Landnahme (L)

historisch-kritisches wörterbuch des marxismus

Das Historisch-Kritische Wörterbuch des Marxismus erschien mit seinem ersten Band 1994, begründet und herausgegeben vom Philosophen Wolfgang Fritz Haug. Seitdem haben mehr als 500 Wisenschatler:innen Einträge verfasst, die in der Denktradition von Marx und Engels stehen. George Labica hat mit „Abbau des Staates“ begonnen und Detlev Hensche hat mit dem Stichwort „Mitbestimmung“ das bisher letzte verfasst. Lunapark21 präsentiert in jeder Ausgabe einen thematisch passenden Eintrag aus dem Wörterbuch.

Landnahme (L)

Landnahme ist nach Finanzkrise, Kurzarbeit, Mensch-Naturverhältnis, Kubanische Revolution und Misogynie das sechste ausgewählte Stichwort aus der alphabetischen Stichwörtersammlung im Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus (HKWM), das wir hier auszugsweise zitieren. Dieser wiedergegebene Ausschnitt aus dem HKWM enthält mehr als man bei Eingabe des Links: http://www.inkrit.de/e_inkritpedia/e_maincode/doku.php?id=l:landnahme zum Stichwort Landnahme findet, aber wesentlich weniger als im Original. Das ist in sechs Abschnitte und einen Exkurs gegliedert und mit einer umfangreichen Bibliographie – beginnend mit Elmar Altvater, Der große Krach oder die Jahrhundertkrise von Wirtschaft und Finanzen, von Politik und Natur, Münster 2010 bis zu P. Windolf, „Was ist Finanzmarkt-Kapitalismus?“, in: ders. (Hg.), Finanzmark-Kapitalismus. Analysen zum Wandel des von Produktionsregimen, Sonderheft 54 der KzfSS, 2005, 20-57. – versehen. Es sei wiederum auf das Stichwort im Berliner Institut für kritische Theorie (InkriT) verwiesen. Der Bestellvorgang wird auf dessen Website erläutert. (JHS)

E: land seizure, land grab. – F: accaparement des terres. – R: priobretenie zemli. – S: acaparamiento de tierras. – von Klaus Dörre, in: HKWM 8/I 2012, Spalten 664–688

L ist eine Metapher für die expansive Dynamik des Kapitalismus. Als sozialwissenschaftlicher Term besagt das L-Theorem, dass kapitalistische Gesellschaften sich nicht aus sich selbst heraus reproduzieren können, weshalb sie auf die fortwährende Okkupation eines nichtkapitalistischen Anderen angewiesen sind. Jeder Wachstumsschub kann als eine Phase je spezifischer L durch den expandierenden industriell-marktwirtschaftlichen Teil der Volks- und Weltwirtschaft beschrieben werden (Lutz 1984). Mit Begriffen wie Inwertsetzung, reelle Subsumtion, Kolonialisierung und Imperialismus verwandt, geht es beim L-Theorem immer auch um die Nicht-Linearität und Begrenztheit kapitalistischer Entwicklung. Ohne die Inbesitznahme und ggf. die »aktive Herstellung« (Harvey 2005) eines nichtkapitalistischen Anderen ist die Dynamisierung und Selbststabilisierung des Kapitalismus letztendlich nicht möglich.

Die Geschichte der L-Metapher lässt sich bis ins Alte Testament zurückverfolgen. Als biblisches Motiv thematisiert der Begriff den Auszug der Stämme Israels aus Ägypten und die L in Kanaan. Diese Wüstenwanderung und die anschließende Niederlassung werden von Archäologen und Historikern wahlweise als Eroberung, Revolte oder als migrationsgetriebene Penetration gedeutet. Im Sprachgebrauch von Historikern bezeichnet L die Inbesitznahme oder Besiedlung eines Territoriums durch Völker oder soziale Gruppen. In engeren, aktuell genutzten Fassungen (land-grabbing, Landraub) bezeichnet die Kategorie Praktiken des globalen Agrobusiness. Unternehmen und Staaten kaufen, teilweise gemeinsam mit privaten Investmentfonds, in großem Stil landwirtschaftliche Flächen auf, um Nahrungsmittel oder Bio-Treibstoff herzustellen. Eine Folge ist die Verdrängung kleinbäuerlicher Nutzungsformen zugunsten agroindustrieller Monokulturen. In diesen mehrdeutigen Begriffsverwendun gen klingt bereits ein Grundmotiv unterschiedlicher L-Konzepte an. Stets geht es um Expansion, um Okkupation und Inbesitznahme von „Land“, das allerdings nicht mit Grund und Boden identisch sein muss. Eine andere Diskussionsrichtung knüpft an Lenins Konzeption der Entwicklung des Kapitalismus in der Landwirtschaft und seine Unterscheidung des preußischen und amerikanischen Weges an, die beide mit Formen der L verbunden sind. Von land-grabbing im engeren Sinne und vom Diskurs über die Genesis und Entwicklung des Agrarkapitalismus muss eine Verwendung innerhalb des Marxismus und der Sozialwissenschaften abgegrenzt werden, die L als Begriff für die Analyse kapitalistischer Entwicklungsweisen nutzt. In diesem Kontext eröffnet das L-Theorem eine spezifische analytische Perspektive, welche die Austauschbeziehungen zwischen kapitalistischen und nichtkapitalistischen Territorien, Produktions- und Lebensweisen, Klassen und Schichten thematisiert. Außer von Marx ist da s L-Theorem von solch unterschiedlichen Denkerinnen und Denkern wie Rosa Luxemburg und Hannah Arendt, dem Industriesoziologen Burkart Lutz oder dem marxistischen Geographen David Harvey bearbeitet worden. In jüngster Zeit wird das Konzept im politikwissenschaftlichen Kontext (Streeck 2009), von heterodoxen Ökonomen (Bellofiore 2009, Special Section 2010) und Soziologen (Dörre/ Lessenich/Rosa 2009) sowie seitens der feministischen politischen Ökonomie (u. a. Madörin 2007) aufgegriffen, um die krisenhaften Metamorphosen des Kapitalismus seit den 1970er Jahren auch zeitdiagnostisch einzufangen. Alle Genannten nehmen je spezifische Entwicklungsphasen des Kapitalismus deutend in den Blick. […]

Globaler Enteignungskapitalismus. Harvey hat in mehreren Arbeiten (2006 u. 2010) das L-Theorem reaktualisiert und für eine finanzkapitalistische Expansion seit Mitte der 70er Jahre fruchtbar gemacht. Sein Beitrag lässt sich in fünf zentralen Gedanken zusammenfassen: Harvey steht für eine aktualisierte Interpretation der „Akkumulation durch Enteignung“; – er betont, dass der Prozess der ursprünglichen Akkumulation bis in die Gegenwart hinein unabgeschlossen ist; – er sieht eine Kontinuität der gewaltsamen Enteignung von Vermögenstiteln und deren Einverleibung in den Kapitalkreislauf; – er nennt eine Vielzahl an Beispielen, welche die nachholenden L.n in China und anderen Schwellenländern ebenso umfasst wie die Enteignung von Eigenheimbesitzern während der US-Subprime-Krise 2007/09. In der Konsequenz bedeutet dies, dass der Kapitalismus in jeder Phase seiner Entwicklung auf zwei grundverschiedenen System der Ausbeutung und der Akkumulation beru he. […] Die Dynamik kapitalistischer Gesellschaften erklärt er mit Marx aus ihrer Fähigkeit, ihre Widersprüche zwar nicht aufzuheben, wohl aber die Formen zu schaffen, „worin sie sich bewegen können“. […] In diesem Zusammenhang plädiert er dafür, alte marxistische Kontroversen über Krisentypen (Überakkumulations-, Unterkonsumtions-, Profit-Klemmen-Theorien) ad acta zu legen. […]

Die finanzkapitalistische Expansion mutiert mehr und mehr zu einer L des Sozialen und der Natur. […] Die dekommodifizierten Sektoren des fordistischen Zyklus werden im Zuge der finanzkapitalistischen L zweiter Ordnung zum Objekt von Kommodifizierungspolitiken. Es handelt sich um die L einer bereits landgenommenen Struktur. […]

Im Unterschied zum Marxschen Ausbeutungskonzept, aber auch zu Harveys Überlegungen, ist es sinnvoll, zwischen Formen kapitalistisch formbestimmter primärer und nicht formationsspezifischer „sekundärer Ausbeutung“ zu unterscheiden. Primäre Ausbeutungsbeziehungen sind in Vertragsbeziehungen eingebettet, die den Äquivalententausch (Arbeitskraft gegen angemessene Belohnung) garantieren sollen – ein Prinzip, das sich nur über komplexe Gerechtigkeitsvorstellungen und Verteilungskonflikte durchsetzen kann. [..] Die Funktionalisierung unbezahlter Reproduktionsarbeit von Frauen oder die Installierung eines entrechteten, transitorischen Status für Migranten sind klassische Fälle für die Wirkung sekundärer Ausbeutungsmechanismen. […]

Mit Hilfe des L-Theorems kann die globale Krise, die 2007 einsetzte, als raum-zeitliche Verdichtung selbsterzeugter finanzkapitalistischer Akkumulation und Reproduktion verstanden werden. Die wechselseitige Aufschaukelung von ökonomisch-sozialen und ökologischen Krisen wird zu einem Grundproblem der dynamischen Selbststabilisierung entwickelter kapitalistischer Gesellschaften im 21 Jh. […] Ob das Prinzip dynamischer Selbststabilisierung schon in naher Zukunft nicht nur auf relative sozioökonomische Barrieren, sondern am Mensch-Natur-Antagonismus letztendlich auf absolute Grenzen stößt, ist eine offene Frage.