„… das beste und klassischste Beispiel einer Geldkrise, die es je gegeben hat.“1

Als der Bankangestellte Edward Ludlow das Geld der Ohio Life Insurance and Trust Company in Eisenbahnaktien anlegte, konnte er nicht ahnen, dass er damit die erste weltweite Wirtschaftskrise auslösen würde. Es lief nämlich gut. Amerikanisches Getreide ernährte halb Europa, die Güterzüge zu den Häfen an der Ostküste der USA waren ausgebucht.

Aber nach Ende des Krimkrieges 1856 stieg die Nahrungsmittelproduktion in Europa wieder an und der Bedarf an Getreide aus Amerika nahm rapide ab. Die Preise verfielen, Transportkapazitäten blieben ungenutzt und die Kurse der Eisenbahnaktien brachen ein. Mit dem Bankrott der Ohio Company im August 1857 setzte der Niedergang der US-Wirtschaft ein, es kam zu einer Panik, Banken und Fabriken gingen Pleite.

Infolge der bereits weltweit verknüpften Handels- und Bankbeziehungen sprang die Krise von Nordamerika nach London und Westeuropa über. Aber die Krise war nicht nur eine internationale, sondern sie war auch eine neue Art von Krise.

Die durch Kartoffelfäule verursachte Hungersnot in Irland, in der zwischen 1845 und 1849 Bauernfamilien darbten, verhungerten oder auswanderten, ließ sich noch als Mangelkrise verstehen, wobei irische Kartoffeln auch während dieser Jahre exportiert wurden, dorthin, wo Zahlungsfähigkeit statt Not bestand.

Die Krise von 1857 war aber keine Krise aus Mangel, sondern Resultat von Überfluss, verursacht durch Überproduktion oder, je nach Betrachtungsweise, von Unterkonsumtion. Die Preise für Getreide fielen, weil es zu viel davon gab, zu viel für die mit Geld bewaffnete Nachfrage. Die Kreditnehmer, Aktienkäufer und Wechselhalter, die auf steigende Preise gesetzt hatten, konnten Forderungen nicht mehr bedienen, versuchten noch waghalsigere Absicherungen, wodurch sich die Abwärts-Spirale von Preisen, Nachfrage und Produktion fortsetzte.

„Die Kerle ärgern sich schwarz über meine plötzlich sonderbar gehobene Laune… Die Krisis wird mir körperlich ebenso wohltun wie ein Seebad“2, schrieb Engels an Marx nach einem Gang an die Börse von Manchester, wo er für seinen Vater als Teilhaber von Ermen & Engels tätig war.

Engels und Marx verfolgten den ökonomischen Niedergang und die Versuche, ihn aufzuhalten, genau und verfassten Artikel, die sie fast wöchentlich der New-York Daily Tribune lieferten. Die seit 1841 bestehende Zeitung wurde 1854 Organ der neu gegründeten Republikanischen Partei. Die analytischen Artikel, die meist Friedrich Engels entwarf und Karl Marx fertig schrieb, zeichneten von 1851 bis 1857 und nach Unterbrechung durch die Krise von 1859 bis 1862 den Leser*innen in Amerika ein neues Bild der Lage, brachten sie in Zusammenhang mit der politischen und ökonomischen Entwicklung in der ganzen Welt, stellten Positionen der Arbeiterbewegung und der Unabhängigkeitsbewegung dar und agitierten gegen die Sklaverei in Amerika.

Marx machte sich bei den ersten Anzeichen der Krise wieder an sein großes Werk über die kapitalistische Produktionsweise, arbeitete Tag und Nacht fieberhaft an der Fassung all derjenigen Aspekte der Krise, die allgemeingültig sein konnten und musste nach Abflauen der Krise feststellen, dass der Kapitalismus sich noch einmal vor der erhofften Revolution gerettet hatte. Er konnte aber beobachten, dass der Krise alle möglichen Versuche vorausgegangen waren, in den Lücken des Bankenwesens und des Aktiengesetzes Geld- und Kreditschöpfung zu betreiben, die die Fallhöhe beim Zusammenbruch nur erhöhten, worauf neue Aktien- und Bankgesetze erlassen wurden, die in der nächsten Spekulationswelle wieder umgangen wurden.

Als Beispiel für ein solches Verhalten dienten Marx die Kaufleute in Hamburg, die am stärksten vom Niedergang der amerikanischen Produktion betroffen waren. Die Hamburger trieben Handel mit Gütern aus Amerika über London nach Nord- und Osteuropa. Dafür stand ihnen aber kein hinreichend entwickeltes Bankwesen zur Verfügung. Die Kaufleute bedienten sich zur Finanzierung ihrer Geschäfte der Wechsel, also schriftlicher Zahlungsversprechen, die nach erfolgreicher Warentransaktion und Erhalt der als Erlös erwarteten Geldsumme einzulösen waren. Liefen die Geschäfte schlecht, behalfen die Kaufleute sich durch den gegenseitigen Austausch solcher Zahlungsversprechen, so dass die Bedienung in Geld hinausgezögert wurde. Das nennt sich Wechselreiterei, wobei klar war, dass bei weiter sinkenden Preisen die Wechsel platzen würden3.

Friedrich Engels war über seine Geschäftspartner in der Hansestadt mit diesen Vorgängen vertraut und berichtete Marx im fast täglichen Briefwechsel: „So komplett und klassisch ist noch nie ein Panic gewesen wie jetzt in Hamburg.“4, was Marx im Artikel umsetzte als: „Die Hamburger Krise … bietet das beste und klassischste Beispiel einer Geldkrise, die es je gegeben hat.“5

Die Erkenntnisse aus der Hamburger Krise flossen ein in die 1859 veröffentlichte Schrift Zur Kritik der Politischen Ökonomie. In einem Feuerwerk der Begriffe analysierte Marx darin erstmals Tausch- und Gebrauchswert, Preis und Geld auf eine Weise, wie sie sich weiterentwickelt 1867 in Das Kapital wiederfand. Sogar die Krisenerfahrung aus Hamburg findet sich darin wieder, als 1857 die wertlos gewordenen Geldzettel durch Edelmetall ersetzt werden mussten, durch Silberbarren aus Österreich, um die Hamburger Währung zu retten.

Auf Crash und sehr langsam beginnende wirtschaftliche Erholung folgte der Streit um Sicherungen gegen künftige Krisen. 1860 wurden in Hamburg die nichtgewählte Erbgesessene Bürgerschaft durch eine Bürgerschaft ersetzt, deren Zusammensetzung Grundbesitzer und steuerzahlende Geldbesitzer in Wahlen bestimmten. Im selben Jahr wurde in Nordamerika im Streit zwischen den Nordstaaten, die weitere Industrialisierung mit Lohnarbeitern wünschten, und Südstaaten, die Rohstoffproduktion durch Sklaven weiterführen wollten, erstmals ein Republikaner zum Präsidenten gewählt – Abraham Lincoln.

Jürgen Bönig empfiehlt als vergnügliche Lektüre Zur Kritik der Politischen Ökonomie von Karl Marx, MEW Band 13.

Anmerkungen:

1 Karl Marx in: New-York Daily Tribune am 5.1.1858, MEW Bd.12, S. 345.

2 Brief von Engels an Marx am 15.11.1857, MEW Bd. 29, S. 210ff.

3 Siehe LP21 Heft 41, Frühjahr 2018, S. 21.

4 Brief von Engels an Marx am 7.12.1857, MEW Bd. 29, S. 221.

5 Marx in: New-York Daily Tribune vom 5.1.1858, MEW Bd.12, S. 345.