Phänomen Bollywood

Von Ludwig Ganghofer zu Shah Rukh Khan

Schmonzetten, Süßholz fürs Volk, öder Endlos-Schwulst mit Sari und Musik – das sind einige Vorurteile von Bollywood-Nihilisten, die ein ehrwürdiges Filmgenre als einfältig bis befremdlich abtun.

Vorspann

Genauer gesehen, ist Indiens multilaterale Filmbranche inklusive Bollywood ein hochfunktionales Geschäftsmodell mit präsentabler Leistungsbilanz. Als Weltmarktführer bedient sie im Schnitt mit drei fertigen Spielfilmen pro Tag eine milliardenfache, enthusiastische Kundschaft, fabriziert zuverlässig Unterhaltungsfilme zwischen buntgemixter Masala-Ablenkung und patriotischem Polit-Thriller.

Ihr kulturelles Fundament umfasst steinalte Kunstformen, Millionen Götter und Dämonen, sie jongliert mit divergenten Menschenbildern, Klimazonen, Lebensbedingungen und, natürlich, mit vielen internationalen Vorlagen. Länger schon kooperiert Hollywood mit indischen Produzenten, Disney hat seit Jahren eine Filiale in Mumbai, vormals Bombay. Bollywood, oft deplatziertes Synonym für die ganze indische Filmszene, weiß, was es tut und für wen, reguläre Westzuschauer sind keine Zielgruppe, wir sind Beifang.

Schon mit den frühesten Bewegtbildern entstand 1898 im damaligen Bengalen, British India, ein dokumentarischer Kurzfilm, 1913 in Bombay der erste noch tonlose Spielfilm. Kommerziell in Schwung kam das neue Hindi-Medium mit dem versierten Heimat- und Ganghofer-Regisseur Franz Ostermayr, vulgo Franz Osten, der 1925 48-jährig aus Bayern nach Bombay gebeten wurde, um dort mit Fachwissen und West-Ausrüstung eine zweckmäßige Filmproduktion anzuschieben. Was ihm mit drei Stummfilmen erfolgreichst gelang, darunter Shiraz – Grabmal einer großen Liebe, ein opulentes Melodram um den Bau des Taj Mahal. Und eine frühe Vorahnung von Bollywood.

Weiter ging es für den Bayern in Indien mit der Entwicklung der 1934 gegründeten Tonfilmgesellschaft Bombay Talkies, für die Franz Osten mehrere, wiederum relevante Filme drehte, stets zwischen Indien und der familieneigenen Bavaria Film AG in Geiselgasteig unterwegs, bis die britische Kolonialregierung den angejahrten Filmpionier 1939 kurz nach Kriegsbeginn als feindliches Element heim ins Hitlerreich schickte. Bollywood gedieh weiter ohne ihn. 

Hauptfilm

Mit dem Jahr 1951 brachte der legendäre Filmemacher Raj Kapoor, Schauspieler, Regisseur und Produzent, einen seiner charismatischsten Helden auf die Leinwand, Awara – Vagabund von Bombay: Der junge Raj, durch Unrecht und Armut zum Dieb wider Willen gemacht, verliert alles, dank Jugendliebe Rita aber nie die Hoffnung auf die Zukunft. Ein Habenichts mit Flair, der sich nicht unterkriegen lässt, wurde zur durchschlagenden Identifikationsfigur während der harten sozialen und reformistischen Umwälzungen im Indien Nehrus*, wenige Jahre nach der Unabhängigkeit.

Gleichfalls durchschlagend war das gesellschaftskritische Meisterwerk finanziell mit unvorstellbaren 100 Millionen verkauften Kinokarten.

Durch den Einsatz neuer Farbdramaturgie und Aufnahmetechniken, mit verehrten Darstellern und Musikern fand Bollywood in den 1960er und 70er Jahren zu ausgelassener Hochform und behielt sie lange. Es krachte 
vor Energie und Zuschauern, und nichts – weder steinerweichende Schicksalsschläge, infamste Niedertracht, noch hinterhältigste Verwicklungen – nichts lief ohne großkalibrigen Überschwang, ohne die hohen Emotionen, die bis heute gezielt ins kollektive Gemüt Indiens treffen. Film-Noir-Tristesse gibt es nicht, und die Hoffnung stirbt nie.

Auch da nicht, wo neben dem gefühlsechten Verführungskino ein dunkleres Bollywood aufbricht, wo die ewige Liebe, umrahmt von Terrorismus, Ignoranz, Korruption, Alkoholismus, Verbrechen, einen beklemmenden Verlauf nehmen kann.

Unerlässlich jedoch sind die in die Handlung eingebauten Songs, jene im hiesigen Okzident gern missbilligten Phantasie-Sequenzen, Bollywoods Markenzeichen. Oft nur muntere Revue-Nummern, sind sie öfter noch eine dramaturgisch hilfreiche zweite Ebene im Geschehen: Hier wird es gesanglich tiefer erklärt und kommentiert, hier dürfen intime Wünsche und Gedanken offenbart werden, was in aller Aufrichtigkeit sonst unüblich wäre. Diese Zwischenakte sind ausgefeilte, in Musik und Choreographie gesetzte Kleinkunstwerke in möglichst kreativen Szenerien. Undenkbar, ein Viel-Stunden-Werk ohne vier bis fünf solcher ingeniösen Nebenschauplätze. Aufgeschlossenheit und Untertitel helfen, sie zu genießen.

Kurz nach der Jahrtausendwende landete Bollywood endlich auch in unserer sachlichen Bundesrepublik. Zuerst per synchronisierten DVDs im Handel, dann persönlich in der Hauptstadt, um die Berlinale 2008 zu beglänzen. Wo durch den gesamt-europäischen Ticket-Ansturm bollyverrückter Fans die Festival-Telefonleitungen zusammenbrachen: Shah Rukh Khan, der King of Bollywood, Indiens weltumschwärmter Spitzenstar, wollte seine Reinkarnations-Rache-Romanze Om Shanti Om an der Karl-Marx-Allee vorstellen, im einstigen Ostsektor-Filmpalast International. Und alle wollten hin.

Auf einmal liefen selbst diesseits von Arthaus-Kinos und Bildungs-TV moderne indische Spielfilme auf Deutsch im volksnahen Kino und Fernsehen, es  gab Hindi-Lehrgänge, Saris zu kaufen oder Bollywood-Tanzkurse. Manch eine Volkshochschule hat sie bis heute im Programm. 

Der Hype ist längst verblasst, das breite DVD-Angebot an subkontinentalen Mainstream-Filmen ist globalen Streamingdiensten, TV-Spartensendern und Videoportalen gewichen, das klassische Bollywood, wie es singt und tanzt, hat nach Jahrzehnten der Box-Office-Sause langsam Platz gemacht für ein urbaneres New Bollywood mit freimütigeren Komödien und patriotischen Action-Krachern, die mittlerweile nicht mehr primär in Mumbai, sondern auch in anderen,  anderssprachigen Filmfabriken im cinematischen Multiversum Indien hergestellt werden.

Abspann

Eigentlich bin einst auch ich, geeicht auf mitteleuropäisches Understatement und Aufklärung (und erst recht auf pseudo-indische Kino-Abenteuer wie Der Dschungel ruft) an meinen ersten Bollywood-Filmen gescheitert – bonbonbunter Gefühlsbombast, kein tieferes Thema, entsetzlich langweilig, schnell war ich weg.

Einiges Reflektieren über eigene Erwartungen und kulturgesteuerte Klischeevorstellungen jedoch zog mich zum Glück ein weiteres Mal in einen Hindi-Film. Veer Zaara – Die Legende einer Liebe hat mich geläutert und gründlich umgestimmt – ein  grandioses, mitreißend erzähltes Bollywood-Epos, fand ich, ein geradezu subversiver indischer Heimatfilm. Mit Shah Rukh Khan. 

Der, inzwischen im Rentenalter, arbeitet zur Zeit mit Tochter Suhana am Action-Thriller King, geplanter Start 2026.

Ilse Henckel hat als Dokumentarin, Übersetzerin und Filmkritikerin für den Spiegel-Verlag gearbeitet. Sie lebt in Hamburg.

* Jawarhalal Nehru, von 1947 bis zu seinem Tod 1964 Ministerpräsident Indiens.

Aus der ruhmreichen Hindi-Filmkiste:

Mani Ratnam: Dil se – Von ganzem Herzen, 1998;

Ashutosh Gowariker: Lagaan, 2001;

Ashutosh Gowariker: Swades – Heimat, 2004;

Sanjay Leela Bhansali: Black, 2005;

Rakeysh Omprakash Mehra: Rang de Basanti – Die Farbe Safran, 2006;

Rajkumar Hurani: Three Idiots, 2009.

Made in Japan

Godzilla – Monument der Filmgeschichte, Naturwunder

Diesen November ist er 70 geworden, der sagenhafte Godzilla. Man merkt es ihm nicht an – gigantisch und ohrenzerreißend fräst er seine Schneisen der Verwüstung durch weltweite Kinos und Bildschirme, durch bislang 38 offizielle Spielfilme, Science-Fiction/Horror-Abenteuer zwischen bizarrem Kult-Trash und Hochglanz-Monster-Bombast.

Oft lädiert, gelegentlich auch tot, kosmetisch wie charakterlich stets runderneuert, steht Godzilla für zuverlässigen Kintopp-Terror im Kampf gegen oder auch für die Menschheit.

Seit seinem 50sten Geburtstag glänzt Godzillas Stern auf Hollywoods Walk of Fame, zum 67sten hat Nippon seinem pleistozänen Monstre sacré eine feine 4K-Restaurierung des Schwarz-Weiß-Originals von 1954 spendiert, und seit März nun krönt ihn sein erster Oscar – für Beste Visuelle Effekte, im imposanten japanischen Monster-Epos »Godzilla Minus One«.

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John Wick, 2014 bis 2023

Ein schlagkräftiger Filmvierteiler um eine ungewöhnliche Heldenfigur

Seit März schwirrt zum vierten Mal ein John Wick über möglichst viele Großleinwände: Matrix-Star Keanu Reeves als Hitman wider Willen, einst in Diensten weltweiter Gangstersyndikate, jetzt, im Ruhestand, ruhelos. Alte Verpflichtungen und Ansprüche holen ihn turnusmäßig ein, Leichen und Einspielergebnisse von mehr als einer Milliarde Dollar pflastern seinen Weg.

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