Die Lincoln-Statue in Manchester

Die Statue: Der ehemalige US-Präsident Abraham Lincoln auf einem Podest. Böse Zungen behaupten, er sehe aus, als habe er Bauchschmerzen

Standort: Brazennoze Street, Lincoln Square, Manchester, England

Skulpteur: Der amerikanische Künstler George Gray Barnard

Errichtungsjahr: 1919, seit 1986 am aktuellen Standort

Errichtungsgrund: Die Unterstützung der Baumwollbeschäftigten der nordenglischen Grafschaft Lancashire im Kampf gegen die Sklaverei auf amerikanischen Baumwollplantagen

Es gibt Orte, an denen sich Geschichte verdichtet und Konflikte, Brüche und Entwicklungen greifbar werden. Manchester ist so ein Ort. Im Umfeld der nordwestenglischen Großstadt wurde der Industriekapitalismus des 19. Jahrhunderts geboren. Der „Manchester-Kapitalismus“ ist sprichwörtlich, die hier produzierte „Manchester-Hose“ war es auch. Hier verarbeiteten im Jahr 1861 400.000 Arbeitskräfte in 2400 Fabriken Baumwolle zu Textilien für den weltweiten Export.

Diese Beschäftigten bildeten für viele Jahre das Rückgrat der englischen Arbeiterbewegung. In Manchster wurden teilweise bis heute fortbestehende Gewerkschaften gegründet und Massendemonstrationen für die Einführung des allgemeinen Wahlrechts durchgeführt.

Auch internationale und antirassistische Solidarität wurde praktisch. 1862 beschlossen die Beschäftigten in der Textilbranche auf einer Massenversammlung, keine durch Sklavenarbeit in den USA produzierte Baumwolle mehr zu verarbeiten. Damit unterstützten sie die Nordstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg, auch wenn sie selber hungerten. US-Präsident Lincoln dankte es ihnen später mit einem Brief, an welchen die Statue in der Brazennoze Street erinnert.

Black Lives Matter im 19. Jahrhundert

Christian Bunke

Machen wir zu Beginn ein Gedankenexperiment: In Bangladesch kämpfen Zehntausende Näherinnen für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne. Die von ihnen genähte Kleidung wird auch in deutschen Warenhäusern verkauft. In Berlin kommt es zu einer Versammlung von Beschäftigten aller großen Bekleidungsgeschäfte der Hauptstadt. Einstimmig beschließen sie, den Streik der Textilbeschäftigten in Bangladesch zu unterstützen und keine von dort kommenden Kleidungsstücke mehr zu verkaufen, auch wenn ihnen dafür der Lohn gekürzt wird oder als Repressalie gar der Verlust des Arbeitsplatzes droht.

Diese Vorstellung mag selbst glühendsten Linksradikalen naiv vorkommen. Und doch ist in der Neujahrsnacht 1862 ganz Ähnliches geschehen, und zwar ganz in der Nähe jenes Ortes, an welchem heute in Manchester die Abraham-Lincoln-Statue steht. Denn geht man rund fünf Minuten vom heutigen Lincoln Square am Rathaus und der Hauptbücherei am St. Peters Square vorbei, steht man bald auf dem Gelände der ehemaligen St. Peter‘s Fields. Hier wurde am 16. August 1819 eine Großdemonstration der Chartistenbewegung für die Einführung des allgemeinen Wahlrechts von einer paramilitärischen Unternehmermiliz zerschlagen. Es gab 15 Tote und 600 Verletzte. In den Jahren 1853 bis 1856 wurde hier die „Free Trade Hall“ errichtet. Sie wurde in der bereits erwähnten Neujahrsnacht zum Schauplatz des nun zu beschreibenden Ereignisses.

Hunderte Arbeiterinnen und Arbeiter der Textilunternehmen waren zusammengekommen, um über den Inhalt eines an Abraham Lincoln gerichteten Briefes abzustimmen. Seit dem Vorjahr tobte auf der anderen Seite des Atlantiks der amerikanische Bürgerkrieg. Die Nordstaaten hatten eine Seeblockade gegen die Konföderierten im Süden errichtet. Kein mit Baumwolle beladenes Schiff konnte Richtung England auslaufen. In den von der Textilbranche abhängigen Gebieten Nordenglands führte dies schnell zu einer Wirtschaftskrise. Zehntausende verloren Job und Lebensgrundlage.

Die Fabrikbesitzer machten die von Lincoln regierten Nordstaaten deshalb als politischen Gegner aus. Am Hafen von Liverpool und in zahlreichen Fabriken der Grafschaft Lancashire prangte die Flagge der sklavenhaltenden amerikanischen Südstaaten. Die Unternehmer organisierten Kundgebungen, um den Einsatz der britischen Marine gegen die Nordstaaten zu fordern. Die Bosse beließen es nicht bei Appellen. Sie legten direkt Hand an. In Liverpool baute die Firma Fraser, Trenholm & Company kleine, wendige Schiffe, um sie den Südstaaten für das Durchbrechen der Seeblockade zur Verfügung zu stellen. Auch so genannte „Privateers“, heute würde man Söldner dazu sagen, wurden dafür bezahlt.

Die Arbeiterinnen und Arbeiter in Lancashire wollten der Forderung des Unternehmerlagers für einen Kriegseintritt Großbritanniens etwas entgegensetzen. In dem in der Neujahrsnacht 1862 per Akklamation beschlossenen Brief heißt es: „Für die Arbeiter in Manchester, England, bedeutet Gerechtigkeit, dass sowohl schwarze wie weiße Menschen unter dem Schutz des Gesetzes stehen müssen.“ Und weiter: „Dieses Treffen, indem es die gemeinsame Bruderschaft der Menschheit und das heilige, unveräußerliche Recht jedes Menschen auf persönliche Freiheit und gleichen Schutz anerkennt, verleiht seiner Abscheu Ausdruck über die Versklavung der Schwarzen in Amerika sowie über den Versuch der rebellierenden südlichen Sklavenhändler, auf dem großen amerikanischen Kontinent eine Nation mit der Sklaverei als Grundlage zu errichten.“

Heute würde man sagen, die Beschäftigten hätten sich zu dem Slogan „black lives matter“ bekannt. Damit unterstützten sie die Seeblockade der Nordstaaten und wandten sich gegen einen Klassenkompromiss mit den „eigenen“ Fabrikbesitzern. In einem unter anderem von Karl Marx und Friedrich Engels unterschriebenen, ebenfalls an Abraham Lincoln gerichteten Brief erklärte die Internationale Arbeiterassoziation: „Überall haben die Arbeiter geduldig die ihnen auferlegten Härten ertragen, welche ihnen durch die Baumwollkrise auferlegt wurden. Sie haben enthusiastisch gegen die Pro-Sklaverei-Interventionen ihrer Vorgesetzten opponiert – und in den meisten Teilen Europas ihren Blutzoll für die gute Sache gezahlt.“ Von Ernest Jones, einem Chartisten, der unter den Arbeitern gegen die Sklaverei agitierte, ist der Satz überliefert: „Der Schlüssel, welcher einst die geschlossenen Fabriken wieder öffnen wird, ist das Schwert des siegreichen Nord ens (in Amerika; CB)“.

Derweil wuchs in den Fabrikstädten Lancashires der Unmut. Man muss wissen, dass damals ein Workfare-System existierte, welches den Erhalt von Sozialleistungen bei Verlust des Arbeitsplatzes daran knüpfte, dass Arbeitskräfte ihren Willen zur Arbeit bekundeten. Dafür wurde in so genannten „work houses“ ein Zwangsarbeitsregime für arbeitslos gewordene Fabrikarbeitskräfte eingerichtet. Dort mussten sie sinnlos Steine mit Äxten zertrümmern, damit ihnen lokale, mit Vertretern des örtlichen Bürgertums bestückte Wohlfahrtkomitees magere Arbeitslosengelder auszahlten.

In der nahe Manchester gelegenen Ortschaft Stalybridge hatte im Jahr 1863 ein solches Komitee eine besonders schlaue Idee. Es wurde kein Geld mehr ausgezahlt, es gab nur noch Gutscheine, welche bei lokalen Einzelhändlern gegen Naturalien eingetauscht werden konnten. Diese Einzelhändler waren nicht rein zufällig großteils Mitglieder des örtlichen Wohlfahrtskomitees. Doch die Arbeiterinnen und Arbeiter der Stadt verweigerten genauso die Annahme der Gutscheine, wie sie die Weiterverarbeitung von Baumwolle aus den Südstaaten boykottierten, wenn denn mal ein Schiff die Blockade der Nordstaaten durchbrechen konnte. Am 20. März 1863 kam es zum Aufstand und die Schaufenster der zum Wohlfahrtskomitee gehörenden Geschäfte wurden eingeschmissen. Daraufhin marschierte das Militär in der Stadt ein. Später machte die feine Gesellschaft der Stadt „auswärtige Agitatoren“ sowie „Einwanderer“ für die Unruhen verantwortlich.

Ganz uneigennützig war die transatlantische Solidarität der nordenglischen Arbeitskräfte mit den versklavten Menschen des amerikanischen Südens übrigens nicht. Während in den USA der Bürgerkrieg tobte, erholte sich die englische Arbeiterklasse gerade von schweren politischen Niederlagen. Der einschüchternde Effekt des oben erwähnten Massakers im Jahr 1819 wirkte immer noch nach. Doch erahnten die Menschen, dass ein Sieg der Südstaaten auch für die rechtliche Stellung der englischen Lohnabhängigen nichts Gutes bedeuten würde. Umgekehrt musste der britische Staat nach dem Sieg der amerikanischen Nordstaaten Zugeständnisse beim Wahlrecht machen, und zumindest manchen Männern aus der Arbeiterklasse das Stimmrecht zugestehen.

Abraham Lincoln erklärte in dem an „die Arbeiter Manchesters“ gerichteten Brief vom 19. Januar 1863: „Ich kenne und bedaure zutiefst die Leiden, die die Arbeiter in Manchester und in ganz Europa in dieser Krise zu ertragen haben. (…) Durch das Handeln unserer unloyalen Bürger wurden die arbeitenden Männer Europas schweren Prüfungen unterzogen (…). Unter den gegebenen Umständen kann ich nicht umhin, Ihre entschiedenen Äußerungen zu dieser Frage als einen Fall von erhabenem christlichen Heldentum zu betrachten, der in keinem Zeitalter und in keinem Land übertroffen wurde. Es ist in der Tat eine energische und wiederbelebende Zusicherung der innewohnenden Kraft der Wahrheit und des endgültigen und universellen Triumphs von Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Freiheit.“ Auszüge dieses Briefs schmücken den Fuß der Lincoln-Statue in Manchester.

Die Statue selbst steht eher versteckt. Die Brazennoze Street ist keine große Straße. Viel prominenter beherrschen die Statuen großer Kapitalisten das Stadtbild. Nicht wenige von ihnen haben vom Sklavenhandel direkt oder indirekt profitiert. Anfang Juni 2020 wurde in der südenglischen Hafenstadt Bristol die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston während einer Black-Lives-Matter-Demonstration ins Meer gekippt.

In den darauffolgenden Wochen wurde auch in Manchester über den Umgang mit der eigenen Geschichte diskutiert und die Bedeutung der Lincoln-Statue rückte wieder ins Bewusstsein – als Symbol internationaler Solidarität arbeitender Menschen.

Christan Bunke lebt in Wien. Er ist bei Lunapark21 für die Rubrik „Ort & Zeit“ verantwortlich. Er übersetzte auch den Text des Comics links.

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