Mexiko: Neoliberale Schulreform

Lehrkräfte geben Protest gegen verabschiedete Bildungsreform nicht auf
Gerold Schmidt. Lunapark21 – Heft 24

Pöbel, Vandalen, Esel, Wilde, Radikale, Verantwortungslose, Ratten, Revoluzzer, Schakale… Medien und der Mainstream in Mexiko haben in den vergangenen Monaten kaum eine Wertung ausgelassen, wenn sie gegen die organisierte Lehrerschaft im Land zu Felde zogen. Immer wieder verlieren brave Bürger die Fassung, wenn ihre Autofahrt im Zentrum von Mexiko-Stadt von einer der fast täglichen Demonstrationen und zeitweiligen Straßenblockaden der Lehrer gestoppt wird.

Seit Monaten protestiert die nationale Lehrerkoordination CNTE, oppositioneller Teil der Lehrergewerkschaft SNTE, massiv gegen die Bildungsreform der Regierung (siehe Kasten). Weder die mit parteiübergreifender Mehrheit erfolgte Verabschiedung der Reform im Parlament noch die gewaltsame Räumung ihres Protestcamps auf dem Zócalo, dem zentralen Platz der Hauptstadt, haben ihren Widerstand gebrochen. Zehntausende Lehrer kehrten an ihre Schulen zurück und nahmen den Unterricht wieder auf. Doch bis zu 2000 Lehrer kampieren nun auf dem Platz vor dem Monumento de la Revolución, dem Revolutionsdenkmal in Mexiko-Stadt. Jedes Mal, wenn die Medien angesichts einer anrückenden Buskolonne einen endgültigen Rückzug der CNTE in die jeweiligen Bundesstaaten verkünden, hat es sich bisher nur um einen Austausch der Kontingente gehandelt. In vielen der 31 mexikanischen Bundesstaaten haben die Proteste abgenommen, verstummt sind sie jedoch nicht.

Die Notwendigkeit von Veränderungen im mexikanischen Bildungs- und Schulwesen bestreitet kaum jemand. Auch die Mehrheit der Lehrkräfte nicht. Über die Inhalte und Vorgehensweise gehen die Vorstellungen allerdings weit auseinander. Für den seit dem 1. Dezember 2012 amtierenden Präsidenten Peña Nieto sind die Änderungen im Bildungssektor eines von mehreren Reformvorhaben, um das Land „in die Modernität“ zu führen. Darunter versteht er unter anderem eine größere internationale Wettbewerbsfähigkeit, eine weitere Öffnung bisher staatlicher Bereiche für die Privatwirtschaft und eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Effizienz, Qualitätssicherung und Qualitätssteigerung – das sind die Schlagworte für den Bildungsbereich wie im übrigen auch für den Energiesektor.

Stichwortgeber OECD
Was das Bildungswesen anbelangt, orientierte sich die Regierung bei ihrem Reformvorhaben stark an Vorschlägen der OECD sowie der Organisation „Mexicanos Primero“ („Mexikaner zuerst“). In letzterer hat sich ein bedeutender Teil der mexikanischen Unternehmerelite zu Lobbyzwecken zusammengeschlossen. Ein besonderer Akzent der Reform liegt auf einer regelmäßigen, standardisierten und obligatorischen Evaluierung des Lehrpersonals durch ein vom Staat weitgehend autonomes Institut. Gleichzeitig werden Arbeitsrechte gelockert, um Versetzungen sowie Entlassungen zu erleichtern.

Die Lehrer befürchten angesichts der intellektuellen Co-Autoren OECD und Mexicanos Primero sowie des autonomen Evaluierungsinstitutes eine schleichende Teilprivatisierung der staatlichen Bildung. Evaluierungen staatlicher Einrichtungen sind schließlich jetzt schon ein lukratives Geschäft für internationale Beratungsunternehmen. Die Tatsache, dass die mexikanische Unternehmer- und Regierungselite, die so heftig für die Reformen eintritt, fast ausnahmslos Privatschulen absolviert hat, deren Alltag mit dem Schulleben der Bevölkerungsmehrheit wenig Gemeinsamkeiten aufweist, verstärkt das Misstrauen. Die mobilisierenden Lehrerinnen und Lehrer weisen zudem daraufhin, dass eine standardisierte Bewertung der Lehrkräfte und immer stärker uniformierte Lehrprogramme den großen sozialen, ökonomischen und ethnischen Unterschieden des Landes nicht gerecht wird. Die Reformen haben ihrer Auffassung nach vor allem einen stark auf Sanktionen beruhenden, arbeitsrechtlichen und administrativen Charakter. Eine bessere Bildung für die Schüler und eine bessere Ausbildung für die Lehrer käme dabei zu kurz. Tatsächlich müssten vor allem in armen ländlichen Gebieten die Schulen erst einmal entsprechend ausgestattet werden. Hinsichtlich des Allgemeinzustandes, des Schulmobiliars und der sanitären Einrichtungen spotten zehntausende der über zweihundertausend öffentlichen Grund- und Sekundarschulen im Land jeder Beschreibung.

Bei der Wut, die viele Lehrer im Bauch haben, spielt die Behandlung durch die Regierung in den vergangenen Monaten eine wichtige Rolle. So vereinbarte die CNTE im Frühjahr 2013 neun regionale Foren sowie ein Nationalforum in der Hauptstadt mit der Regierung. Auf diesen Foren brachten die Lehrerinnen und Lehrer im Zeitraum Ende Mai bis Mitte Juli ihre Bedenken und Vorschläge hinsichtlich der Bildungsreform vor. Doch nicht ein einziger ihrer Änderungsvorschläge fand den Weg ins Gesetz. Die enttäuschten Lehrer sprechen von „Betrug und Verrat“. Ihre Darstellung in der Öffentlichkeit als faul und ignorant hat ihren Widerstandswillen noch gestärkt. So bemerkte der Gewerkschaftsführer Juan José Ortega schon zu Anfang der Proteste süffisant: „Wir werden als Gorillas dargestellt. Wir sind abertausende Gorillas im ganzen Land.“

Reiche Lehrer?
In der mexikanischen Öffentlichkeit wird oftmals versucht, die Forderungen der Lehrer auf die Lohnfrage zu reduzieren. Da erscheinen dann Tabellen und Berichte, nach denen viele Lehrer ein für die Mehrheit der Mexikaner fast schon astronomisch hohes Einkommen von teilweise über 5000 Euro im Monat haben sollen. Ein solches Einkommen können Spitzenfunktionäre der SNTE erzielen. Die Realität sieht für die übergroße Mehrzahl der Lehrkräfte anders aus. Selbst die OECD-Zahlen, nach denen ein mexikanischer Lehrer durchschnittlich monatlich umgerechnet 18000 Pesos (derzeit etwa 1000 Euro) verdient, erscheinen hochgegriffen – auch wenn in den OECD-Ländern laut Statistik nur Estland, die Slowakei, Ungarn und Polen ihre Lehrer noch schlechter bezahlen. Die Grundschullehrer auf dem Land, die oft unter extremen Bedingungen unterrichten müssen, verdienen nur 6800 Pesos (derzeit weniger als 400 Euro). Viele Lehrer kommen nur mit Nebentätigkeiten über die Runden oder indem sie zwei Stellen besetzen – beispielsweise unterrichten sie an einer Schule vormittags und an einer anderen nachmittags. Dass die Lehrer dennoch als relativ privilegierter Berufstand gelten, der Rentenansprüche hat, in den Genuss von Lohnnebenleistungen und einer staatlichen Gesundheitsversorgung kommen kann, hat mit der Situation der Bevölkerung insgesamt zu tun. Von den inzwischen fast 120 Millionen Mexikanern befindet sich fast die Hälfte unterhalb der Armutsgrenze und verfügt über keinerlei soziale Absicherung.

Allparteienbündnis gegen Lehrkräfte
Statt Dialog verkündet Präsident Enrique Peña Nieto „Es wird kein Zurück bei der Reform geben“.

Seine zwei Schachzüge: Er band erstens die beiden großen Oppositionsparteien der konservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN) und der sozialdemokratischen Partei der Demokratischen Revolution (PRD) durch einen „Pakt für Mexiko“ in seine Politik ein. Gegen gewisse Mitwirkungsmöglichkeiten hat sich die parlamentarische Opposition verpflichtet, bei den Reformvorhaben mit der Regierung zu stimmen. Peña Nieto sichert das die qualifizierte Mehrheit für Verfassungsänderungen. Geschickt hat er bisher PRD und PAN gegeneinander ausgespielt. Den Gegnern der Regierungspolitik bleibt wegen dieser Dreier-Allianz im Grunde nur der Protest auf der Straße.

Zweitens wurde Ende Februar 2013 auf Veranlassung des vom Präsidenten ernannten Generalstaatsanwalts die Vorsitzende der SNTE, Elba Esther Gordillo, unter dem Vorwurf der Gelderveruntreuung verhaftet. Gordillo bekleidete lange Jahre Führungspositionen der regierenden PRI, bevor sie diese im Streit verließ und eine eigene Partei gründete. Noch 2007 hatte sie sich zur SNTE-Vorsitzenden auf Lebenszeit wählen lassen. Obwohl es schon lange Vorwürfe und Belege hinsichtlich persönlicher Bereicherung gab, galt sie als unantastbar. Gordillos Bedenken gegen die Bildungsreform basierten vor allem auf der Angst, die eigene Macht könne damit beschnitten werden und der gewerkschaftsinternen Opposition weiteren Aufschwung geben. Die Regierung nutzte die Tatsache, dass Gordillo nicht nur gefürchtet, sondern auch verhasst war. Niemand in der SNTE weinte ihr eine Träne nach, als sie unerwartet von ihrem Thron gestoßen wurde. Ihr Stellvertreter Juan Díaz de la Torre beerbte sie mit dem Einverständnis der Regierung. Eingeschüchtert und brav wie ein Schoßhund meldet er keinen Widerspruch gegen die Reformen an.

SNTE und CNTE
Die mexikanische Lehrergewerkschaft SNTE entstand 1943 als ein der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) nahestehender Verband. Die PRI wiederum regierte das Land von 1929 bis 2000 als faktische Staatspartei. Über die Jahre hinweg entwickelte sich die SNTE zu einem immer größeren Machtfaktor. Hohe Gewerkschaftsfunktionäre hatten oft auch hohe Parteiämter inne, Abgeordnetenkammer und Senat sind stets mit mehreren Lehrergewerkschaftern bestückt. Elba Esther Gordillo, bis Februar 2013 die SNTE-Vorsitzende „auf Lebenszeit“, bezeichnete sich des öfteren gerne als Präsidentenmacherin. Sie liebte es, im Hintergrund die Strippen zu ziehen. Gordillo galt in den vergangenen zwei Jahrzehnten als der Inbegriff einer autoritären und bis ins Mark korrupten Gewerkschaftsführung. Landesweit in mehr als 50 Sektionen aufgeteilt, hat die SNTE heute schätzungsweise 1,8 Millionen Mitglieder. Etwa 1,3 Millionen davon sind Lehrer, die übrigen Mitglieder arbeiten im Verwaltungsapparat oder sind anderweitig an Schulen beschäftigt (Hausmeister, Reinigungskräfte, usw.). Es besteht keine gesetzliche Pflicht, der Gewerkschaft beizutreten. In der Praxis ist es aber ohne SNTE-Mitgliedschaft nahezu unmöglich, in ein Lehreramt zu kommen. Dabei werden die Stellen von hohen Gewerkschaftsfunktionären häufig verkauft.

Anders als selbst viele Mexikaner glauben, ist die Lehrerkoordination CNTE keine Parallelgewerkschaft zur SNTE. Vielmehr entstand die Koordination vor mehr als 30 Jahren als eine Basisbewegung, die innerhalb der SNTE als Opposition wirkte. Sie trat mit dem Ziel an, die Gewerkschaftsstruktur zu demokratisieren. Das ist ihr bis heute nicht gelungen. Die CNTE hat sich jedoch konsolidiert und bei vielen Arbeitskämpfen eine Vorreiterrolle gespielt. In einigen Sektionen verfügt die Koordnation über klare Mehrheiten. Ihr Rückgrat ist die Sektion 22 im Bundesstaat Oaxaca mit ihren 73 000 Mitgliedern. Die Gewerkschaftsführung um Elba Esther Gordillo hat dort seit Jahren vergeblich versucht, mit der zu diesem Zweck geschaffenen Sektion 59 eine willfährige Lehrergefolgschaft zu organisieren. Regierungsstellen und SNTE-Hierachie billigen der CNTE maximal 5 bis 10 Prozent Unterstützung innerhalb der Gewerkschaft zu. Die letzten Monate haben jedoch gezeigt, dass wesentlich mehr Mitglieder Sympathien für die Koordination haben.

Regierung muss verhandeln
Befreit von ihrer großen Vorsitzenden schlossen sich in den vergangenen Wochen und Monaten überraschend viele „normale“ SNTE-Mitglieder aus fast allen Landessektionen den verschiedenen Protestaktionen an. Einige vor Ort, andere mit Kontingenten beim Protest in der Hauptstadt. Das Gewicht der CNTE ist längst nicht mehr auf ihre Stammbundesstaaten Chiapas, Michoacán und Oaxaca sowie Mexiko-Stadt beschränkt, sondern in 26 der 31 Bundesstaaten spürbar. Vermehrt richtet sich die Mobilisierung nicht nur gegen die Regierung, sondern genauso gegen die korrupten gewerkschaftlichen Lokalfürsten, die auf Kosten der einfachen Mitglieder vielfach große Reichtümer angehäuft haben. Die Mitglieder vor Ort versuchen, sich ihre Gewerkschaft wieder anzueignen. Es brodelt in der SNTE.

Trotz der Diffamierungskampagnen werden die kampierenden Lehrer von Teilen der Hauptstadtbevölkerung mit Lebensmitteln und Kleidung versorgt. Der Journalist Luis Hernández Navarro, vor über 30 Jahren ein Mitbegründer der CNTE und der Koordination nach wie vor verbunden, schrieb in der Tageszeitung La Jornada: „Die Proteste haben die enorme Unfähigkeit der Politiker und der Medien dokumentiert, den Charakter, die Zusammensetzung und das Verhalten der mexikanischen Lehrerschaft zu verstehen.“

Die Reform ist verabschiedet, doch die Regierung muss inzwischen widerwillig mit der CNTE verhandeln. Dabei ist eine weitere Konfrontation vorprogrammiert, selbst wenn die Regierung in Einzelpunkten nachgeben sollte. Die CNTE sieht sehr wohl, dass die Bildungsreform Teil eines Gesamtpaketes ist. Viele Lehrerinnen und Lehrer haben in den vergangenen Monaten eine weitere Politisierung durchgemacht. Sie beteiligen sich inzwischen aktiv an Mobilisierungen gegen die vorgesehene sogenannte Energiereform, deren Kernpunkt die Öffnung des Ölsektors für die Privatindustrie ist.

Gerold Schmidt lebt und arbeitet als freier Journalist in Mexiko-Stadt.

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