Der lange Marsch. Subjektiver Bericht über eine Chinareise

Aus Lunapark21 – Heft 19

Es war eine politische Reise durch die Volksrepublik: Hongkong, Shenzhen, Guangzhou (Kanton), Guilin, Kunmin, Xian, Yan’an, Nanking, Shanghai und schließlich Peking. „Neues Deutschland lädt Sie ein, nach 78 Jahren den historischen Langen Marsch nachzuvollziehen und zu erleben, wie weit China auf dem ‚neuen langen Marsch‘ zu einer führenden Wirtschaftsmacht gekommen ist“. So der Reiseprospekt.

Wir hatten uns mit der Lektüre des legendären Artikels von Perry Anderson „Zwei Revolutionen“ vorbereitet. Andersen vergleicht dort die historische Bilanz der Umwälzungen in China und in der Sowjetunion miteinander und zieht das Fazit: [1] „Wenn kein anderes Ereignis das 20. Jahrhundert so beherrscht hat wie das Projekt der russischen Revolution, so wird das 21. Jahrhundert von den Folgen der chinesischen Revolution geprägt werden“.

Vor uns die unterschiedlichen Dimensionen und gigantischen Widersprüche eines riesigen Landes: China mit seiner 5000-jährigen Geschichte und Kultur, und schließlich: China als politischer Lernprozess.

Der Start in Hongkong schrecklich. Der lokale Reiseführer stellt sich nicht mit seinem chinesischen Namen, sondern mit „Stanley“ vor. Die Nobelviertel auf dem bewaldeten Berg, die Massenquartiere in diesem engen baumlosen Beton-Meer der Wolkenkratzer. Enge ist das beherrschende Gefühl.

Am Übergang in die Volksrepublik fragt man sich: Wer wird wohl nach der Phase „One country, two systems“ in Zukunft wen umgestaltet haben: das kapitalistische Hongkong die Volksrepublik mit ihrem sozialistischen Anspruch oder umgekehrt? An der Grenze zu Shenzhen begrüßt uns „Comrade Chen“, unser Reiseleiter für die Volksrepublik, der in jeder Stadt Unterstützung durch einen lokalen Reisebegleiter bekommt. „Welcome in socialist China“. Es geht dann stundenlang durch diese unendliche Kette von Fabriken und Wohnheimen. Hier also werden unsere Laptops und iPads in den Weltmarktfabriken von Foxconn etc produziert?

Im Hotel in Canton lesen wir in der aktuellen „China Daily“ per Zufall die epochemachende Meldung: Erstmals leben in der Volksrepublik 51 Prozent der Bevölkerung in Städten. Unübersehbar, der große Schub der Verstädterung. Unterschiedliche Wellen der Urbanisierung sind erkennbar: die sechsstöckigen Wohnblöcke, teils mit Innenhöfen, aus der kollektiven Phase; die 20-stöckigen aus den 70er Jahren und dahinter die Wolkenkratzer aus jüngerer Zeit. Einem Reihenhausbewohner in Berlin erscheint das auf den ersten Blick nicht überaus attraktiv. Allerdings: Welche Zersiedelung würde sich ergeben, wenn alle Bewohner dieser Trabantenstädte in Einzel- oder Reihenhäusern leben würden?

Der Hauptwiderspruch Chinas liegt wohl im ungünstigen Verhältnis der Knappheit der Ressourcen (speziell der landwirtschaftlichen Nutzfläche) zur Größe der Bevölkerung (1,4 Milliarden Menschen). Die egalitäre Landreform nach 1978, die jeder Familie ein Stück Land zur Pacht übergab, führte zu sehr kleinen Höfen. Auf den Überland-Busreisen haben wir nur kleine Felder gesehen, keine Weiden mit Rindern, keine Traktoren – stattdessen viel Handarbeit. China schafft es bisher, die eigene Bevölkerung zu ernähren. Da jedoch die städtische Bevölkerung und ihr Lebensstandard steigt, bedarf es steigender Produktivität auf dem Lande – eine der gigantischen Aufgaben, vor denen die Volksrepublik steht, zumal die Motorisierung die landwirtschaftliche Nutzfläche reduziert.

In den Städten sprudelndes Leben. Unsere erste Begegnung mit dem Nachtleben in Kanton am Perlfluss: viel Musik, Clubs, Musik und viel Erotik. Fast könnte man vergessen, dass wir uns in einem Entwicklungsland befinden. Als jemand, der acht Jahre in Afrika (Zimbabwe) gearbeitet hat, werde ich daran schnell durch den ausgeprägten informellen Sektor erinnert: abends überall die fliegenden Bratstände, an denen alles angeboten wird, was der Gaumen goutiert. Morgens an vielen Ecken die Fahrrad-Kioske, an denen Schüler in den üblichen Schuluniformen noch schnell ihr Frühstück kaufen. Überall halten Rentner mit ihren Strohbesen die Straßen picobello sauber.

5000-jährige Kultur

Beispielhaft auch für andere Orte: In Schanghai finden wir sowohl das alte, nicht wegsanierte China mit seiner Altstadt, mit Tempeln und Pagoden und Teehäusern und dem zauberhaften Yu-Garten. Von dort aus sind die Wolkenkratzer sichtbar, der „Flaschenöffner“ (Weltfinanzzentrum), Alt und Neu in gelungener Symbiose, scheint es. Es geht also. Allerdings finden wir auch immer noch erkennbare Relikte des kolonisierten China: Beim Gang durch die ehemalige französische Konzession beobachten wir eine Hochzeit: die Braut ganz in langem weißen Schleier vor mächtigen Kolonialgebäuden. Anbetung westlicher Kultur, noch immer? Oder schon wieder – nach dem Scheitern der Kulturrevolution?

Die Tempel – so sagte man uns – werden häufig von Konfuzianen, Taoisten und Buddhisten gemeinsam genutzt. Überraschend für uns als Europäer, die seit Jahrhunderten an religiöse Auseinandersetzungen und Kriege gewöhnt sind. Dazu das dialektische Denken des Taoismus, von dem Bertolt Brecht im „Buch der Wendungen“ berichtete. Eine fast säkulare Lockerheit im kulturellen Erbe? Welch ein Geschenk der Geschichte!

Allerdings ein bisschen zu viel „Kaiserverehrung“ für eine Republik. Vielleicht lautet die Botschaft: „Wir sind stolz auf unsere Geschichte und streben einen Sozialismus mit chinesischem Antlitz an. Aber wir brauchen dazu den weiten Zeithorizont, an den wir durch unsere lange Geschichte gewöhnt sind.“

Politisches China

In Yan’an, dem Endpunkt des langen Marsches, der politischen und militärischen Basis der KP Chinas von 1938 bis 1947, hatte Edgar Snow sein berühmtes Interview mit Mao Tse tung für das Standardwerk „Roter Stern über China“ geführt [2]. Vor den Lößhöhlen Scharen junger chinesischer Touristen, die rote Fahnen mit Hammer und Sichel entfalten, um sich mit ihren iPads vor den „primitiven“ Höhlen ablichten zu lassen, in denen die Veteranen der chinesischen Revolution nach dem langen Marsch wohnten und ihre sozialistischen Strategien entwickelten. Man blickt aber auch hinab auf eine moderne und gepflegte Stadt am Gelben Fluss mit über 2,5 Millionen Einwohnern. Was für ein Quantensprung im Vergleich zu den ärmlichen Verhältnissen damals, als China besetzt war und ärmer als Indien. Kurz nach unserer Reise wurde eine neue Schnellzug-Verbindung nach Xian, der alten Kaiserstadt im Zentrum Chinas, eröffnet.

Im Gespräch mit der Professorin Sun Jin Song aus Beijing von der Parteihochschule der KPCh in Peking wurden nicht nur Erfolge vermeldet (die durchschnittliche Lebenserwartung der 450 Millionen Chinesen lag 1949 bei 30 Jahren, heute liegt sie für 1,4 Milliarden Menschen bei 73 Jahren), sondern auch große Probleme benannt: China habe keine Geduld; der schnelle Übergang von einer Agrar- zu einer Industriegesellschaft bringe nicht nur ökologische Probleme mit sich. Für die Integration der Arbeiter und Bauern in die Städte müsse „ein chinesischer Weg“ gefunden werden. So werden im neuen Fünfjahresplan 32 Millionen Sozialwohnungen für diejenigen gebaut, die sich keine Eigentumswohnungen leisten können. Tendenzen zur Privatisierung der ländlichen Eigentumsverhältnisse konnten sich bisher im Volkskongress nicht durchsetzen. Sun erwähnt, dass die Rolle des Marktes bei der Lösung sozialer Fragen nach wie vor heftig umkämpft sei [3]. Auch gebe es selbst bei Führungskräften eine Anbetung von Reichtum und westlichem Luxus – „durch Vuitton-Taschen zeigen, dass man nicht mehr arm ist“. Die Kontrolle über den Finanzsektor sei gerade in der Krise eine große Errungenschaft; bisher gebe es noch keine rein private Bank, nur „Joint ventures“.

Am wichtigsten sei allerdings das internationale Umfeld: Der kalte Krieg wirke nach, drohe wieder aufzuflammen. Die USA wollten China einen Rüstungswettlauf aufzwingen. Allerdings: „Die Wehrlosigkeit der letzten 100 Jahre werden wir nicht wiederholen!“

Interessant die Diskussionen in der Reisegruppe, zu 80 Prozent ehemalige DDR-Bürger. Woran liegt es, dass China den Lernprozess fortsetzen kann, der in der DDR so ruhmlos abgebrochen wurde? „Die DDR war immer ein Spielball der UdSSR“ – so eine Antwort.

Lehrreich nach der Rückkehr auch die Reaktion von Nachbarn, Freunden, Genossen: Einerseits großes Interesse und Neugierde, andererseits Reaktionen in der Sprache des Kalten Krieges (Diktatur! Diktatur!), teilweise gepaart mit westlicher Überlegenheit (unser Demokratiemodell ist überall gültig) oder ökonomischer Angst („wir können mit China nicht konkurrieren, die Globalisierung erweist sich als Bumerang!“).

Bei aller Freude über die Veränderung der unipolaren zur multipolaren (BRICS) Weltordnung ist China also immer noch ein großer Widerspruch [4]: China steht vor gigantischen Herausforderungen [5]. Ob es auf Dauer gelingt, den kapitalistischen Tiger zu reiten und die durch die Marktmechanismen verursachten sozialen Polarisierungen zu revidieren?

Anmerkungen:

[1] New Left Review 4/2010 – deutsch in Lettre International 89.

[2] Edgar Snow: Roter Stern über China, 1975, Fischer Taschenbuch Verlag.

[3] Giovanni Arrighi (Adam Smith in Peking, VSA, 2007) diskutiert die Geschichte von Marktwirtschaft und Sozialismus in China

[4] Ein Widerspruch im Marxismus, wie W.F. Haug im ersten und zweiten ARGUMENT-Heft begründet. www.inkrit.de/argument/archiv/DA268/DA268_komplett.pdf

[5] Gut informiert darüber http://english.peopledaily.com.cn/

Peter Strotmann ist aktiv bei Attac und hier unter anderem Redakteur von „SiG – Sand im Getriebe“. Er schrieb in LP21, Heft 10 über Drei Vergleiche der russischen und der chinesischen Revolution (siehe: www.tlaxcala-int.org/article.asp?reference=3161)

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