Bilanz eines Journalisten
São Paulo, 13. Juni 2013. »Ohne Warnung schossen sie plötzlich in die Menge – Tränengas, Schockgranaten, womöglich Gummigeschosse – schwer zu sagen in dem Moment. Es geht darum, einen zu zwingen, sofort Schutz zu suchen und an nichts anderes zu denken als an die eigene Sicherheit. Die Menge hört auf eine Menge zu sein, ist reduziert auf eine An- sammlung von Individuen«, schreibt Vincent Bevins.
Der damals 29-Jährige gebürtige Kalifornier arbeitete als Korrespondent der Los Angels Times in der größten Stadt Südamerikas und hatte über eine Demonstration für kostenlosen Busverkehr berichten wollen. Auch er flüchtete in Panik. Demo und Polizeigewalt hätten wohl wenig Aufsehen verursacht, wenn es nicht das Foto von einer Frau gegeben hätte, die durch ein Gummigeschoss im Gesicht verletzt worden war. Die Frau war Fernsehjournalistin, ihr Bild erschien in Brasiliens bedeutendster Tageszeitung und erregte Empörung bis in konservative Kreise. Wie so oft löste ein einzelnes Ereignis, medial verbreitet, eine enorme Dynamik aus. Die Bewegung bekam ungeahnte Unterstützung und am 17. Juni 2013 erlebte São Paulo die größte Massenkundgebung seit 20 Jahren.
Gesellschaftsgeschichte als „Geschichte von Klassenkämpfen“ erzählt Bevins in seinem 2023 erschienenen Buch »If We Burn« und nimmt die Schwellenländer Tunesien, Ägypten, Bahrain, Jemen, Türkei, Ukraine, Brasilien, Chile, Südkorea sowie Hongkong in den Blick. Er hat einige Jahre in São Paulo und anschließend in Jakarta gelebt, in anderen Ländern recherchiert und Interviews mit Aktivist:innen der sozialen Bewegungen während des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts geführt. Als »Dekade des Massenprotests« identifiziert Bevins die Zehnerjahre.
»If We Burn« präsentiert eine Reihe von Reportagen, was die Lektüre spannend macht. Da die Berichte aber chronologisch aufgefächert sind – die Erzählung also von Brasilien nach Hongkong springt, weiter nach Ägypten und noch weiter, dann wieder zurück nach Brasilien und so fort durch zehn Jahre – ist es nicht einfach, jeweils den Anschluss zu finden.
Doch die Mühe lohnt. Die untersuchten Proteste entfalteten ungeahnte Wucht und brachten die herrschenden Verhältnisse ins Wanken. Bevins sozialgeschichtliche Anamnese verfolgt die Entwicklungen und sucht zu klären, wieso es in keinem Fall zu einer Revolution gekommen ist.
Horizontalismus
Anders als die linken Bewegungen der 1960er bis 1970er Jahre, die sich mehr oder weniger nach dem leninistischen Modell vertikal organisiert hätten, setzten die von Bevins portraitierten Gruppen auf horizontale Strukturen, verfolgten gar eine Anti-Repräsentations-Politik soweit, dass Einzelne keine Interviews gaben, um zu verhindern, dass die Medien Personen zu Führer:innen einer Bewegung erheben, die Führerschaft für sich ablehnt.
Das sei als Reaktion auf »die Sünden der Sowjetunion« zu begreifen. Die Etablierung von Organisationsstrukturen sei als schlüpfrige Bahn in Richtung Gulag angesehen worden. Entscheidungen aber prinzipiell im Konsens der Gruppe zu treffen, ist aufwendig, erfordert Sitzungen bis in den Morgen und wird mit zunehmender Beteiligung unpraktikabel.
Die Medien effektiv zu nutzen, hätte diese Generation politisch Aktiver allerdings verstanden. So hätten die Kids in Hongkong die Gesten der US-Kultur imitiert, um die Aufmerksamkeit der westlichen Presse zu erregen. Art und Möglichkeiten, Protestbewegungen zu organisieren, haben sich durch Radio und Fernsehen seit den 1950er Jahren verändert, und nochmals mit dem Aufkommen der Internet-Plattformen. Mohamed Bouazizi war nicht der erste Straßenverkäufer Tunesiens, der sich mit Lösungsmittel übergoss und anzündete. Aber sein Cousin postete ein Video der Selbstverbrennung, andere Verwandte informierten den Nachrichtensender Al Jazeera, und dieses eine Ereignis löste Aufruhr in mehr als einem Dutzend Staaten aus.
Die mediale Berichterstattung kann einen Protest immens pushen, sie kann ihn aber auch verleumden und diskreditieren, vor allem, sofern die Medien staatlich oder privat monopolisiert sind.
Am häufigsten aber würden soziale Bewegungen missverstanden aufgrund ideologischer Voreingenommenheit. Gerade westliche Medien neigten dazu, demokratische Bestrebungen als auf das westlich-kapitalistische Vorbild gerichtet zu interpretieren. Überhaupt destilliert Bevins als Ursache für Erfolg oder Misserfolg von Protesten nicht allein gezielte gegnerische Einflussnahme, sondern oft genug gesellschaftliche Strukturen. So führe Erfolg häufig dazu, dass sich weitere Gruppen, auch rechte und nationalistische in Opposition zur Regierung, anschließen und die Bewegung zersetzen.
… es kann schlimmer kommen
Die wesentliche Schwäche der Be-wegungen habe darin gelegen, dass sie keine Vorbereitungen für ihren Sieg trafen. Warum, so fragt Bevins, glaubten die Demonstrierenden auf Kairos Tahrir-Platz, mit dem Sturz von Staatspräsident Mubarak würde alles Übel verschwinden? Es gebe kein Machtvakuum. Fällt eine Position, ergreife eine andere Macht, eine andere Person, Gruppe, Partei oder das Militär die Gelegenheit.
Es sei ein Fehler, den Protest in jedem Fall voranzutreiben. Der Kampf in Hongkong sei verloren worden, als er sich gegen China richtete, anstatt gemeinsam mit den Festland-Chines:innen fortgesetzt zu werden. Auch in Ägypten, und vor allem in Syrien, hätten die Proteste zu einer wesentlich schlechteren Situation geführt.
Wenn das politische System einigermaßen akzeptabel erscheine und das Potential fehle, es durch etwas Besseres zu ersetzen, dann sollte die Macht der Straße genutzt werden, um in Verhandlungen für Reformen zu treten. »Wenn dein Auto nicht mehr gut läuft, ist es nicht angeraten, es abzufackeln in der Hoffnung, ein besseres käme vorbei«, rät Bevins.
Einige seiner früheren Interview-Partner:innen hat Bevins später nochmals getroffen. Rückblickend sahen fast alle den Egalitarismus ihrer Organisation als Fehler an. Ohne bekannte Gesichter war niemand da, die frei gewordene Bastion zu besetzen; die Bewegungen seien nicht fähig gewesen, ihren Vorteil zu nutzen.
Von großem Einfluss auf die Bewegungen der 2010er Jahre war der 2020 verstorbene Anthropologe und Occupy-Aktivist David Graeber, der in Umkehrung des Diktums »der Zweck heiligt die Mittel« postulierte, die Mittel seien der Zweck. Zwar räumte er ein, in einem Krieg würde solch ein Ansatz wohl nicht funktionieren, übersah aber, dass erfolgreicher Massenprotest andere Mächte derart in Schwierigkeiten bringen kann, dass Krieg – die gewaltsame Niederschlagung samt Folter und Liquidationen – ihr Gegenmittel ist.
Neolib
Der heutige brasilianische Finanzminister Fernando Haddad hatte 1998 erklärt, Wohlfahrtsstaat und Sozialdemokratie seien außerhalb der Ersten Welt nicht zu erreichen, da der bescheidene Wohlstand der Arbeitenden im Globalen Norden von den Extraprofiten aus dem Globalen Süden abhänge.
Auf einen weiteren Aspekt des Nord-Süd-Gefälles macht ein ägyptischer Aktivist aufmerksam: »Wenn du in New York oder Paris einen führerlosen post-ideologischen Aufstand machst und der schiefgeht, machst du später eine Medien- oder Akademiker-Karriere. Wenn hier, in der realen Welt, eine Revolution schiefgeht, landen alle deine Freunde im Gefängnis oder im Grab.«
Vor allem der globale Neoliberalismus diene als Instrument zur Unterdrückung der Länder im Süden und entfalte dort auch seine Wirkung in den Köpfen. Die jüngere Generation habe gelernt, alles als Geschäftsunternehmung anzusehen und die Ordnung der Welt als naturgegeben. Der Arabische Frühling sei eine Revolution ohne Revolutionäre gewesen, konstatiert Bevins und erwägt: »Wenn man nicht in der Lage ist, eine Revolution durchzuführen und auch nicht in der Position ist, Reformen auszuhandeln, dann ist es vielleicht besser, überhaupt nichts zu machen. Manchmal mag Abwarten die richtige Aktion sein.«
Das kluge Buch ist leider nur auf Englisch erhältlich. Auf Deutsch liegt vom selben Autor »Die Jakarta-Methode« im PapyRossa Verlag vor.