Verschubmasse Flüchtling: Ungarn zwischen den Fronten

Aus: LunaPark21 – Heft 31

Dass Krieg neben Tod, Elend und Zerstörung sozioökonomisch betrachtet auch eine Mobilisierung von Massen bedeutet, braucht in einer „Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie“ nicht näher ausgeführt zu werden. Zuletzt erlebte Europa eine solche Mobilisierung Mitte der 1990er Jahre, als hunderttausende Menschen aus Bosnien aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Die bis zu diesem Zeitpunkt seit 1918 schrumpfende Stadt Wien nutzte dies und pickte sich aus den zwangsweise Mobilisierten die flexibelsten, sprich: wirtschaftlich brauchbare Menschen heraus. Seitdem wächst Wien in Richtung einer Zwei-Millionen-Stadt.

Das Mäntelchen der Humanität überdeckte den Konkurrenzkampf, in dem sich die unterschiedlichen Migrationsgruppen befinden. Während sich die durch extreme Lohndifferenz zum selben Zeitpunkt nach Kerneuropa getriebenen Polen und Slowakinnen gerade erst zu integrieren begannen, verhängten National- und Zentralbanken sowie Außenministerien auf Basis von UN-Sanktionen gegen Serbien Kontosperren und ein hartes Visaregime gegen bereits Jahrzehnte im Land befindliche „Gastarbeiter“. Die bosnischen Kriegsflüchtlinge bezogen auf diesem Tablett eines immer mehr zerklüfteten Arbeitsmarktes ihre Position.

Die Erwähnung der bosnischen Flüchtlingswelle soll zeigen, dass die aktuelle Wanderung arabischer, überwiegend syrischer Hilfesuchender trotz des enormen Ausmaßes nicht ohne Beispiel ist. Veranschaulicht wird damit auch einer von mehreren wirtschaftlichen Aspekten der Migration, die in der laufenden Debatte unterbelichtet sind.

Merkel gibt und Merkel nimmt

Am Anfang stehen die US-amerikanischen Neuordnungsversuche im arabischen Raum. Durch die Kriege im Irak, in Libyen und Syrien wurden Millionen Menschen zur Flucht getrieben. Den aktuellen Startschuss gab dann die deutsche Kanzlerin. Ihre Ende August ausgesprochene Einladung an syrische Flüchtlinge mobilisierte Hunderttausende. Eine Rücksprache mit den politisch Verantwortlichen in jenen Ländern, die auf dem Weg ins gelobte Deutschland durchquert werden mussten, fand in Berlin niemand für notwendig. Ebenso selbstherrlich wurden am 13. September das Ende der Freizügigkeit und die Einführung von Grenzkontrollen verordnet. In Griechenland, Makedonien, Serbien, Ungarn und Österreich spürten Politiker, Flüchtlingshelfer und Bevölkerung, wer in Europa das Sagen hat.

Berlin verwies auf „Menschlichkeit“ als Motiv dafür, dass das Dublin-Regimes, nach dem ein Asylantrag in der EU nur dort gestellt werden kann, wo ein Flüchtling erstmals EU-Boden betritt, kurzzeitig außer Kraft gesetzt wurde. Ein Quäntchen davon mag bei der Entscheidung dabei gewesen sein. Der weitere Verlauf der Ereignisse brachte allerdings ans Licht, worum es hauptsächlich ging: sich die schnellsten, kräftigsten und schlauesten aus dem syrischen Millionenheer auszusuchen, die bereits seit Jahren in türkischen und jordanischen Flüchtlingslagern auf ein besseres Leben warten. Nur zwei Wochen nach der Verlautbarung, unbürokratisch agieren zu wollen, schloss Deutschland am 13. September wieder die Grenzen; und einen Tag später veröffentlichte die Hilfsorganisation „Pro Asyl“ einen Gesetzesentwurf des Bundesinnenministeriums, der verschärfte Abschiebemaßnahmen, Leistungskürzungen und Strafen für Flüchtlinge vorsieht, für die Deutschland sich nicht zuständig fühlt. Das Dublin-Regime soll damit verschärft werden.

Feindbild Viktor Orban

Die meisten syrischen Flüchtlinge kommen aus Lagern rund um ihre Heimat. Alles was zwischen diesen Lagern und der ersten deutschen Stadt liegt, betrachten sie als Transitland. Damit ist ein Teil der Kluft, die zwischen Osteuropa und Deutschland in der Flüchtlingsfrage besteht, schon erklärt.

Ungarn ist ein solches Transitland. Ministerpräsident Viktor Orban handelt in diesem Bewusstsein. Nach dem Buchstaben des Dublin-Regelwerks ist sein Handlungsspielraum denkbar eng. Jeder Asylsuchende, der ungarischen Boden betritt, ist zu registrieren, auf dass er – wo immer er sonst in der EU einen Antrag stellt – von Ungarn zurückgenommen werden muss. Gegen dieses Szenario hat Orban einen Zaun an der Grenze zu Serbien und Kroatien bauen lassen. Dieser Zaun ist weniger der Fremdenfeindlichkeit rechter ungarischer Politiker als der Logik der Brüsseler EU-Politik geschuldet. Und in dieser Logik hat Orban Recht. Wenn er anlässlich eines Gesprächs mit EU-Parlamentspräsident Martin Schulz Anfang September erklärt, dass die Frage der Zuwanderung ein „deutsches Problem“ sei, kann man ihm nicht widersprechen. Denn das Zielland der Flüchtlinge ist Deutschland. Kaum ein Syrer will in Ungarn bleiben. Und das hat nicht nur mit der rüden und teilweise menschenverachtenden Umgangsform bei der Aufnahme zu tun. Bestimmend für die Zielwahl der aus ihrer Heimat Vertriebenen ist der wirtschaftliche Faktor. Löhne, Sozialleistungen und eine deutlich bessere Grundversorgung bei der Ankunft sind die entscheidenden Kriterien. Osteuropa kann da nicht mithalten.

Dies hat sich eindrucksvoll bei einer gescheiterten österreichisch-slowakischen Kooperation gezeigt. Wien vereinbarte mit Bratislava die Auslagerung von 500 Asylsuchenden ins slowakische Gabãikovo. Jetzt stellt sich heraus, dass sich niemand unter den Flüchtlingen findet, der nach Gabãikovo überstellt werden will. Die vorbereiteten Plätze in der Slowakei bleiben fast vollständig leer. Nun mag man einwenden, dass dies auch wegen der ablehnenden Haltung der dortigen Bevölkerung gegen Flüchtlingen so sei; eine 97%ige Mehrheit der Bevölkerung von Gabãikovo sprach sich in einem Referendum gegen die Überstellung aus. Doch auch in Deutschland sind Flüchtlinge oftmals nicht willkommen. Hier brannten sogar Flüchtlingsunterkünfte. Was allerdings die Hilfesuchenden nicht abschreckt.

Das wichtigste Zuwanderungsmotiv ergibt sich aus der folgenden Lohnstatistik: Der durchschnittliche Bruttomonatslohn in Deutschland beträgt (kaufkraftbereinigt) 3106 Euro, in der Slowakei und Ungarn 1164 bzw. 1226, in Bulgarien 644 Euro. Dazu kommt als Anreiz die unmittelbare Zuwendung für jeden Asylsuchenden, das sind in Deutschland 140 Euro monatlich. In Ungarn, der Slowakei oder Serbien gibt es Vergleichbares nicht. 140 Euro entsprechen exakt dem moldawischen Durchschnittslohn (138 Euro) und sind nicht viel weniger als der bulgarische Mindestlohn (187 Euro).

Die gesamte Diskussion um eine „gerechte Verteilung“ von Flüchtlingen in Europa geht ohne Berücksichtigung dieser beschriebenen sozialen Schere am Kern der Sache vorbei.

Viktor Orban folgt auch beim Bau des Grenzzaunes der EU-Logik und hat auf seine Weise damit Recht. Mit der Absperrung der Grenze hat er die Heuchelei der Brüsseler Politik bloßgestellt. Weil kaum ein Flüchtling in Ungarn bleiben will, zwingt die Dublin-Verordnung Budapest, die Drecksarbeit für Brüssel an der EU-Außengrenze zu erledigen. Der Bau des Stacheldrahtzaunes ist die unsympathische und auch hilflose Art und Weise, mit „Dublin“ zurechtzukommen.

Versperrte Konsulate, hochgezogene Grenzzäune, verfolgte Schlepper

Die Heuchelei der reichen EU-Nordländer wird auch dort sichtbar, wo der einfachste Weg, Flüchtlinge ins Land zu lassen, systematisch versperrt wird. Weder in Jordanien, dem Libanon oder der Türkei sind die Botschaften Deutschlands oder anderer EU-Länder dafür geöffnet, Asylanträge oder einfache Visa für Hilfe suchende Syrer auszustellen. Weil diese deutschen Konsulate diesbezüglich geschlossen sind, können Flüchtlinge auch nicht per Flugzeug direkt nach Berlin oder München fliegen; dafür sorgt des Weiteren eine restriktive EU-Verordnung, die Fluglinien zwingt, über ihre Flieger „illegal“ eingereiste Personen wieder zurückzuführen.

Berlin fühlt sich wohl dabei, Budapest den schwarzen Peter in der Flüchtlingsfrage zuzuspielen und dann vom reichen Kerneuropa aus auf die menschenverachtenden Maßnahmen in der armen Peripherie zu schimpfen. Die Hilflosigkeit in der Flüchtlingsfrage manifestiert sich auch bei der Definition des Schleppers, der einmal krimineller Handlanger und ein anderes Mal hilfsbereiter Menschenrechtler ist. In den Tagen der deutschen Außerkraftsetzung des Dublin-Abkommens fuhren hunderte junge Österreicher und Deutsche mit Privat-PKWs nach Serbien und Ungarn, um persönlich Flüchtlinge aus Lagern oder direkt vom Straßenrand abzuholen und über die Grenze in reiche Zentrumsländer zu befördern. Taxifahrer, die im EU-Normalbetrieb der Schlepperei angeklagt werden, wenn sie Menschen ohne Einreisegenehmigung ins Schengenland bringen, wurden von Polizisten in wartende Schlangen eingereiht, um syrische Fahrgäste aufzunehmen. Den Vogel schoss wieder einmal Viktor Orban ab. Er beharrte auf der Einhaltung der Dublin-Regeln. Als am 18. September ein Zug aus Kroatien an die ungarische Grenze fuhr, ließ er die den Zug begleitenden 40 kroatischen Polizisten festsetzen und entwaffnen. Sie hatten genau das versucht, was in der EU verboten ist: Flüchtlinge ohne gültige Papiere nach Schengen zu schleusen.

Hannes Hofbauer ist Redaktionsmitglied von „Lunapark 21“. Vom ihm erschien zuletzt das Buch Die Diktatur des Kapitals. Souveränitätsverlust im postdemokratischen Zeitalter (Wien 2014).

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