Gerald Oberansmayr. Lunapark21 – Heft 21
„Das ist eine EU der Banken und Konzerne, die sich in Wahrheit gegen die Arbeitnehmer richtet“[1], empörte sich Mitte 2012 der Chef des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, Erich Foglar. Man könnte ihn natürlich fragen, warum es so lange dauerte, bis er zu dieser Erkenntnis gelangte. Denn die harten Zahlen der Verteilungsstatistik sprechen schon seit langem eine klare Sprache.
Während in Österreich bis Mitte der 90er Jahre die Löhne zumindest einigermaßen mit der Wirtschaftsleistung Schritt halten konnten, findet seit dem EU-Beitritt des Landes eine völlige Entkoppelung statt. Die Lohnquote, also der Anteil der abhängig Beschäftigten an der Wertschöpfung, ist seither um über 5 Prozent gesunken.[2] Die Netto-Reallöhne je Lohnabhängigen liegen 2011 um 1,5 Prozent unter dem Niveau von 1994. Im selben Zeitraum ist das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Er–werbstätigen um 22,6 Prozent gestiegen.(siehe Grafik). Es lohnt sich nachzurechnen, was das für die Einkommen der Unselbständigen insgesamt bedeutet, indem man die wirkliche Entwicklung der Lohnsumme mit jener vergleicht, die sich ergäben hätte, wäre die Lohnquote – also die Verteilungsrelation zwischen Arbeit und Kapital – seit 1995 konstant geblieben. Das Ergebnis ist erstaunlich und offenbart einen der bestverhüllten Raubzüge der jüngeren österreichischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte: In Summe wurden durch das Absinken der Lohnquote den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zwischen 1995 und 2011 brutto rd. 119 Milliarden Euro vorenthalten. Das entspricht immerhin einem halben Jahres-BIP (gemessen am Durchschnitt dieser Jahre). 69 Milliarden fehlen direkt in den Brieftaschen der abhängig Beschäftigten, 20 Milliarden entgingen dem Staat an Lohnsteuer, 31 Milliarden an Sozialversicherungsabgaben. Die Austrocknung der sozialen Kassen – man bedenke das Gezeter um die angebliche Unfinanzierbarkeit von Pensionen und Gesundheitsleistungen – resultiert nicht zuletzt aus dieser rasanten Umverteilung von Arbeit zu Kapital.
Absturz der unteren Lohnabhängigen-Einkommen
Der Einkommensbericht 2012 des Rechnungshofes[3] verdeutlicht, dass vor allem die unteren Arbeitnehmergruppen massiv an Kaufkraft verloren haben. Die Lohnabhängigen haben zwischen 1998 und 2011 im Durchschnitt inflationsbereinigt 12 Prozent, das unterste Zehntel der Beschäftigten sogar 40 Prozent, verloren. Darin spiegelt sich auch die enorme Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse wider. Bei den Angestellten stagnierten im Durchschnitt die Einkommen im Zeitraum 1998 bis 2011, im untersten Zehntel sanken sie um 8 Prozent. Ernüchternd auch die enorme Kluft zwischen Männer- und Fraueneinkommen. Nach wie vor verdienen Frauen 40 Prozent weniger als Männer. Auch wenn man die überproportional hohe Teilzeitbeschäftigung von Frauen herausrechnet, bleibt noch ein Unterschied von 20 Prozent. Die Zahl der atypisch Beschäftigten (Teilzeit, Geringfügigkeit, Leih- und Zeitarbeit) liegt 2011 bereits bei über 1,5 Millionen; damit beträgt ihr Anteil 39 Prozent aller unselbständig Erwerbstätigen. Bei den Frauen arbeiten bereits 59 Prozent atypisch, bei den Männern sind es 22 Prozent. 86 Prozent der über 800000 Teilzeit-Arbeitenden sind weiblich. Nicht nur die Gesamteinkommen von atypisch Beschäftigten liegen unter denen von Normalarbeitsverhältnissen, auch die Stundenlöhne von „Atypischen“ sind 27 Prozent niedriger.
Kapitalgesellschaften und Aktionäre verdienen prächtig
Auch eine Aufschlüsselung der Gewinneinkommen lohnt sich. Nominell sind zwischen 1995 und 2011 die Betriebsüberschüsse und Selbständigen-Einkünfte um 98 Prozent gestiegen. Sie haben sich verdoppelt. Diese Steigerung ist deutlich größer als die des BIP (plus 72%) und noch viel deutlicher als das nominelle Wachstum der Lohn- und Gehaltssumme (plus 58%). Die Betriebsüberschüsse der Kapitalgesellschaft wuchsen um 113 Prozent, die von ihnen ausgeschütteten Dividenden gar um 198 Prozent (im Vorkrisenjahr 2007 lagen sie sogar um 271 Prozent über dem Stand von 1995). Noch kräftiger klingelten die Kassen der Aktionäre bei den an der Wiener Börse notierten Unternehmen (= die ATX-Unternehmen). Deren Dividendeneinkünfte kletterten von 2002 bis 2011 um 419 Prozent nach oben; den höchsten Wert hatten sie im Jahr 2008 erreicht, als sie ein Plus von 548 Prozent verzeichneten, als ihr Wert sich also seit 2002 mehr als verfünffacht hatte.[4]
Dieser Geldregen für die Aktionäre fußt auf einer aberwitzigen Dividendenpolitik der ATX-Konzerne. So wurden im Jahr 2011 85 Prozent der von den Unternehmen erwirtschafteten Jahresüberschüsse umgehend an die Aktionäre bzw. die Muttergesellschaften weitergereicht, entsprechend verblieben nur 15 Prozent der Gewinne im Unternehmen. Besonders aufreizend mästen die (teil-)privatisierte Telekom und Post AG ihre Aktionäre: Die Telekom Austria schüttete im Jahr 2010 das fast 3,5-fache des Jahresüberschusses an die Aktionäre aus, im Jahr 2011 das 1,7-fache. Auch die Post AG lässt ihre Aktionäre leben. Während ein Postamt nach dem anderen zusperrt wird und im letzten Jahrzehnt jeder dritte Postler „abgebaut“ wurde, genehmigte man in den Jahren 2009 und 2010 Ausschüttungen in der Höhe von 141 Prozent bzw. 127 Prozent des Jahresüberschusses. Seither stabilisieren sich die Ausschüttungen bei immer noch deutlich über 90 Prozent des erwirtschafteten Gewinns. Postvorstandschef Pölzl bekam dafür 2012 die Auszeichnung „Börsianer des Jahres“ verliehen.
ÖGB-Präsident unterschreibt für „Lohnzurückhaltung“
Dass mit dem EU-Beitritt Mitte der 90er Jahre die Verteilungsverhältnisse derart dramatisch zugunsten der Kapitalseite ins Rutschen gekommen sind, hat sicherlich mehrere Gründe. So ist die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften durch die Einbettung in das EU-Binnenmarkt- bzw. Währungsregime deutlich geschwächt worden. Vor allem die weitgehende Zerschlagung der verstaatlichten Industrie und die teilweise Privatisierung von öffentlichen Infrastrukturen, verbunden mit Liberalisierung und Deregulierung, haben den Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrades beschleunigt. Andererseits gilt: Halb zog er ihn, halb sank er hin. Die ÖGB-Führung hat sich – ähnlich dem DGB in Deutschland – durchaus bewusst auf die Kollaboration mit dem exportorientierten Großkapital eingelassen. Mit „Lohnzurückhaltung“ und „sozialem Frieden“ sollte der Exportmotor zum Brummen gebracht und Beschäftigung gesichert werden. Das kam auch in der Unterschrift des damaligen ÖGB- und EGB-Präsidenten Fritz Verzetnitsch unter einen Zwischenbericht zur EU-Lissabon-Strategie zum Ausdruck, in dem die Gewerkschaften zur „Lohnzurückhaltung“ aufgerufen wurden.[5]
Diese österreichische Variante der „Agenda 2010“ erfolgte zwar nicht ganz so dramatisch wie in Deutschland, aber mit derselben Stoßrichtung: Während bis 1995 das Wachstum der verschiedenen Komponenten des BIP – Konsum, Investitionen, Exporte, Importe – einigermaßen im Gleichklang erfolgte, ändert sich das Bild seit Mitte der 90er Jahre grundlegend: Der Massenkonsum fiel zurück, auch die (v.a. öffentlichen) Investitionen wuchsen deutlich weniger als das BIP, aber zugleich schnellte der Export wie eine Rakete nach oben. Die entsprechenden Zahlen (nominell) für den Zeitraum 1994-2008 lauten: Konsum plus 58 Prozent, Bruttoinvestitionen plus 56 Prozent; Exporte: plus 200 Prozent. Importe immer noch plus 160 Prozent. Die Außenhandelsbilanz drehte von einem leichten Minus Mitte der 90er Jahr in ein sattes Plus von 16 Milliarden Euro 2008. Im Windschatten des Exportweltmeisters Deutschland hat sich Österreich „erfolgreich“ am europäischen Wirtschaftskrieg beteiligt, während im Zuge dessen nach Einführung der Währungsunion jene Länder Südeuropas niederkonkurriert wurden, in denen die Gewerkschaften nicht derart Gewehr bei Fuß mit ihren Kapital- und Machteliten standen wie in Berlin und Wien.
Das belegen auch die Zahlen der EU-Kommission[6]: Zwischen 2001 und 2007 sank die Lohnquote in Deutschland um fast 9 Prozent, in Österreich gab es mit einem Minus von mehr als 5 Prozent den zweitstärksten Lohnquoten-Einbruch. Im Euro-Raum blieb sie, wenn Deutschland ausgeklammert wird, mit minus 1 Prozent weitgehend konstant. Diese unterschiedlichen Verteilungspolitiken haben maßgeblich zu den handelspolitischen Ungleichgewichten im Euro-Raum beigetragen, die ihrerseits die Wirtschaftskrise und Überschuldung von Ländern wie Griechenland, Portugal und Spanien anheizten. Die Politik der „Lohnzurückhaltung“, wie sie der ÖGB seit dem EU-Beitritt praktizierte, hat nicht nur die Geldtaschen der Arbeitskräfte in Österreich erleichtert. Die entsprach vor allem einem Frontalangriff auf die Lohnabhängigen und ihre Gewerkschaften in peripheren EU-Staaten. Diese sehen sich nun – nach der Niederlage im europäischen Wirtschaftskrieg – im Würgegriff der „Troika“ einem bespiellosen Angriff auf ihre sozialen Rechte ausgesetzt.
Sozialstaat als „Auslaufmodell“
Die eingangs zitierte Aussage von ÖGB-Präsident Foglar zeigt, dass manchem Spitzengewerkschafter zu dämmern beginnt, dass die neoliberalen EU-Eliten es ernst meinen, wenn in ihrem Namen EZB-Chef Draghi in einem Interview mit dem Wallstreet-Journal dekredierte: „Der europäische Sozialstaat ist ein Auslaufmodell. […] Das Sozialstaatsmodell hat ausgedient“.[7] Sie bemühen sich mittlerweile nicht mehr sonderlich, ihre kapitalfreundliche Agenda zu tarnen. Eine unlängst veröffentlichte Studie der Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen der europäischen Kommission fordert offen die Senkung gesetzlicher Mindestlöhne, die Kürzung von Arbeitslosenunterstützungen und „weniger zentralisierte“ Lohnverhandlungssysteme mit dem erklärten Ziel der „Verringerung der gewerkschaftlichen Verhandlungsmacht“.[8] Selbst der ÖGB empört sich auf seiner Web-Page über dieses „Handbuch des Neoliberalismus“.[9] Fragt sich nur, warum dessen Repräsentanten im Sommer 2012 dem Fiskalpakt zugestimmt haben. Dieser gibt der EU-Kommission das Machtinstrument in die Hand, diese arbeitnehmerfeindliche Politik noch effektiver zu exekutieren.
Gerald Oberansmayr lebt in Linz, Österreich. Er ist Buchautor und Redakteur der im Jahr mit 10 Ausgaben erscheinenden Zeitschrift Guernica, herausgegeben von der Werkstatt Frieden und Solidarität (www.friwe.at)
Anmerkungen:
[1] zit. nach OÖ-Nachrichten, 31.12.2012
[2] alle Zahlen, für die keine eigene Quelle angegeben wird, stammen von der Statistik Austria, www.statistik.at
[3] Bericht des Rechnungshofes, Reihe Einkommen 2012/1, 19.12.2012, Wien
[4] Österreichische Gesellschaft für Politikberatung und Politikentwicklung, Wichtige Kennzahlen börsenotierter Unternehmen in Österreich, 2002 – 2010, Wien, Oktober 2011
[5] Wim Kok, Zwischenbericht zur Lissabon-Strategie der EU, November 2004
[6] Sh. http://epp.eurostat.ec.europa.eu/
[7] Wallstreet-Journal, 23.02.2012
[8] EU-Kommission Labour Market Developments in Europe 2012, in: European Economy 5/2012
[9] Siehe www.oegb-eu.at