Stichwort: Handel

In dieser Rubrik bringt Lunapark21 jeweils einen Eintrag aus dem Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus (HKWM). Das HKWM erschien mit seinem ersten Band 1994, begründet und herausgegeben vom Philosophen Wolfgang Fritz Haug. Anlässlich der Herausgabe des Bandes 9 II im Dezember 2023 schrieb Haug: „Die Vorgeschichte von 1989 hat es vorgeführt: Lange kaum merklich, kann der geschichtliche Prozess zum unwiderstehlichen Strom sich steigern, der Standpunkte und Perspektiven mit sich reißt. (…) Wer das HKWM nicht nur als Nachschlagewerk nutzt, sondern auch oder sogar primär als »Vorschlagwerk«, in dem man auf Erkundung gehen kann, wird die Erfahrung machen, dass Vergangenheitserkenntnis der Gegenwart auf eine Weise zu begegnen vermag, die ihr bei aller Differenz ein Licht aufsteckt.“

Handel (H) ist nach Energie, Krieg und Frieden, Lüge, Finanzkrise, Kurzarbeit, Mensch-Naturverhältnis, Kubanische Revolution, Misogynie, Landnahme, Klimapolitik, militärisch-industrieller Komplex und Finanzmärkte das 13. ausgewählte Stichwort aus der alphabetischen Stichwörtersammlung des HKWM, das wir hier auszugsweise zitieren.

Der wiedergegebene Ausschnitt enthält mehr als man bei Eingabe des Links: http://www.inkrit.de/e_inkritpedia/e_maincode/doku.php?id=h:handel zum Stichwort Handel findet, aber wesentlich weniger als im Original. Das ist in mehrere Abschnitte gegliedert und mit einer umfangreichen Bibliographie versehen. Der Bestellvorgang wird auf der Website des InkriT erläutert. (JHS)

E: trade. – F: commerce. – R: torgovlja. – S: comercio. Autoren: Mario Candeias, Gerhard Hanappi

HKWM Bd. 5, 2001, Spalten 1142-1153

»Wohlfeil kaufen, um teuer zu ver-
kaufen, ist das Gesetz des H« (Kapital III), der sich lange vor dem Industriekapitalismus entwickelt, bis dieser ihn »als besondre Funktion eines besondren Kapitals« (…) zu seinem integralen Bestandteil macht, dessen allgemeine Funktion es ist, den Mehrwert zu realisieren. Vorkapitalistisch bleibt dagegen die durch den H geregelte Warenzirkulation der noch weitgehend auf naturalwirtschaftlichen Grundlagen beruhenden Produktion im Wesentlichen äußerlich.

Frühe Formen des H entstehen bereits in späten Urgesellschaften nach dem Übergang zur sesshaften Lebensweise und agrarischen Produktion. Produkte wie Salz und Metalle, später Gewürze und andere Gegenstände des Luxuskonsums bilden typische Fernhandelswaren, nach denen Handelsrouten heißen (›Salzstraße‹, ›Seidenstraße‹ usw.). Fern- und Binnenhandelsbeziehungen erhielten besondere Bedeutung in der Antike und in anderen Hochkulturen mit entwickelter Zentralgewalt. Im europäischen Hochfeudalismus nahmen Warenproduktion und H nach einer längeren Verfallsphase während des frühen Mittelalters mit der Entstehung des Städtewesens und überregional agierender Handels-gesellschaften (italienische Stadtrepubliken, Hanse) einen bedeutenden Aufschwung. Dieser bedeutete zugleich Blüte und beginnende Krise der feudalen Produktionsweise.

In der Renaissance wird das von Kaufmanns- und Wucherkapital bestimmte Zeitalter des Handelskapitalismus eingeläutet, den Marx als ein Merkmal der Manufakturperiode charakterisiert (Kapital I). Ende des 19. Jh. erreicht der Welt-H seine vorerst maximale Ausdehnung, bevor er im imperialistischen Kriegstreiben zusammenbricht. Nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs wirkt der wiederauflebende Welt-H auf Basis eines neuen internationalen Regimes als wichtige Rahmenbedingung des Wirtschaftsaufschwungs im zerstörten Europa und befördert die fordistische Entwicklungsweise. Im Zeichen neoliberaler Globalisierungspolitik dient die Liberalisierung des Welt-H der Durchsetzung des transnationalen High-Tech-Kapitalismus. (…)

Die Einbettung des H in die historische Entwicklung der Kapitalakkumulation verdeutlicht auch die innere Verflechtung spezifischer politischer und technologischer Entwicklungen in bestimmten Staaten mit der der Kapitalakkumulation: Die Seeherrschaft Hollands und Englands ging Hand in Hand mit sichereren Verbindungen und ermöglichte den rascheren und billigeren Transport der Waren, wodurch schließlich die Umschlagszeit des H-Kapitals verkürzt und die H-Profitraten erhöht wurden (vgl. MEW 24, 254). (…)

Beim Übergang vom 19. zum 20. Jh. erreicht die Entwicklung des internationalen H einen vorläufigen Höhepunkt. Die »immer innigere Beziehung zwischen Bankkapital und industriellem Kapital« (Hilferding), wodurch das Kapital die »Form des Finanzkapitals« annimmt, hat, wie Rudolf Hilferding beobachtet, »die früher getrennten Sphären des industriellen, kommerziellen und Bankkapitals […] unter die Leitung der hohen Finanz gestellt.« (…) Zur Durchsetzung seiner Interessen ist das Finanzkapital auf einen »politisch mächtigen« Nationalstaat angewiesen, der sich vom liberalen Freihandelsstaat zum Protektionismus und zum aggressiven rüstungs-, kolonial- und außenpolitischen Engagement wendet. Die Spannungen entladen sich letztlich im Ersten Weltkrieg, der das Ende der englischen Hegemonie besiegelt. Die USA werden zum Modell für den kapitalistischen Staat des 20. Jh. Die Krisen des Finanzkapitals durchziehen die Zwischenkriegszeit und gip feln 1929 im Absturz der Börsennotierungen, der den internationalen H zusammenbrechen lässt. Die folgende ›große Depression‹ ist eine entscheidende Voraussetzung für das Erstarken des Faschismus und eine der Ursachen des Zweiten Weltkriegs. (…)

In der Ära neoliberaler Globalisierung erlebt der internationale H mit Waren und Dienstleistungen erneut eine Intensivierung. Der größte Teil des internationalen Handels konzentriert sich jedoch auf den Austausch innerhalb der Triade-Regionen. (…)

Der ›stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse‹ in der der Währungs- und H-Konkurrenz wirkt gegen den Sozialstaat und führt zur Erosion ökologischer und sozialer Standards sowie zur Verarmung großer Teile der Weltbevölkerung. Zwar erlauben auch GATT bzw. WTO (multilaterales Handelsabkommen von 1948, abgelöst vom Welthandelsabkommen 1995; JHS) den Schutz nationaler  Verhältnisse zur Erhaltung des »Lebens und der Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen« (Art. XX), dies gilt aber nur für die Beschaffenheiten des fertigen Produkts, nicht für die Produktions- und Arbeitsbedingungen. (…)

Wer im neuen Welthandelsregime mangels Devisen nicht teilnehmen kann, sucht informelle Kanäle des Austauschs. Der Anteil des sog. Countertrade bzw. barter, des Austauschs von Ware gegen Ware ohne das Dazwischentreten von Geld als Zahlungsmittel, beläuft sich Mitte der 90er Jahre auf bis zu 25%. Zur informellen Seite des internationalen H gehört auch die Abwicklung illegaler Transaktionen wie der H mit Drogen, der unregistrierte H mit Rüstungsgütern, Menschen-H und Geldwäsche. Diese Seite des internationalen H ist schwer zu erfassen. Ein Indiz für ihren Umfang liefert das globale Defizit der Leistungsbilanzen. (…)

Am Ende des 20. Jh. entfällt bereits ein Drittel des Welt-H, 2,7 Bio. US-Dollar, auf den H mit ›Dienstleistungen‹ aller Art. (…) Die WTO schafft die Voraussetzungen für die Inwertsetzung bislang nicht warenförmiger Bereiche. (…) Das schließt die Patentierung von Genen und ganzen Lebensformen ein. Der Handel mit Gütern, die sich als Bitstrom darstellen lassen, bildet ein wesentliches Segment der neuen Internetökonomie. (…) Der elektronische Handel via Internet bezieht sich nicht nur auf Güter, die online ›ausgeliefert‹ werden, sondern durchdringt sämtliche Bereiche, vom Versand-H über Flugreisen bis hin zu Versicherungen (…)

An den leeren Versprechen des freien Welt-H und den Widersprüchen neoliberaler Globalisierung setzen Kämpfe gegen die ›totale Vermarktung‹ der Welt an. Sie trugen zum Scheitern des Multilateralen Investitionsabkommens (MAI) und der WTO-Konferenz von Seattle bei, was als »Wendepunkt« weltgesellschaftlicher Entwicklung gesehen werden konnte.