Per U-Bahn in die Freiheit

Der Roman “Underground Railroad” von Colson Whitehead

Es ist eine einfache Geschichte. Eine Abenteuergeschichte. Cora heißt die Heldin, eine junge Sklavin auf einer Plantage in Georgia. Cora ist klug. Sie versteht es, ihre Auflehnung zurückzuhalten und den grausamsten Disziplinarstrafen zu entgehen. Und dennoch weiß sie sich zu behaupten. Caesar, Sklave wie Cora, hat ein Auge auf sie geworfen. Er schlägt ihr vor, gemeinsam zu fliehen. Cora überwindet ihre Bedenken, und die beiden wagen die Flucht, zu Fuß und dann – mit der Eisenbahn durch unterirdische Tunnel.

Es ist keine einfache Geschichte. Coras Reise mag, genaue Daten gibt der Roman nicht, in den 1840er Jahren stattfinden, als der nordamerikanische Kontinent mit Eisenbahnen erschlossen wurde und die Eisenbahn das eklatante Sinnbild der Industrialisierung war. Die Underground Railroad gab es wirklich – als Metapher. Als Code für ein System von Fluchtwegen, einem Netzwerk von Helfern und sicheren Unterkünften, das Gegner der Sklaverei aufgebaut hatten. An 100.000 Sklaven entkamen zwischen 1780 und 1850 mit Hilfe der Underground Railroad aus den Süd- in die Nordstaaten der USA und nach Kanada.

Coras Weg führt sie über South Carolina, North Carolina, Tennessee bis nach Indiana und weiter, und es ist eine Reise durch Raum und Zeit. Sie reist als passenger, der Roman nimmt das einstmalige Codewort für Entflohene für bare Münze. Ihr Zug erreicht eine station, Code für sichere Unterkunft. Sie trifft auf den stationmaster, einen Fluchthelfer. Das ganze Geheimvokabular nimmt der Roman buchstäblich und verwandelt es in reale Bilder.

Auf jeder Station entfaltet sich eine Episode, die eine andere Facette von Sklaverei vorstellt. Die Plantage in Georgia zeigt den systematischen Terror zur Aufrechterhaltung der Sklaverei. Im freundlichen South Carolina, eigentlich Sklavenstaat bis zum Ende des amerikanischen Bürgerkriegs 1865, wiegen sich Caesar und Cora schon in Sicherheit. Cora erlebt ihre erste Fahrstuhlfahrt, die sie ins zwölfte Stockwerk eines Hochhauses und ein halbes Jahrhundert voran bringt. Caesar findet unterdessen Arbeit in einer Maschinenfabrik, in der sich die Werktätigen die Plätze am Fließband in Eigenregie zuweisen und im wöchentlichen Wechsel verschiedene Produkte herstellen, was einem Sprung um weitere hundert Jahre gleichkommt.

Das Schicksal der beiden scheint eine Wendung zum Guten genommen zu haben, bis Cora hinter der Fürsorge eines Medical Center ein Eugenikprogramm zur Sterilisation schwarzer Frauen erkennt.

Die nächste Episode springt wieder zurück. Ein stationmaster versteckt Cora in seinem Haus. Sie werden entdeckt, der Mann und seine Ehefrau gelyncht.

Colson Whitehead erzählt das so, dass man Cora gespannt folgt, ohne von den Zeitsprüngen irritiert zu sein. Dafür sorgt auch die Figur des Arnold Ridgeway, der entlaufene Sklaven jagt, um sie ihren Besitzern gegen Belohnung auszuliefern. Das Wort Ridgeway bedeutet Höhenweg, und der Jäger taucht immer wieder auf, reißt Cora zurück in die 1840er Gegenwart und verfolgt sie bis ans Ende der Geschichte. Die Nordstaaten erkannten das Besitzrecht der Sklavenhalter an, ließen Sklavenjäger gewähren und lieferten Geflüchtete auch aus.

Der Roman entwirft ein komplexes Portrait der Sklaverei und ihrer Auswirkungen bis in die Gegenwart. Und die Eisenbahn dient Whitehead noch als Sinnbild für die Dynamik der einstigen Südstaatenwirtschaft: “It was an engine that did not stop, its hungry boiler fed with blood”.

Colson Whitehead: “Underground Railroad”, 2016. Deutsch von Nikolaus Stingl.