Teile eines Ganzen

Staatssozialismus im kapitalistischen Weltsystem

Traditionell hatte die internationale Arbeiterbewegung eine kollektive Mobilisierung der einheimischen, westeuropäischen, urbanen, industriellen Arbeiterklasse erwartet. Die Realität enttäuschte diese Vorstellung: Selbst dort, wo Volksaufstände im Sinne von »sozialistischen Revolutionen« interpretiert werden konnten, traten diese meist im Zusammenhang mit anti-kolonialen Befreiungskämpfen auf, und fast nie unter aktiver Führung eines einheimischen Industrieproletariats, das von einer progressiven, oder gar sozialistischer Form von Ideologie beeinflusst gewesen wäre. (Zum Begriff des Staatssozialismus siehe Kasten.) Vor dem ersten Weltkrieg existierten 163 Kolonien, 152 von ihnen betrieben von westeuropäischen Staaten. In diese Zeit fiel der Höhepunkt des Kolonialsystems.


Staatssozialismus
Ich skizziere die Geschichte staatssozialistischer Systeme im Rahmen des kapitalistischen Weltsystems
im Zeitraum 1950 bis 2022. Dabei nutze ich nur einen Teil einer Marxschen Sozialismusdefinition: Im
folgenden sollen solche Gesellschaften als staatssozialistisch angesehen werden, in denen der Staat
gesamtgesellschaftliche Maßnahmen einführte, um die Gesellschaft von der Last der privaten Aneignung der
Arbeit anderer zu befreien, indem Produktionsmittel enteignet und in Staatseigentum überführt wurden.
Der Begriff ist beschreibend und nicht wertend angelegt, kein Ausdruck eines tieferen, übergeschichtlichen Wesens. Es geht darum, empirische Vergleiche zu ermöglichen, Dieser Definition entsprechend behandelt
die vorliegenden Untersuchung die heutige Volksrepublik China, aber auch Laos, Nordkorea, Vietnam
und Kuba als Staaten, die ihren staatssozialistischen Charakter behalten haben. (Vgl. József Böröcz, 2009,
The European Union and Global Social Change: A Critical Geopolitical-Economic Analysis, pp. 116-117.)


Eine der ersten Lektionen aus der Geschichte staatssozialistischer Transformationen ist, dass diese niemals losgelöst von der grundsätzlichen Gewalt auftraten, die aus den imperialen Strukturen der Welt resultiert. Die globalen Strukturen kapitalistischer Ausbeutung basieren auf der Verflechtung des Privateigentums an Produktionsmitteln und imperial-geopolitischer Macht. Ein Widerstand gegen das eine führt automatisch zum Widerstand gegen das andere. Ein Stück weit erklärt diese Verschlingung, warum sozialistische Revolutionen so selten sind.


Datenbasis
Die Berechnungen basieren auf der Maddison Project Database, version 2020 (Bolt, Jutta and Jan Luiten
van Zanden (2020), »Maddison style estimates of the evolution of the world economy. A new 2020 update«,
https://www.rug.nl/ggdc/historicaldevelopment/ maddison/). Die Quelle enthält Zeitreihen für BIP und
Bevölkerung nach Ländern. Die BIP-Angaben sind in Geary-Khamis-Dollar, die Kaufkraftparitäten nahe
kommen. Daten für die DDR und für den Kosovo in der post-jugoslawischen Periode fehlen. Selbstverständlich gibt es weitreichende Diskussionen bezüglich der Angemessenheit von BIP-Schätzungen als Maß der wirtschaftlichen Leistung. Angesichts der Unvollständigkeit oder einfach des Fehlens von besseren und vergleichbaren Veröffentlichungen von BIP Daten sollte diese Zahlen als Indikatoren, nicht als genaue Maße oder das letzte Wort zum Thema genommen werden.


Die gewaltsame Niederlage der Pariser Commune 1871 und die relativ schnelle Zerschlagung der Aufstände in Kiel, München, Berlin, Wien und Budapest 1918/19 verhinderten die Umsetzung der Marxschen Erwartung, dass ein weltweiter Flächenbrand sozialistischer Revolutionen seinen Ursprung im Herzen des Weltsystems nehmen würde. Staatssozialismus entwickelte sich zunächst in einem einzelnen Land, dann in einem geographisch zusammenhängenden Block von Ländern. Die Revolution im Weltmaßstab blieb aus, und so steckten diese staatssozialistischen Gebilde in einem ansonsten aggressiv kapitalistisch-imperialistischen Umfeld fest. Wie eine staatssozialistische Gesellschaft ohne Beeinträchtigung durch externe anti-sozialistische Kräfte eigentlich aussehen könnte, wissen wir nicht.

Gewicht in der Weltwirtschaft

Seit der Oktoberrevolution bildete sich in 23 der weltweit etwa 200 Staaten eine staatssozialistische Produktionsweise, in denen also Produktionsmittel enteignet und in Staatseigentum überführt wurden. 1917 machte die Bevölkerung staatssozialistischer Gesellschaften knapp ein Zehntel der Menschheit aus. In den frühen 1960er Jahren erreichte sie ein Drittel – und damit ihren vorläufigen Höhepunkt. Das wirtschaftliche Gewicht in der Weltwirtschaft ergibt sich grob aus dem Anteil am Weltbruttosozialprodukt. Zwischen 1950 und 1991 hat sich dieser Anteil für die staatssozialistischen Ökonomien erstaunlich wenig geändert: Es blieb bei etwa einem Siebtel. Nur zweimal in der Periode des »Kalten Krieges« erreichte der staatssozialistische Anteil am modernen kapitalistischen Weltsystem einen historischen Höchststand von sogar 16,5 Prozent: 1958 und 1986.

Aus den Bevölkerungszahlen und dem Bruttosozialprodukt ergibt sich das BIP pro Kopf, ein grobes Maß für die Arbeitsproduktivität. Die Periode des Kalten Krieges war geprägt von einem langsamen Wachstum des BIP pro Kopf in den Mitgliedsstaaten des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). 1950 erreichten sie gut 90 Prozent des weltweiten Durchschnitts, lagen also in der unteren Hälfe der globalen Semi-Peripherie. 1961 erreichten sie das weltweite Mittel. 1975 wurde der Weltdurchschnitt um 10 Prozent überschritten. Im Jahr 1989 war man auf den Durchschnitt zurückgefallen. Das war der Zeitpunkt, an dem der Ostblock sich auflöste. Über den Zeitraum seiner Existenz hat weder der RGW insgesamt noch eines seiner Mitgliedsländer die Marke von 200 Prozent des weltweiten Mittels überschreiten können. Erst damit wäre man ins Herz der Weltökonomie vorgestoßen.

Antikoloniale Kämpfe

In scharfem Gegensatz zur Sowjetunion und den Mitgliedsstaaten des RGW unterstützte Jugoslawien offen die früheren Kolonien und nunmehr unabhängigen 29 Mitgliedsstaaten der Bandung Konferenz 1955. Fünf Jahre später wurde in Moskau eine internationale Konferenz abgehalten, die der Suche nach globalen Strategien für weltweiten Sozialismus gewidmet war.* Erstmals wurden hier von der sowjetischen Führung anti-koloniale Kämpfe als wahrhaft progressive Form politischer Aktion akzeptiert. Anti-koloniale Kämpfe und neuerdings unabhängige Gesellschaften wurden als fruchtbarer Boden für die Überwindung des Kapitalismus und den Aufbau des Sozialismus angesehen.

Die Öffnung hin zur »Dritten Welt« führte auch zu einem signifikanten Anstieg des Interesses seitens europäischer und eurasischer Staaten und deren ideologischer, geheimdienstlicher, militärischer und Planungsapparate an den Kämpfen in geographisch entlegenen Gebieten in Afrika und Asien. Die antikolonialen Befreiungskämpfe waren eine Dimension des Kalten Krieges.

Gleichzeitig trat auf derselben Moskauer Konferenz das chinesisch-sowjetisches Zerwürfnis zutage. In der Folge kam es zu einer ideologischen, geheimdienstlichen, militärischen Konfrontation zwischen den beiden mächtigsten staatssozialistischen Staaten. Das Zerwürfnis führte zu strukturellen Spannungen und Widersprüchen bezüglich der globalen Position der staatssozialistischen Gesellschaften. Aus Sicht des globalen Kapitals wurden die staatssozialistischen Gesellschaften und seine mächtigsten imperialen Strukturen weiter als zusammenhängender Block angesehen. Dabei beendete das Jahr 1960 die bisherige überstaatliche Kooperation. Die beiden staatssozialistischen Gesellschaften mit den größten staatlichen Kapazitäten standen sich und den jeweils nächsten Verbündeten von nun an feindlich gegenüber. Es folgte eine enorme Verschwendung von Ressourcen für ideologisches, geheimdienstliches, militärisches Gerangel. Tragisch war, dass China s Großer Sprung nach vorn, nicht zuletzt Reaktion auf das abrupte Ende der Freundschaft und Zusammenarbeit mit der UdSSR, im Land zu großflächigem Hunger mit genozidalen Ausmaßen führte.

Von der Stagnation zur Bedeutungslosigkeit

Im »Kalten Krieg« erreichten die Sowjetunion und ihre Verbündeten global ein militärstrategisches Gleichgewicht mit dem Westen. Der militärischen Parität stand ein ökonomisches Ungleichgewicht gegenüber. Der »Kalte Krieg« war für die staatssozialistische Seite dieser Ungleichung eine unverhältnismäßig größere Last. Diese Last führte zum Kollaps der geopolitischen Position der Sowjetunion und letztlich zum Ende des Staatssozialismus in der UdSSR und ihrer Verbündeten. Die RGW-Staaten erreichten den Höhepunkt ihres ökonomischen Gewichts mit 11,3 % des Weltprodukts im Jahr 1964. Es folgte ein zunächst milder Rückgang und dann ein drastischer Absturz 1978. Zum Ende des Ostblocks machten die RGW-Staaten 8,6 Prozent der Weltproduktion aus.

Die kulturellen Eliten der staatssozialistischen Gesellschaften in Europa und Nord-Eurasien entschieden sich, alle staatssozialistischen Institutionen zur Herstellung von Gleichheit und Gleichberechtigung aufzugeben, in der Hoffnung auf einen berechenbaren und demokratischen sozialen Frieden auf der Grundlage eines steilen ökonomischen Aufschwungs. Es war ein Teufelspakt, der fehlgeschlagen ist. Die Auflösung des Ostblocks und die Einführung verfassungsmäßig verankerter privater Akkumulation von Kapital und Ausbeutung stoppten den ökonomischen Absturz nicht. Die ökonomischen Anteile der RGW-Nachfolgestaaten am Bruttoweltprodukt fielen 1999 auf zusammen 5,1 Prozent – weniger als die Hälfte des Wertes von 1964. Seitdem liegen sie zwischen 5,3 und 6,3 Prozent. Der Kollaps führte zu einem unmittelbaren Sinken des Lebensstandards. Die Gruppe erreichte den absoluten Tiefpunkt mit 82 Prozent des weltweiten durchschnittlichen BIPs pro Kopf im Jahr 1997. Seitdem  sehen die ehemaligen RGW-Staaten ein Wachstum, das etwas steiler ausfällt als zuvor. Entsprechend überstieg das pro-Kopf-BIP der Gruppe im Durchschnitt 124 Prozent des weltweiten mittleren Pro-Kopf-BIPs. Wenn der bisherige Verlauf anhält, werden die ehemaligen RGW-Staaten ungefähr im Jahr 2030 die wirtschaftliche Position erreichen, die sie ohne den post-staatssozialistischen Umbruch innegehabt hätten. Damit würde ein halbes Jahrhundert post-staatssozialistischer Übergangskrise ihr Ende finden.

Das ökonomische Gewicht der UdSSR zwischen 1950 und der Auflösung 1990 erreichte sein Maximum mit 8,4 Prozent des Weltbruttosozialprodukts im Jahr 1964. 1991 fiel das ökonomische Gewicht der UdSSR auf weniger als sechs Prozent. Anschließend sehen wir eine scharfen Abfall auf weniger als drei Prozent im Jahr 1998, gefolgt von einem langsamen Anstieg auf Werte zwischen 3,5 und vier Prozent.

Chinas Aufstieg im Weltsystem

Geographisch gesprochen ist 1989/90 der Staatssozialismus aus Nord-Eurasien, Europa und Afrika verschwunden. Das globale Zentrum des Staatssozialismus ist nach Osten verschoben. Heute finden wir es vor allem in den östlichen und südöstlichen Teilen Asiens, und in einigen geographisch isolierten Enklaven in der Karibik. Die geokulturellen Eigenheiten, die die verbliebenen staatssozialistischen Gesellschaften in Ost- und Südost-Asien kennzeichnen, sind für den Erhalt des staatssozialistischen Charakters ihrer Gesellschaften eindeutig zuträglicher, als das bei ihren Entsprechungen in Europa und Nord-Eurasien der Fall war. Letztere waren scheinbar wesentlich anfälliger für antikommunistische, antisozialistische Ideen, seien sie liberal, eurozentristisch, nationalistisch, rassistisch oder ausgewachsen faschistisch.

Chinas Geschichte bildet einen bemerkenswerten Gegenpol zum Ungemach der ehemaligen RGW-Staaten. Von den späten 1950ern bis in die späten 1970er lag das Land bei 3,4 bis 5,6 Prozent der Weltwirtschaft, hatte mit einer Hungersnot und chaotischer politischer Gewalt zu kämpfen. Infolge weitreichender innenpolitischer Reformen wuchs das Gewicht Chinas an der Weltwirtschaft von etwa vier Prozent im Jahr 1976 auf über 16 Prozent in den 2020er Jahren. Beispiellos ist dabei nicht so sehr Chinas Anteil an der Weltwirtschaft an sich – schließlich kontrollierte China 1820 fast ein Drittel der Weltproduktion. Es geht darum, wie steil Chinas Aufstieg zu globalem Einfluss ausgefallen ist.

Weil die sowjet-zentrierten europäischen und nord-eurasischen Teile des staatssozialistischen Blocks zum kapitalistischen Mainstream zurückkehrten, fiel der globale Anteil der verbleibenden staatssozialistischen Ökonomien am Welt-BIP 1990 auf ein Tief von sieben Prozent. Der Gesamtanteil derjenigen Staaten, die nach 1990 staatssozialistisch geblieben sind, hat im Jahr 2020 den früheren Höchststand überschritten und liegt derzeit bei 17,4 bis 17,5 Prozent.

Im Gegensatz zum verbreiteten westlichen Mainstream-Jargon sind weder Staatssozialismus noch Sozialismus an sich aus dem kapitalistischen Weltsystem beseitigt worden. Nach anfänglichem Rückgang in Folge des Verlusts der europäischen und nord-eurasischen Mitstreiter ist die Gruppe verbleibender staatssozialistischer Staaten im Aufwind und hat die vormaligen Spitzen ökonomischer Leistungsfähigkeit bereits hinter sich gelassen. Und der ökonomische Aufstieg resultiert ausschließlich aus einem raschen Wachstum innerhalb dieser Staaten. In den letzten 50 Jahren ist kein Land zur Gruppe der staatssozialistischen Systeme hinzugestoßen.

Keine Garantie für Fortschritt

Sowohl die Periode des Kalten Krieges als auch die Ära nach 1989 zeigen große Unterschiede zwischen den staatssozialistischen Gesellschaften. Der Untergang von staatssozialistischen Gesellschaften passt nicht zu den Ideen eines historisch gerechtfertigten Optimismus, wonach Verbesserungen der menschlichen Lebensbedingungen unumkehrbar und die Ablösung der kapitalistischen Wirtschaftsweise durch eine staatssozialistische unwiderruflich wären. Die intellektuelle und politische Herausforderung besteht darin, neue Wege zu finden, ohne von einer Unumkehrbarkeit der institutionellen Arrangements auszugehen, die wir für fortschrittlich halten.

József Böröcz ist emeritierter Professor der Soziologie der Rutgers State University of New Jersey

* Erklärung von 81 Kommunistischen und Arbeiterparteien. https://www.marxists.org/history/international/comintern/sino-soviet-split/other/1960statement.htm