Das „gemeinsame Erbe“ wird verspielt

Seerecht, Imperialismus und Rohstoffpolitik
Winfried Wolf. Lunapark21 – Heft 25

Rohstofffragen waren im Kapitalismus schon immer Machtfragen. Und die Frage, wer die Weltmeere kontrolliert, führte noch immer zur jeweiligen Hegemonialmacht – zu Holland, Großbritannien oder zu den USA. Wenn Ressourcen unter dem Meeresboden gefördert werden, dann verbindet sich die Brutalität imperialistischer Strategie mit der kapitalistischen Gier nach Rohstoffen.

Diese bedrohliche Symbiose bildet den Hintergrund für die beginnende Praxis des Tiefseebergbaus. Interessanterweise wird der Ratsvorsitz der Meeresbodenbehörde in Kingston, Jamaika, seit 2013 von einem gewissen Tobias Pierlings eingenommen. Es handelt sich immerhin um die für den Abbau von Rohstoffen unter dem Meeresboden entscheidende Institution. Pierlings war zuvor aktiv im deutschen Bundeswirtschaftsministerium. Er vermittelte, so ein Bericht in der Zeitschrift WATERKANT, in einem Vortrag „den Eindruck, dass vorgeschriebene Ansätze für Umweltmanagementpläne einer massiven Ausbeutung [der Ressourcen unter dem Meeresboden] nicht im Wege stehen.“[1]

Dabei hatte alles ziemlich anders begonnen. Das alte Seerecht war weitgehend von den Interessen der kolonialen Mächte bestimmt. Es legte die Hoheitsgewässer von Küstenstaaten auf (gemessen ab der Küstenlinie) drei Seemeilen – knapp 5,6 Kilometer – fest. Außerhalb dieser extrem beengenden Drei-Meilen-Zone galt die „Freiheit der Meere“, also das Recht des Stärkeren. Ländern, die einen größeren Teil ihrer Ernährung aus dem Meer bezogen, wurde mit den modernen Fischfangflotten der Industriestaaten oft förmlich die Tagesration verknappt.

In den 1950er und 1960er Jahren begannen einzelne Drittweltländer, in Europa auch Island, eigene moderne Fangflotten und einen bewaffneten Küstenschutz aufzubauen; gleichzeitig erließen sie nationale Gesetze, mit denen sie ihre nationalen Fischereizonen ausweiteten und innerhalb derselben den Flotten anderer Nationen den Fischfang untersagten. Das führte mitunter zu Gerangel, auch zu militärischen Konflikten (z.B. „Kabeljau-Kriege“).[2]

Die Praxis der Ausweitung der Fischereizonen von ökonomisch weniger entwickelten Ländern wurde von einer politischen und juristischen Offensive begleitet. 1967 wandte sich der damalige Regierungschef von Malta, Dom Mintoff, an die in dieser Periode erstarkende UNO und forderte ein neues Seerecht, das die weitreichende Hoheit der einzelnen Staaten über ihre Küstengewässer regeln sollte. Burkhard Ilschner fasste diese Entwicklung 1994 für die Tageszeitung „Bremer Nachrichten“ folgendermaßen zusammen: Vor allem die Argumentation des Maltesers, die Ressourcen unter dem Meeresboden zum „gemeinsamen Erbe der Menschheit“ zu erklären und es so konsequent vor Ausbeutung durch Einzelne zu schützen, „erregt Aufsehen und verhilft (…) zum Erfolg: Die Vollversammlung untersagt per Beschluss einzelnen Staaten wie Konzernen die Ausbeutung von Tiefsee-Ressourcen und nimmt Verhandlungen über eine Neuregelung [des Seerechts] auf, die alsbald in die Gründung der III. UN-Seerechtskonferenz münden.“[3] Das neue Seerechtsabkommen mit der Bezeichnung United Nations Convention on the Law of the Seas – UNCLOS wurde 1982, nach einem mehr als zehnjährigen Ringen verabschiedet. Es trat erst 1994 in Kraft – vor allem wegen des heftigen Widerstands der führenden westlichen Industriestaaten. Dabei ging es kaum mehr um die neuen Grenzvorschriften, wonach nunmehr alle Küstenstaaten einen Anspruch auf eine 12-Seemeilen-Zone als unmittelbares Hoheitsgebiet, auf 200 Seemeilen Wirtschaftszone zu ihrer ausschließlichen Nutzung (bzw. mit Fremdnutzung nur mit ihrer Zustimmung) und auf eingegrenzte Nutzungsrechte über dem sogenannten Festlandsockel bis zu einer Küstenentfernung von 350 Seemeilen haben (siehe Grafik). Im Zentrum der Kritik der reichen Staaten stand Teil XI des Vertrages, in dem es um jenes „gemeinsame Erbe der Menschheit” geht. Dort wurde die alleinige Verantwortung einer UN-Meeresboden-Behörde für die Tiefsee-Ressourcen festgelegt, mit einem UN-eigenen Unternehmen zu deren Ausbeutung und mit Regeln über Technologie- und Kapital-Transfer von den Industriestaaten an Entwicklungsländer.

Es handelte sich um einen ausgesprochen fortschrittlichen Vertrag, der einen Beitrag zur Reduktion der krassen Ungleichheiten zwischen erster imperialistischer und Dritter Welt leisten sollte. Die Idee des „gemeinsamen Erbes der Menschheit“ könnte im Übrigen heute durchaus Vorbild für die Versuche einer vertraglichen Regelung zur Begrenzung des Klimawandels sein.

Oder auch: Die Tatsache, dass es bei den Klimakonferenzen seit fast einem Vierteljahrhundert so gut wie keine Fortschritte gibt, hat viel mit dem zu tun, woran auch die guten UNCLOS-Grundsätze weitgehend scheiterten: an den seit den 1980er Jahren deutlich veränderten globalen Kräfteverhältnissen. Denn der relative Erfolg der UNCLOS-Ratifizierung 1982 war Resultat des Erstarkens der Dritten Welt und der Niederlagen imperialistischer Politik in den 1960er und 1970er Jahren.[4] Umgekehrt haben die Aushöhlung von UNCLOS und das Scheitern der Klimakonferenzen damit zu tun, dass seit den 1980er Jahren die Dritte Welt enorm geschwächt und die imperialistischen Positionen neu gestärkt wurden. Zufall oder auch nicht: Ein Wendepunkt in dieser Entwicklung war 1982 der britische Krieg gegen Argentinien um die Malvinas oder die Falkland-Inseln. Er wurde von der britischen Premierministerin Margret Thatcher kommandiert, die zugleich an der Spitze der westlichen neoliberalen Offensive stand.

Das UNCLOS-Abkommen wurde seit der Ratifizierung 1982 und seinem Inkrafttreten 1994 durch drei Prozesse ausgehöhlt.
Erstens: Die USA haben das Abkommen bis heute nicht unterzeichnet. Damit boykottiert die „amtierende“ Hegemonialmacht das entscheidende Abkommen über die Weltmeere, auf denen gegebenenfalls die US-Navy das Sagen hat.
Zweitens: Der Grundsatz, dass ursprünglich allein die Vereinten Nationen den Tiefseebergbau regeln sollten, wurde noch im UNCLOS-Vertrag mit dem „Parallel-Prinzip“ ausgehöhlt: Neben UN-verwalteten Unternehmen für den Tiefseebergbau können auch Abbaulizenzen an Unternehmen aus der Privatwirtschaft erteilt werden.
Schließlich gelang es den Industrieländern auf dem Umweg über eine „Verhandlungskonferenz“ in das Vertragswerk die Kategorie der „Erstinvestoren“ einzuführen. Damit erhalten derart registrierte „pioneer investors“ das Recht, in dem von ihnen beanspruchten Gebiet eine Erkundung von Lagerstätten ohne Lizenz betreiben zu können.
Drittens: Die neuen weltweiten Kräfteverhältnisse veränderten auch den Charakter der Dritt-Welt-Länder selbst. Diese respektive deren Regierungen wurden für die westlichen Konzerne und Industriestaaten zunehmend käuflich. Ausverkauft wurden und werden vor allem die Ressourcen dieser Länder – auch diejenigen in deren „Ausschließlichen Wirtschaftszonen“.

Derweil scharren die Rohstoffkonzerne mit den Hufen. Im Visier sind maximale Profite. Das „gemeinsame Erbe der Menschheit“ – es degeneriert zur Leerformel, just so wie der Begriff „Nachhaltigkeit“. Am 25. Februar 2014 konnte man in der Berliner Zeitung unter der Überschrift „Beutezug auf dem Meeresgrund“ lesen: „Der Mensch drängt in die Tiefe wie nie zuvor. Es locken nicht nur Gas und Öl, sondern auch Erze mit hohem Metallgehalt. Allein in der Mitte des Pazifiks, zwischen Hawaii und Mexiko, liegen 21 Milliarden Tonnen Mangan-Knollen auf einer Fläche von der Größe Europas. Diese kartoffel- bis salatkopfgroßen Erzklumpen enthalten viele Metalle, die für die Industrie dringend benötigt werden.“ Der Artikel spricht der Meeresbodenbehörde vor allem die Funktion der großzügigen Claim-Vergabe zu („… sie teilt den Nationen, die künftig Bergbau betreiben wollen, Meeresbodenareale zu, die in etwa so groß sind wie Bayern…“) und schwelgt in den Vorstellungen, dass demnächst „riesige spezielle Erntemaschinen die Manganknollen vom Meeresboden auflesen.“

Anmerkungen:

[1] Zitiert bei: Burkhard Ilschner, Der Ruf nach der Seerechtsreform für eine gute Zukunft der Meere: Vision oder Illusion, in: WATERKANT 4/2013, S. 14.

[2] Island hatte seine Fischereizone ab Mitte der 1950er Jahre von drei auf zwölf und schließlich 200 Seemeilen erweitert. Großbritannien, aber auch die BRD, akzeptierten diese Maßnahme nicht. Es kam zu drei sogenannten Fischereikriegen, in denen Großbritannien auch Kriegsschiffe zum Schutz der britischen Fangflotten einsetzte. Island konnte sich am Ende immer durchsetzen – teilweise auf dem Umweg über die UNO, teilweise unter Ausnutzung innerimperialistischer Widersprüche (die USA unterstützten zeitweilig Island, um ihren Militärstützpunkt auf der Insel nicht zu verlieren). Den einzelnen Ausweitungen der Fischereizonen ging jeweils eine Überfischung durch die immer rücksichtloseren Fangmethoden voraus. Es gab Dutzende vergleichbare Konflikte, so solche zwischen Frankreich und Spanien, zwischen Spanien und Marokko und Spanien und Kanada.

[3] B. Ilschner, Kampf ums Erbe der Menschheit, in: Bremer Nachrichten, 17.11.1994.

[4] Siehe u.a. die Niederlage der Kolonialmacht Frankreich in Vietnam (Dien Bien Phu 1954), das Scheitern der USA bei der Niederschlagung der kubanischen Revolution (Schweinebucht 1961), die US-Niederlage im Vietnamkrieg 1975 und 1974/75 die Nelkenrevolution in Portugal mit dem Ende der portugiesischen Kolonialherrschaft in Angola, Mozambique und Guinea.

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