Georg Fülberth. Lunapark21 – Heft 27
Die Bundesbank tritt neuerdings für Lohnerhöhungen ein, die über der Rate früherer Jahre liegen. Bundesbankpräsident Weidmann nennt drei Prozent.
Offenbar hat er begriffen, dass die von der EZB betriebene Politik der Geldvermehrung und niedriger Zinsen allein nicht konjunkturbelebend wirkt. Einer Zentralbank, die an Währungsstabilität orientiert ist, kann das nur scheinbar gleichgültig sein. Tatsächlich ist sie aber nicht nur zur Verhinderung übermäßiger Inflation verpflichtet, sondern ebenfalls von Deflation. Auch Letztere gefährdet die Geldwertstabilität, falls man diese nämlich als ein berechenbares Verhältnis einer Währung zu den Gütern, die für sie gekauft werden, auffasst. Außerdem drückt Deflation auf die Investitionsbereitschaft: Wenn ein Unternehmen fürchten muss, dass Kredite, mit deren Hilfe Produktionen aufgenommen werden, nicht bedient werden können, weil die erzeugten Waren zu niedrigeren Preisen, als sie vorher kalkuliert wurden, abgesetzt werden müssen. Und das kaufende Publikum könnte geneigt sein, Anschaffungen immer weiter hinauszuschieben, in der Annahme, sie würden künftig noch viel billiger als heute.
Tatsächlich sind die Löhne 2014 stärker gestiegen als in vielen Jahren zuvor, als hätten die Tarifpartner geahnt, was die Bundesbank vorhat. Oder umgekehrt: Zwar fürchten Unternehmer, Weidmanns Vorstoß sei eine Einmischung in die nächsten Tarifrunden durch Unterstützung der Gewerkschaftsposition, in Wirklichkeit beschreibt er aber nur einen Trend, der bereits dort eingesetzt hat, wo Fachkräftemangel sich anbahnt und/oder die Arbeitsplätze noch einigermaßen sicher sind: in der Metall- und in der Chemieindustrie und in Teilen des Öffentlichen Dienstes.
Jetzt beginnt eine Diskussion auf einem Feld, das zunächst mit Tarifpolitik nicht in Verbindung zu bringen scheint. Es geht um die so genannte Kalte Progression.
Gemeint ist die Möglichkeit, dass bei einer Lohn- oder Gehaltserhöhung die nächste Stufe des Steuertarifs erreicht wird und so die Zuwächse nicht in voller Höhe bei den abhängig Beschäftigten, sondern in der Staatskasse landen. Schlimmer noch: Ist das zwischen Kapital und Arbeit ausgehandelte Plus nur geringfügig, der durch Überschreitung der Progressionsschwelle erreichte Satz aber sehr hoch, können Lohn- und Gehaltsabhängige am Ende sogar mit weniger Geld dastehen als zuvor.
Betroffen, so wird argumentiert, seien vor allem gut bezahlte so genannte Leistungsträger in den Belegschaften.
Dieser Negativ-Effekt kann vermieden werden, wenn die Löhne so stark steigen, dass selbst nach der progressionsbedingten Abschöpfung genügend übrig bleibt. Allerdings könnte dies auf eine Schmälerung der Gewinne hinauslaufen. Deshalb sind die Unternehmerverbände für eine Anhebung der Progressionsschwelle. Dann könnten Lohnerhöhungen niedriger ausfallen, kämen aber den Arbeitern und Angestellten voll zugute.
Offenbar wird diese Argumentation von den Führungen der großen Industriegewerkschaften mitgetragen. Für sie hätte die Beseitigung der kalten Progression den Vorteil, dass ihre Mitglieder Erhöhungen der Reallöhne hätten, ohne dass man sich in eine aufwändige Auseinandersetzung mit den Arbeitgebern begeben müsste. Außerdem bestehe die Gefahr, dass merklich gestiegene Arbeitseinkommen auf die Preise übergewälzt würden, und dies koste Arbeitsplätze.
Dieses letztere Argument trägt nicht sehr weit. Bei noch bestehender deflationärer Tendenz sind empfindliche Preiserhöhungen nicht zu befürchten. Der Export würde dadurch kaum gehemmt. Eine ja letztlich geringfügig bleibende Erhöhung der Lohnstückkosten würde die internationale Stellung der BRD kaum beeinträchtigen.
Kräftige Lohnerhöhung unter Beibehaltung der bisherigen Progression, die sie aber letztlich im Plus belässt, hätte zwei Vorteile: Die Kaufkraft von Arbeitern und Angestellten steigt, und die öffentlichen Hände hätten Mehreinnahmen, die in Ausgaben für nützliche Infrastruktur (darunter im Bildungs- und Gesundheitswesen) umgesetzt werden können. Verständlich, dass die Gewerkschaften Erziehung und Wissenschaft sowie ver.di eher dafür sind, weniger einsichtig, dass die Industriegewerkschaft Metall und die Industriegewerkschaft Bergbau-Chemie-Energie sich sträuben.
Georg Fülberth lebt in Marburg an der Lahn. Er war an der dortigen Universität Professor für Politikwissenschaften. Sein „Seziertisch“ erscheint in Lunapark21 seit der ersten Ausgabe Anfang 2008 (siehe auch Editorial).