„Wahl der Offiziere durch die Soldaten“

Als Karl Marx im Juli 1867 mitten in den Korrekturen für Das Kapital steckte, fuhr Friedrich Engels mit seiner Frau Lydia Burns für vier Wochen auf den Kontinent. Bei seiner Rückkehr im August 1867 schrieb er an Marx, er sei zwar in Hamburg gewesen, habe aber die fertigen Druckbogen des Kapital nur flüchtig gelesen, die in Leipzig für den in Hamburg ansässigen Verleger Otto Meissner produziert worden waren.

Was hatte Engels also in Hamburg gemacht – wenn er nicht am Kapital gearbeitet hatte?

Was er nicht schrieb, sondern im Gespräch mit Marx in London mitteilte, wird erkennbar in dem, was Marx dann tat: Auf der Sitzung des Generalrats der Internationalen Arbeiter Assoziation vom 13. August 1867 sprach Marx unter anderem vehement über die Gefahr von stehenden Heeren, die ein Instrument zur Niederhaltung der Arbeiterklasse seien.[1]

Engels Reise nach Hamburg hatte 1867 wohl einer Institution gedient, die in den sogenannten Befreiungskriegen entstanden war: das Hamburger Bürgermilitär, das seit 1814 alle männlichen Hamburger, die mindestens 22 Jahre als waren und das Bürgerrecht hatten, zu einem Wachkontingent für die Stadt und einer Truppe für den äußeren Krieg zusammenfasste. Diese sonntäglich übende Truppe, die keine adligen Offiziere hatte, zeichnete sich in der Revolution 1848 dadurch aus, dass die Mannschaften die Offiziere wählten.

Der Vertrag über das Kapital mit Otto Meißner war im März 1865 zustande gekommen, weil Meissner in der von Grundbesitz und Kaufleuten autokratisch bestimmten Stadtrepublik Hamburg unbedingt Engels Schrift Die Preußische Militärfrage und die Deutsche Arbeiterparteiverlegen wollte. In der Schrift stellt Engels fest: „Die mehr und mehr konsequente Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht ist der einzige Punkt, der die Arbeiterklasse Deutschlands an der preußischen Armeeorganisation interessiert… Die allgemeine Wehrpflicht ist die notwendige und natürliche Ergänzung des allgemeinen Stimmrechts; sie setzt die Stimmenden in den Stand, ihre Beschlüsse gegen alle Staatsstreichversuche mit den Waffen in der Hand durchzusetzen.“ (MEW 16, S.66).

Diese Stellungnahme der Arbeiterpartei war für den Hamburger Verleger so wichtig, weil die Bismarcksche Militär- und Kriegspolitik die Lage der deutschen Staaten grundlegend verändert hatte – ohne Zustimmung durch ein Parlament. Der Deutsch-Dänische Krieg Anfang 1864 um das Herzogtum Schleswig hatte mit dem Sieg Preußen-Österreichs und der Abtretung Schleswig, Holsteins und Lauenburgs an Preußen und Österreich geendet.

Während Marx am Kapital schrieb, setzte Bismarck die Einigungspolitik durch weitere Kriege zwischen Monarchien fort. Nach dem Sieg im Krieg gegen Österreich um das Königreich Hannover 1866 verschwanden auch die letzten Reste eines Bürger- oder Volksheeres: Just als sich Engels in Hamburg aufhielt, wurde in einer Militärkonvention vereinbart, das Hamburger Bürgermilitär aufzulösen und durch das neue preußische 76. Infanterieregiment zu ersetzen.

Am 30. Juli 1868 machte das Bürgermilitär auf dem Rathausmarkt seine letzte Parade; die Ausrüstung des einzigen bestehenden Volksheeres wanderte ins Museum. Fortan führte eine Armee die Kriege, in denen adlige Offiziere als Berufssoldaten Bauernsöhne befehligten – also ein Heer, das ohne Gefahr von Aufruhr gegen die eigene Arbeiterbevölkerung eingesetzt werden konnte.

Nach Aufhebung der Sozialistengesetze forderte das Erfurter Programm der Sozialdemokratie 1891 „Volkswehr an Stelle der stehenden Heere.“

Und der Allgemeine Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands in Berlin beschloss am 18. Dezember 1918 sieben Punkte zur Kommandogewalt, die von dem Hamburger Reserveoffizier Walther Lamp’l vorgelegt worden waren. Dabei wären die Punkte 5 und 7 von größter Bedeutung für die Zukunft gewesen: „Die Soldaten wählen ihre Führer selbst. Frühere Offiziere, die das Vertrauen der Mehrheit ihres Truppenteils genießen, dürfen wiedergewählt werden.“ Und „Die Abschaffung des stehenden Heeres und die Errichtung der Volkswehr sind zu beschleunigen.“ [2]

Bekanntlich riefen Ebert und Noske nicht republiktreue Soldaten zu ihrer Verteidigung, sondern Freikorpstruppen unter adligen Offizieren, die den Aufstand der Arbeiter und Soldaten auch nach ihrem eigenen Putsch niederschlagen durften und den Kern der künftigen Reichswehr der Republik bildeten.

Das Hamburger Bürgermilitär mag eine uniformgeile Sonntagstruppe gewesen sein, aber es hätte sicherlich nicht umstandslos gegen die eigene Bevölkerung und die Arbeiter eingesetzt werden können. Und es hätte nicht zwei Weltkriege angefangen.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass mit Karl Theodor zu Guttenberg ein überlebter Adliger, der nichts gelernt hatte und in geistigen Dingen Mein und Dein nicht unterscheiden konnte, als Minister beiläufig die Wehrpflicht in der Bundesrepublik zugunsten einer neuerlichen Berufsarmee abschaffte bzw. aussetzte.

Anmerkungen:

[1] [1] Karl Marx Chronik, Chronik seines Lebens in Einzeldaten, Moskau 1934, Glashütten 1971, S.259; MEW 31, S.310f, 320)

[2] Allgemeiner Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte, Berlin 16. bis 21. Dezember 1918, Stenographische Berichte, Berlin 1919, Nachdruck Berlin 1973, S.70