Ein halb-feudales deutsches Kaiserreich?


Über einige heroische Einbildungen des Bürgertums

Die Revolution 1918/19 wird vielfach gefeiert als Aufbruch, der parlamentarische Demokratie, allgemeines Wahlrecht – auch für Frauen – und soziale Rechte brachte. Leider sei die Republik dann an den feudalen Überresten des Kaiserreichs gescheitert, so als hätten der Adel in Staatsapparat, Militär, Polizei und Justiz aus überlebter Vorgestrigkeit im Nationalsozialismus Demokratie und Republik beseitigt, um zum feudalen Kaiserreich zurückzukehren.

Nach allem, was wir wissen, ging es in der Revolution nicht nur um die Staatsform in Form von Räteherrschaft oder repräsentativer Demokratie, sondern auch um die Herrschaft über die Produktion, um Sozialisierung. Arbeiterräte, Betriebsräte und Wirtschaftsräte wollten nicht nur Arbeiterrechte absichern, sondern über den ganzen Kuchen verfügen.

Aber auch das Bild vom geraden Weg durch das 19. Jahrhundert zur politischen Demokratie ist für die herrschenden Klassen etwas zu milde geraten.

Bei genauerer Betrachtung erweisen sich die angeblich feudalen oder halbfeudalen Reste aus dem Kaiserreich als genau diejenigen Klassen und Organisationsformen, durch die die kapitalistische Produktionsweise, Reichseinigung und bürgerlicher Staat im 19. Jahrhundert in Deutschland durchgesetzt wurden. Dabei war die besondere Form, in der sich die kapitalistische Modernisierung der deutschen Gesellschaft vollzog, nicht alternativlos. Sie war höchst umkämpft, hätte an entscheidenden Stellen anders verlaufen können, wenn sich das deutsche Bürgertum nicht vor seiner Aufgabe so blamiert hätte.

Denn im Gegensatz zu der Auffassung, es habe sich in Deutschland des 19. Jahrhunderts um eine Fortsetzung des Feudalismus mit anderen Mitteln gehandelt, vollzog sich in dieser Zeit in deutschen Landen eine Veränderung der ökonomischen Basis der Gesellschaft, die die Funktion des Adels, die Form des Staates und die Art der Kontrolle und Überwachung der Bevölkerung grundsätzlich wandelte.

Feudalismus ist ein Produktionsverhältnis, bei dem sich Grundbesitzer das (landwirtschaftliche) Mehrprodukt durch ein persönliches Herrschaftsverhältnis aneignen, das ihnen als Arbeitsleistungen und Produkten der abhängigen, persönlich unfreien Bauern zukommt. Der Feudalherr ist dabei ökonomischer und politischer Herrscher zugleich, weil er nicht nur Arbeitsleistung und Produkte abverlangt, die Bedingungen für die Bauern diktiert und über deren Lebensverhältnisse entscheiden kann, sondern zugleich über sie Gericht sitzt und gegen äußere Feinde und Aufstände im Inneren Waffen tragen und nutzen darf.

Auch in den Städten wurde in feudalen europäischen Gesellschaften die Produktion über den Grundbesitz geregelt, der mit bestimmten Gewerberechten verbunden war, deren Ausübung Zünfte hinsichtlich der Zahl der Betriebe und Stellen, der Art, Form und des Preises der Produktion regulierten – die Konkurrenz sollte draußen bleiben.

Diese Verhältnisse gerieten durch mehrere Entwicklungen unter Druck: einmal durch Eindringen der Waren- und Geldwirtschaft, das die Feudalherren immer mehr veranlasste, Produkte ihrer Bauern zu verkaufen, um gewerbliche Waren, Ausstattung usw. zu erwerben. Zum anderen im 17. und 18. Jahrhundert durch die Herausbildung absolutistischer Staaten, die die bisher eher losen Staaten von durch Heiraten verknüpften Monarchien durch zentralisierte und arbeitsteilig verwaltete Organisationen ersetzten. Erst dann kann man von Ansätzen eines Staates, wie wir ihn kennen, reden.

Die absolutistischen Herrscher versuchten, wie Norbert Elias das für Frankreich und für Deutschland gezeichnet hat, konkurrierende lokale Feudalherren an Putsch und Machtübernahme dadurch zu hindern, dass sie sie als Teil des Hofes an den Herrschersitz banden und in dieser Funktion zu verschwenderischen Ausgaben zwangen – sie hatten dann einfach keine Zeit und kein Geld mehr, konkurrierende Machtzentren aufzubauen. Die von den Adligen in dieser Funktion zu erwerbenden Luxus-Produkte wurden als Waren hauptsächlich in staatlichen Manufakturen hergestellt. In diesem Prozess brachten die an den absolutistischen Staat gebundenen Adligen selbst mit den Handwerkern, dem Gewerbe und den Geldgebern bürgerliche Verhältnisse und Klassen hervor, die mit Hilfe des Volkes, der Arbeitenden und der großen Schicht der Bauern in der Französischen Revolution den Adel stürzten, den König absetzten und durch eine dem Parlament verpflichtete Regierung ersetzten. Das feudale, herrschaftliche Verhältnis zum Boden und der darauf tätigen Bauern wurde in der Revolution in ein bürgerliches Eigentumsverhältnis umgewandelt, das keinerlei Verpflichtungen zum Gebrauch des Bodens mehr vorsah.

Die übrigen feudalen Regime beispielsweise des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation konnten dem Ansturm der Revolutionsarmeen nur etwas entgegensetzen, wenn sie ihre Bevölkerung selbst zu mobilisieren vermochten. Das war die Stunde der Erfindung der Nation, die durch materielle Veränderungen für die Bauernbevölkerung unterfüttert werden musste.

In der Reaktion auf die bürgerliche Revolution wurden feudale und zünftige Verhältnisse teilweise aufgelöst -einmal durch die Bauernbefreiung, die in deutschen Ländern bis 1865 stattfand, und zum anderen die Aufhebung der gewerberegulierenden Zünfte.

In der „Bauernbefreiung“ mussten unfreie Bauern feudale Lasten durch Geldzahlungen an den Grundherren ablösen – was sie zur Marktorientierung ihrer Produktion zwang und im doppelten Sinne frei machte: frei von den bisherigen Produktionsmitteln und frei, ihre Arbeitskraft in den Städten zu verkaufen.

Die Adligen erhielten auf diese Weise Geld und konnten fortan frei über ihren Grundbesitz verfügen, ohne dass Versorgungsansprüche und Nutzungsrechte der Bauern dies beschränkten. Fortan mussten sie nur so viele Arbeitskräfte bezahlen bzw. unterhalten, wie sie für ihre Produktion brauchten. Die Bauernbefreiung war also eine Befreiung des bürgerlichen Eigentums am Grundbesitz und zugleich die Produktion von potentiellen Lohnarbeitern, weil die bisherigen anspruchsberechtigten Bauern in die Städte auf der Suche nach Erwerbsarbeit wanderten.

Durch den überwachenden, zentralisierten Obrigkeitsstaat und deren lokale Organe, den Landräten etc. waren die Arbeitsverhältnisse auf dem Lande für die adligen Grundbesitzer weiterhin bequem: Sie konnten Landarbeiter unter Verhältnissen beschäftigen, die durch die Gesindeordnung ähnlich der bisherigen Unfreiheit feudaler Verhältnisse geregelt waren.

Nach dem Scheitern der Revolution 1848 behielten und erweiterten die Adligen ihre Funktion in Politik und Militär. Bismarcks Politik machte in diesem Wandlungsprozess den geldbesitzenden Adligen als Grundbesitzern drei wesentliche Angebote: Sie bildeten das Rückgrat des Staates als Diplomaten, Abgesandte, Minister; sie sollten die Nahrungsmittel in der Landwirtschaft produzieren, die die städtische Bevölkerung versorgte und wurden gegen ausländische Konkurrenz durch die Lebensmittel verteuernde Schutzzölle zeitweilig geschützt. In den 1880/1890er Jahren waren es vor allem die Großgrundbesitzer, die durch neue Gebäude, Düngemittel und Maschineneinsatz mit weniger Lohnarbeitern mehr produzierten und Geld verdienten – und dieses Geld in die Industrie investierten, in den Bergbau, die Eisen- und Stahlindustrie usw.

Viele Söhne des Adels wurden Offiziere eines größer werdenden stehenden Heeres, das den Einigungsprozess in Kriegen gegen Monarchien exekutierte – gegen Dänemark, dann gegen Österreich und schließlich gegen Frankreich. Adlige Offiziere befehligten zunächst im preußischen Heer, dann in dem des Deutschen Reiches weiterhin Bauernsöhne, die sich leichter auch gegen die eigene Bevölkerung in den Städten einsetzen ließen.

Das Bürgertum musste in diesem bevormundenden Staat auf politische Freiheiten und parlamentarische Mitwirkung verzichten. Es gewann aber gleichzeitig die Sicherheit, dass die Arbeiterbewegung ihm nicht gefährlich werden würde, wenn es beim Ausbau von Industrie und Gewerbe seinen Reichtum mehrte.

Die herrschenden gesellschaftlichen Klassen waren so zwar dem Herkommen nach feudal, weil sie auch teilweise von einer adligen herrschenden Schicht ausgeübt wurden, aber sie hatten sich zugleich in bürgerliche gewandelt. Der Adel beteiligte sich an bürgerlichem Erwerb in Landwirtschaft und Industrie, spielte eine neue Rolle im bevormundenden Staat und hielt als bewaffnete Macht die Arbeiterbevölkerung in Schach.

Zu dieser Entwicklung gab es Alternativen – etwa einen durch Republiken vereinbarten Weg zum Nationalstaat, der durch ein Volksheer abgesichert worden wäre. Das Bild vom geraden Weg zur Demokratie im 19. Jahrhundert ist für die herrschenden Klassen allzu weich gezeichnet. Eher hat das deutsche Bürgertum im 19. Jahrhundert aus Angst vor der Arbeiterbewegung und dem Verlust ihres Eigentums einige diktatorische und obrigkeitsstaatliche Umwege (mit-) beschritten, bevor es sich aus Angst vor möglicherweise noch weiter gehenden Machtverlust – zeitweilig – zu allgemeinem Wahlrecht, Demokratie, Republik und Zugeständnissen bei den Arbeiterrechten durchrang. Um dann aber bereits wenige Wochen nach der Novemberrevolution diese Demokratie wieder zu unterminieren, gegen Demokratie-Forderungen – wie die nach Räten – vorzugehen und schließlich 1933 erneut die Diktatur einer demokratischen Verfasstheit vorzuziehen.