Volker Lösch (LP21-Autor)
Vor vier Wochen haben wir am Düsseldorfer Schauspielhaus wieder zu proben begonnen. Das rasche Hochfahren des Betriebs kam unerwartet, schon finden Überbietungswettbewerbe statt, welche Institution sich als erste wieder vor Publikum zeigt. Es gelten zwar wie überall Abstands- und andere Regelungen, das Spielen und Schreiben und Inszenieren hat sich aber wenig verändert.
Die Theaterszene, vor allem die freie, ist von Spiel-und Probenausfällen hart getroffen. Nur wenige Künstlerinnen und Künstler verfügen über finanzielle Rücklagen, Projekte wurden verschoben oder ganz abgesagt. Die staatlichen Hilfen fallen je nach Bundesland sehr unterschiedlich aus. Viele ringen um ihre Existenz.
In allen Ensembles, Gruppierungen und vor allem im Netz wird heftig diskutiert. Waren die Maßnahmen in ihrer Radikalität angemessen? Hätte man es weniger rigoros angehen sollen? Viele meiner Kolleginnen und Kollegen arbeiten nicht in sicheren Staatstheater-Zusammenhängen, wurden für Ausfälle kaum bezahlt, sind Freiberufler und blicken in eine eher ungewisse Zukunft. Dennoch ist der Tenor zu den Corona-Maßnahmen fast einhellig.
Mit Verwunderung blickt man auf die Vehemenz der Proteste dagegen und deren Argumentationen. Es ist kein Zufall, dass sich diesen Veranstaltungen kaum Leute aus der Kunstszene angeschlossen haben. Die Kritik an der zu späten Reaktion auf Corona, der einseitigen Meinungsbildung der Regierung, an fragwürdigen Statistiken und Expertisen, an zu massiven Einschränkungen wird von vielen geteilt, auch vor dem Hintergrund persönlicher Entbehrungen. Größtenteils Kopfschütteln löst jedoch all das aus, was darüber hinaus gesagt, geschrieben und unternommen wird.
In Berlin stoßen zu sogenannten „Hygiene-Demos“ sehr schnell Rechtsradikale und Nazis hinzu. Eine Abgrenzung dagegen findet nicht statt. Stattdessen liest man von Personen und Mächten, die angeblich Komplotte gegen die Menschheit schmieden, man hört das Geraune von Verboten, seine Meinung äußern zu dürfen – während es gleichzeitig in aller Verwirrtheit getan wird. Man vernimmt Warnungen vor der Diktatur, der DDR und der Rückkehr zur Monarchie oder allem gleichzeitig. In Stuttgart konstruiert eine Sprecherin eine Analogie von 1933 zu heute und verweist unter Applaus auf einen neuen Holocaust – zu vernichtende Opfer wären dann wir alle.
Nach vielen unserer Proben haben wir über all das diskutiert. Die Meinung, dass man staatlicherseits einiges hätte besser, transparenter und demokratischer machen können, überwiegt. Aber niemand stellt die sechsstellige, weltweite Corona -Todesrate in Frage. Niemand stellt das Corona-Virus dem Grippe-Virus gleich, und niemand verweist darauf, dass durch Corona größtenteils alte Menschen sterben, um den Lockdown, der allen galt, zu kritisieren.
Was hieße das auch im Umkehrschluss? Dass alle Menschen doch nicht gleich sind? Dass die Anstrengung einer Mehrheit, eine Minderheit zu schützen, nichts wert war? Dass es in Ordnung ist, die Armen und sozial Benachteiligten dem Virus noch schutzloser auszusetzen, als es sowieso schon geschah?
Spätestens jetzt taucht das „Schweden“- Argument auf. Seht her, die waren cool, die habens anders hinbekommen. Wirklich? Rechnet man die Todeszahlen in Schweden auf unsere Verhältnisse hoch, käme man auf fast 40.000 Tote in Deutschland. Ob es dann noch diese Wucht der Proteste gäbe?
Jeder von uns im Theater weiß, wie schnell Viren, Bakterien und alle möglichen Körperflüssigkeiten beim Singen, beim Musizieren, beim Spielen, beim Sprechen, beim Schreien, beim Tanzen, beim gemeinsamen Schwitzen, kollektiven Aufeinanderhängen und chorischen Spucken von Mensch zu Mensch wandern. Es genügt eine Person, um sehr viele schnell in Gefahr zu bringen – wie gerade in Göttingen geschehen. Warum sollten wir es mit den Lockerungen also rascher angehen, als es jetzt geschieht?
Wir Theatermachenden reden häufig von Empathie und Verantwortung. Unsere Stücke haben oft einen moralischen und politischen Anspruch. Wir kümmern uns in unseren Arbeiten um sozial Benachteiligte und engagieren uns für Schwache und Unterdrückte. Vielleicht liegt es daran, dass es vielen von uns schwerfällt, sich einseitig auf Seiten der radikalen Corona-Maßnahmen-Kritisierer zu stellen.
Wir werden unsere kritischen Energien nun Wichtigerem zuwenden. Das Zentrum künstlerischen Schaffens ist: die Anliegen deren zu vertreten, die keine Stimme haben. Und die werden nach Corona mehr sein. Die Krise hat bewiesen, dass viel Veränderung möglich ist, wenn man nur will. Kämpfen wir dafür, dass das weiterhin geschieht, auf allen Gebieten. Dass kein System wieder hochgefahren wird, welches in Gänze bisher versagt hat. Nach der Krise ist – wie sollte es anders sein – vor der Krise. Und die wird gewaltig sein.
Volker Lösch gilt als einer der wichtigsten politischen Theatermacher der Gegenwart. Zuletzt inszenierte er Beethovens „Fidelio“ am Theater Bonn, verknüpft mit aktuellen Geschichten von politischen Gefangenen in der Türkei und deren Angehörigen. In seiner aktuellen Arbeit, „Volksfeind for Future“ am Düsseldorfer Schauspielhaus, findet mit dem Autor Lothar Kittstein eine Überschreibung von Ibsens „Volksfeind“ statt, unter Hinzufügung von bearbeiteten Interviews mit jungen Klimaaktiven aus Düsseldorf.