten. Zukünftig werden 30 Prozent dieser Gelder nur dann bezahlt, wenn ökologische Mindeststandards gewährleistet sind. Die Auflagen, die die Kommission den landwirtschaftlichen Betrieben europaweit vorschreiben wollte, wurden von allen Seiten heftig kritisiert. Einerseits bezeichneten Umweltorganisationen die Maßnahmen als „Greenwashing“, warfen also der Kommission vor, der GAP nur ein hübsches grünes Mäntelchen umgeworfen zu haben und ihre umweltzerstörende Grundausrichtung unangetastet zu lassen. Andererseits malte die konservative Agrarlobby den Untergang der produktiven europäischen Landwirtschaft an die Wand. Besonders die Verpflichtung, 7 Prozent der Ackerfläche als ökologische Vorrangfläche – für Blühstreifen, Brache, Bienenweiden, Hecken etc. – zu bewirtschaften, war Stein des Anstoßes. Angesichts des Hungers in der Welt und der prognostizierten Bevölkerungszuwächse müsse die EU der Aufgabe, die Welt zu ernähren, nachkommen und dürfe nicht produktive Flächen „stilllegen“, so wurde argumentiert.

Den Kassandrarufen wurde Gehör geschenkt: Auf den nun nur noch fünf Prozent „ökologischen Vorrangflächen“ dürfen inzwischen auch Eiweißpflanzen wie Soja, Ackerbohnen und Erbsen angebaut werden. Zudem scheint es dort möglich zu sein, Pestizide und Handelsdünger einzusetzen. Von „ökologisch“ kann in diesem Fall wohl keine Rede mehr sein.

Weder Umverteilung noch Marktregulierung
Die ungleiche Verteilung der Fördergelder – ein Fünftel der Betriebe bekommt vier Fünftel der Fördermittel (bzw. 80 Prozent der Höfe erhalten nur 20 Prozent der Zahlungen) war Vertreterinnen und Vertretern der kleinbäuerlichen Landwirtschaft schon lange ein Dorn im Auge. Auch das EU-Parlament forderte eine ausgewogenere Zuteilung der Direktzahlungen. Auf Betreiben der Agrarlobby aber wurden die Umverteilungsbestrebungen von Parlament und Kommission zu einem zahn- und wirkungslosen Feigenblatt „wegverhandelt“. Ab 150000 Euro Direktzahlungen pro Jahr gibt es bei den zusätzlichen Fördergeldern einen Miniabzug von 5 Prozent. Hinzu kommt: Löhne und dann noch ein Gehalt für den Betriebsführer werden gutgeschrieben. Der Kreis der von solchen kosmetischen Kürzungen Betroffenen dürfte überschaubar sein. Die Möglichkeit, auf EU-Mitgliedsstaatsebene freiwillig eine schärfere Degression oder auch eine Obergrenze – keine weiteren Fördergelder ab 150000 Euro je Betrieb – einzuführen, blieb weitgehend ungenutzt.

Auch die weitere Reduktion von Instrumenten zur Marktregulierung wiegt schwer. Wenn die Regulierung des Angebots fehlt, kommt es zu massiven Preisschwankungen. Neben den Bäuerinnen und Bauern ist die Bevölkerung Europas der Verlierer einer solchen Politik; Agrarkonzerne und Supermarktketten hingegen streichen weiterhin Profite ein.

Eine GAP, die auf Ernährungssouveränität beruht, sähe wie folgt aus: Die EU-Landwirtschaft hat in erster Linie die Menschen in der EU zu ernähren und nicht für den internationalen Handel zu produzieren. Bauern und Bäuerinnen spielen die zentrale Rolle bei der Versorgung der Menschen ihrer Region und erlangen dadurch eine soziale Legitimität, die im Rahmen der derzeitigen GAP zu großen Teilen verloren gegangen ist. Menschen, auch junge Leute, die in die Landwirtschaft einsteigen wollen, werden unterstützt. Die Konzentration von Macht in den Händen der Supermarktketten und des Agrobusiness wird reduziert. Durch Instrumente zur Angebotsregulierung wird die Überschussproduktion verhindert. Kooperationen und Initiativen, die versuchen, die Wertschöpfungskette zu verkürzen, werden unterstützt. Alle Formen des Dumpings werden verboten – auch die Direktzahlungen der 1. Säule, insofern sie den Verkauf und Export von Produkten unterhalb der Produktionskosten ermöglichen. Die Entwicklung von Produktionsmethoden, die weniger Treibhausgase verursachen und die Biodiversität schützen, wird gezielt gefördert. Transporte werden verringert, agroindustrielle Wirtschaftsweisen aufgegeben.

An Ideen und Vorschlägen für eine Agrarpolitik, die die Bedürfnisse der Menschen und ihrer Umwelt ins Zentrum rückt, mangelt es nicht. Immer mehr Menschen setzen sich für eine Agrarpolitik ein, die auf Ernährungssouveränität beruht und das Recht auf Nahrung für alle gewährleistet, die natürlichen Ressourcen für zukünftige Generationen erhält und ländliche Räume stärkt. Diejenigen, die auf EU- und nationaler Ebene das Sagen haben, treiben jedoch weiterhin ein Verständnis von Agrarpolitik voran, das den Richtungswechsel verhindert. Mit der Unterzeichnung des Transatlantischen Freihandelsabkommens TTIP könnten auch noch die wenigen positiven Elemente der Gemeinsamen Agrarpolitik unter die Räder kommen. Ohne nennenswerten gesellschaftlichen Druck und vor allem Widerstand bzw. Forderungen von Seiten der Bäuerinnen und Bauern, sieht die Zukunft der kleinbäuerlichen Landwirtschaft in Europa und anderswo nicht sehr rosig aus.

Irmi Salzer ist Biobäuerin im Südburgenland und Mitarbeiterin der ÖBV-Via Campesina Austria sowie Mitglied der Arbeitsgruppe GAP und Ernährungssouveränität der Europäischen Koordination Via Campesina (ECVC).

Literatur:
Berthelot, J.: Käse aus Kenia. Die ärmsten Länder haben nur dann eine Chance, wenn sie ihre Landwirtschaft genauso schützen wie die EU und USA. In: Le Monde diplomatique, November 2009
Choplin, G.; Strickner, A.; Trouvé, A. (Hg): Ernährungssouveränität. Für eine andere Agrar- und Lebensmittelpolitik in Europa. Wien, 2011. S. 57ff.
Salzer, I.: Die Agrarhandelsstrategie der EU und das Recht auf Nahrung. Policy Paper der Taskgroup Recht auf Nahrung, Wien 2011
Salzer, I.: Wachsen, weichen, exportieren. In: Soziale Technik, Themenheft 4/2013: Perspektiven nachhaltiger Lebensmittelversorgungssysteme. Graz, 2013
Salzer, I: TTIP, GAP und die Macht der Konzerne. Über Dumping, „Partnerschaftsabkommen“ und andere Wege, die kleinbäuerliche Landwirtschaft zu zerstören. In: Widerspruch 64. S. 23-32. Zürich, 2014