[rezension] Gelehrter Marxismus. Ralf Krämers Einführung in die Politische Ökonomie der Gegenwart

Aus: LunaPark21 – Heft 31

Manchmal ist es mit Basis und Überbau ganz einfach. Als 1998 der 150. Jahrestag der Veröffentlichung des „Manifestes der Kommunistischen Partei” anstand, fühlten sich Kapitalisten und Leitmedien ihrer Sache so sicher, dass sie den Marxschen Text im Feuilleton problemlos loben konnten. Nicht für seine garstigen politischen Vorschläge, die galten ohnehin seit 1989 erledigt. Aber für seine Beschreibung der revolutionären Rolle von Kapital und Weltmarkt. Zehn Jahre später sah es anders aus. Die Weltwirtschaftskrise 2008/ 2009 erschütterte das siegesgewisse Selbstbild der herrschenden Klasse. Ein neues politisches Interesse an marxistischen Positionen ist entstanden, das im Feuilleton von FAZ und Spiegel nicht mehr so einfach begrüßt wird.

Das Buch von Ralf Krämer baut auf dieses Interesse. Eine Einführung in die politische Ökonomie des Kapitalismus für politisch und gewerkschaftlich Aktive ist sein Ziel. Selbstbewusst akzeptiert Krämer für sein Vorgehen die Beschreibung als „Arbeiterbewegungsmarxismus“ und schreibt: „Nur eine solche Wissenschaft, die sich mit den Interessen und Kämpfen der arbeitenden Mehrheit der Menschen verbindet, kann einen Beitrag zu einer sozialen Umgestaltung der Gesellschaft und perspektivisch zur Überwindung des Kapitalismus leisten.” Doch sieht er genau hier auch ein Problem, denn der Kapitalismus habe „seine Möglichkeiten noch keineswegs ausgeschöpft. Dies ist als Drohung zu begreifen.”

Diese spannungsreiche Formulierung hätte das Leitmotiv eines spannenden Buches werden können, das täglichen Widerspruch zwischen der immensen menschlichen Arbeit in der heutigen Gesellschaft und der fehlenden Kontrolle über die Ergebnisse dieser Arbeit ins Zentrum stellt. Doch dieses Buch mit vielen Provokationen hat Ralf Krämer nicht schreiben wollen. Statt dessen beschränkt er sich auf einen lesbaren und kenntnisreichen Text zur politischen Ökonomie. Einen Text, der sich immer wieder auf die vorausgesetzte Zustimmung des Lesers verlässt, statt sie immer neu zu erringen. Es ist aber ein sehr weiter Weg von Diskussionen in der Familie und im Kollegenkreis bis zu einer Analyse der gesellschaftlichen Gesamtarbeit. Und nicht in allen Familien und in jedem Kollegenkreis wird diskutiert. Ein echter Anfängertext ist das Buch nicht.

Dabei orientiert sich Krämer methodisch zu Recht nicht an Marxens Kapital, sondern an Goethes Theaterdirektor, der für ein populäres Drama empfiehlt: „Gebt Ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken!/…/ Was hilft’s, wenn Ihr ein Ganzes dargebracht?/ Das Publikum wird es Euch doch zerpflücken.“ So finden sich klare Einzeltexte mit Schaubildern, Grafiken, Merksätzen, Statistiken, gut erschlossen durch ein ausführliches Inhaltsverzeichnis und ein Sachregister. Das Buch bietet sich als Steinbruch an – nicht das Schlechteste, was von einem Werk in pädagogischer Absicht zu sagen ist. Nach einigen allgemeinen Überlegungen zu gesellschaftlicher Arbeit und Ökonomie thematisiert Krämer zentrale Konzepte marxistischer Analyse: Gebrauchswert und Tauschwert, Geld, Kapital und Mehrwert, Reproduktion, Lohnarbeit und Klassenverhältnisse. Im vierten Kapitel „Die kapitalistische Gesamtwirtschaft“ wirft er einen sehr knappen Blick auf die Darstellung ökonomischer Zusammenhänge in der amtlichen „Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung“ und stellt undogmatisch verschiedene Krisentheorien vor. Wie seine Vorgänger – von Johann Most und Karl Kautsky bis zu Eduard März und Ernest Mandel – stand Krämer bei der Popularisierung der Marxschen Darstellung vor einer unlösbaren Schwierigkeit: Methodisch will er (fast) alles anders machen, inhaltlich aber nicht zu viel streichen. Vielleicht wirken die Marxzitate als Anregung, doch zum Original zu greifen.

Im Kapitel 5 zum „Modernen Kapitalismus“ löst sich Krämer von der Orientierung am Marxschen Text, ohne einige Grundüberzeugungen aufzugeben. Im Zentrum seines Verständnisses von kapitalistischer Wirtschaft stehen Warenproduktion und gesellschaftliche Arbeit. In Analysen zu Dienstleistungen und moderner Technik zeigt er die Tragfähigkeit dieser Konzepte. In der Analyse der Kapitalseite geht er vom Privateigentum als Kern der ganzen Sache aus: Keine Schulden ohne Gläubiger! Nur bei der Darstellung der Finanzierungsverhältnisse macht Krämer den modischen Keynesianischen Theorien einer „Geldschöpfung aus dem Nichts” verwirrende Zugeständnisse.

Schließlich werden in Kapitel 6 „Krisen und Perspektiven“ aktuelle Analysen und politische Vorschläge angenähert, ohne ganz zusammen zu kommen. Zu groß ist der Kontrast zwischen den ersten Schritten für eine ökologische und soziale Wende und den derzeitigen Kräfteverhältnissen. Hier wird deutlich, was dem Band fehlt: die offenen Probleme, die die Leserinnen und Leser nicht nur als Konsumenten, sondern als Produzenten ansprechen. Ein gutes Lehrbuch enthält auch Übungsaufgaben und liefert nicht für alle die Lösung mit, ja manche Bücher stellen sogar noch ungelöste Probleme. Vielleicht sind die Studenten ja schlauer als der Lehrer.

Ralf Krämer: Kapitalismus verstehen. Einführung in die politische Ökonomie der Gegenwart · VSA Verlag · Hamburg 2015 · 253 Seiten · 16,80 Euro.

Oder im Netz frei als pdf: http://www.rosalux.de/publication/41391/kapitalismus-verstehen.html

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