Im Bann der Semiperipherie

Polen bemüht sich seit Jahrzehnten, zu den Zentren des kapitalistischen Weltsystems aufzuschließen – mit mäßigem Erfolg
Tomasz Konicz. Lunapark21 – Heft 24

Polen stellt das Paradebeispiel einer Volkswirtschaft der Semiperipherie des kapitalistischen Weltsystems dar. Schon im ausgehenden Mittelalter etablierte sich in der polnischen Adelsrepublik eine auf Rohstoffausfuhren beruhende Wirtschaftsstruktur, bei der die über Danzig abgewickelten Weizenexporte in die Niederlande (das damalige Zentrum des europäischen Weltsystems) eine zentrale Rolle spielten. Sie trugen zu einer Stagnation der wirtschaftlichen wie städtischen Entwicklung bei. Während der Zeit der polnischen Teilungen (1795-1918) befanden sich die Gebiete, die ab 1918 die zweite polnische Republik konstituieren sollten (mit Ausnahme des russischen Teilungsgebiets) in der Peripherie der jeweiligen Imperien (Preußen und Österreich-Ungarn). Folglich bestand das krisengeschüttelte und pauperisierte Zwischenkriegspolen (1918-1939) aus wirtschaftlich disparaten Teilregionen, was die Umsetzung einer kohärenten Modernisierungs- und Entwicklungsstrategie durch die autoritären Zwischenkriegsregime massiv behinderte.

Einen großen Entwicklungssprung erfuhr die „Volksrepublik Polen“ dann im Verlauf der nachholenden staatskapitalistischen Modernisierung während der Ära des autoritären real existierenden Sozialismus (1944-1989). Den ersten enormen Entwicklungsschub brachte der Stalinismus in Polen (bis 1956), der rücksichtslos den landesweiten Aufbau einer Schwerindustrie vorantrieb. Den zweiten Entwicklungssprung sollte die ab 1970 eingeschlagene Strategie der „importierten Modernisierung“ bringen, bei der Kredite wie technisches Know-how (mitunter ganze Autofabriken) im westlichen Zentrum eingekauft wurden, mit dem Ziel, die Volksrepublik zu einem Exporteur hochwertiger Industriegüter zu transformieren. Mit den Einnahmen aus den Exporten sollten die aufgenommenen Kredite beglichen werden. Diese Entwicklungsstrategie scheiterte mit dem Ausbruch der globalen Krisenperiode ab 1973, die den Absatz der polnischen Industrieprodukte auf dem Weltmarkt, wo es Überproduktionskrisen gab, unmöglich machte.

Die schwere Krise, die das hoffnungslos überschuldete Land in den 80er Jahren erfasste, trug nicht nur zur Delegitimierung des politischen und wirtschaftlichen Systems der Volksrepublik Polen bei, sie hat auch den Zerfall des gesamten Ostblocks beschleunigt.

Schocktherapie 1990ff.
Die ab 1989 eingeleitete Systemtransformation machte das krisengeschüttelte Polen zum Objekt einer neoliberalen „Schocktherapie“. Es kam zu dem folgenden berüchtigten Deal zwischen polnischen Eliten und den westlichen Kreditgebern: Im Austausch für einen weitgehenden Schuldenerlass willigte Warschau in eine sofortige Öffnung des Landes für westliches Kapital sowie in eine unverzügliche schockartige Einführung freier Marktgesetze in den meisten Industriezweiten ein. Diese Schocktherapie war mit einer Hyperinflation verbunden, wodurch die Ersparnisse der Bevölkerung vernichtet wurden. Damit wurde in den 1990er Jahren Polens „verlorene Dekade“ eingeleitet: In deren Verlauf wurde die industrielle Basis, die während des real existierenden Sozialismus geschaffen wurde, größtenteils vernichtet.

Die mittelfristigen Folgen dieser extremistisch-neoliberalen Politik müssen als katastrophal bezeichnet werden. Ein Großteil der ehemals staatssozialistischen Betriebe war schlicht außerstande, der westlichen Konkurrenz standzuhalten und ging bankrott. Der enorme Deindustrialisierungsschub, der durch die überstürzte Öffnung der polnischen Märkte ausgelöst wurde, ließ Polens Bruttoinlandsprodukt (BIP) binnen zweier Jahre um nahezu ein Drittel zusammenschrumpfen. Gleichzeitig schnellte die Arbeitslosigkeit, die es vor 1990 praktisch nicht gegeben hatte, auf eine Quote von mehr als 16 Prozent hoch. Erst nach gut einem Jahrzehnt erreichte das polnische Bruttoinlandsprodukt (BIP) wieder den Stand von Anfang 1990. Doch die zweistellige Arbeitslosenquote ist zu einer sozioökonomischen Konstante der Dritten Polnischen Republik geworden – bis zum heutigen Tag.

Die Systemtransformation ging mit einem Prozess massenhafter Verelendung einher. Bis 1994 fielen die Realeinkommen um rund 30 Prozent; nahezu ein Drittel der polnischen Gesellschaft fand sich unterhalb der Armutsgrenze wieder.

Marginalisierte Gewerkschaften
Angesichts dieser gewaltigen sozioökonomischen Umbrüche verwundert es nicht, dass Polens einstmals starke Gewerkschaftsbewegung, die in den 1980er Jahren selbstbewusst die staatssozialistische Nomenklatura herausforderte, sehr schnell das Rückgrat gebrochen wurde: So sank die Anzahl der Streiks in Polen von 7443 in 1993, über 429 in 1994, auf nur noch 42 in 1995. Seitdem sind die Gewerkschaften in Polen nahezu marginalisiert. Das Land der Solidarnosc verfügt inzwischen über eine der europaweit niedrigsten gewerkschaftlichen Organisationsraten. Polen avancierte in den Folgejahren folglich zu einem Experimentierfeld und einer verlängerten Werkbank westlichen – und insbesondere deutschen – Kapitals. Dies ließ die in der Transformationsphase gehegten Hoffnungen auf einen Anschluss an „den Westen“ vollends illusionär werden. Stattdessen fand sich das kapitalistische Polen abermals in einer semiperipheren Stellung wieder, bei der das gesamte Land entlang der Verwertungsinteressen westlicher Kapitalgruppen umgeformt wurde: Einige wenige Filetstücke der polnischen Industrie wurden privatisiert und von westlichen Großkonzernen übernommen. Gleichzeitig ermöglichte es die billige, weitgehend entrechtete und demoralisierte polnische Arbeiterschaft den westlichen Großkonzernen, arbeitsintensive Fertigungsschritte im Rahmen ihrer transnationalen Fertigungsketten nach Polen auszulagern.

Polen wurde im Verlauf einer peripheren Reindustrialisierung zu einem klassischen Billiglohnland zugerichtet, dessen wirtschaftliches Wohlergehen im höchsten Maße von westlichen Konzernen und Kapitalgruppen abhängig ist. Neben einer Vielzahl kleiner polnischer Unternehmen ist Polens Wirtschaftsstruktur durch die Dominanz ausländischen Kapitals in der Exportindustrie geprägt. Das schlägt sich in dem hohen Anteil ausländischer Firmen an den Exporten Polens nieder: 2006 lag dieser bei 60 Prozent. Ein großer Teil dieser Exportgüter wird mittlerweile zwischen Mutter- und Tochterunternehmen großer westlicher Konzerne hin- und hergeschoben. Selbstverständlich ist inzwischen die Bundesrepublik Deutschland – deren Konzerne in vielen Branchen wie dem Fahrzeugbau, dem Zeitungsmarkt oder dem Einzelhandel führende Positionen innehaben – zum mit Abstand wichtigsten Handelspartner Polens aufgestiegen. Rund 25 Prozent des polnischen Außenhandels werden mit dem westlichen Nachbarn abgewickelt.

Dabei wird die periphere Stellung Polens bei einem genaueren Blick auf die Eigentumsverhältnisse deutlich, die dem deutsch-polnischen Außenhandel zugrunde liegen. Dazu führte das Internetportal Infoseite-Polen aus: „Für den polnischen Export nach Deutschland sorgen maßgeblich polnische Filialunternehmen deutscher Konzerne bzw. polnische Betriebe, die gegenüber deutschen Partnern in einer hohen Abhängigkeit stehen.“ Diese periphere Abhängigkeit Polens vom westeuropäischen Zentrum äußert sich auch in dem enormen Leistungsbilanzdefizit (rund 17,3 Milliarden US-Dollar in 2012), das nicht nur durch das polnische Handelsdefizit, sondern auch durch Gewinntransfers polnischer Tochtergesellschaften an ihre westeuropäischen Zentralen verursacht wird. Im März 2011 klagte etwa die polnische Zeitung Rzeczpospolita, dass die Überweisungen von Profiten, die in Polen durch westliche Konzerne erwirtschaftet wurden, mit 1,1 Milliarden Euro inzwischen sehr viel höher ausfallen als das gesamte Handelsdefizit (715 Millionen Euro). Dieser Abfluss von Gewinnen stellt aber ein klares Indiz für die weiterhin bestehende periphere Stellung Polens dar.

EU-Beitritt – mit widersprüchlichen Resultaten
Den jüngsten weitreichenden sozioökonomischen Umbruch erlebte Polen 2004 mit dem Beitritt in die Europäische Union. Erst mit der EU-Osterweiterung konnte die soziale Dauerkrise in Polen tatsächlich etwas entschärft werden. Die dramatisch hohe Arbeitslosigkeit, die zuvor landesweit bei knapp 20 Prozent lag, sank nach dem EU-Beitritt auf dem im September 2008 verzeichneten historischen Tiefstwert von 6,8 Prozent. In einer kurzen Zeitperiode zwischen 2007 und 2010 konnte Polen tatsächlich eine einstellige Arbeitslosenrate verzeichnen. Doch inzwischen liegt die polnische Arbeitslosenquote erneut im zweistelligen Bereich: Für das kommende Jahr 2014 wird mit einer durchschnittlichen Erwerbslosenquote von 13 bis 14 Prozent gerechnet.

Ermöglicht wurde das flüchtige Arbeitsmarktwunder durch eine der größten Migrationswellen in der jüngsten europäischen Sozialgeschichte. Rund zwei Millionen Lohnabhängige verließen Polen ab 2004 auf der Suche nach Verdienstmöglichkeiten in Richtung Britische Inseln, Niederlande und Skandinavien, was maßgeblich zur besagten Entspannung auf dem polnischen Arbeitsmarkt beitrug. Nach dem Krisenausbruch 2008 ging die Zahl der polnischen Arbeitsmigranten zurück, doch inzwischen sind aufgrund der Öffnung der Arbeitsmärkte in Deutschland und Österreich die Emigrationszahlen wieder angestiegen. Rund 2,13 Millionen polnische Lohnabhängige lebten Ende 2012 im europäischen Ausland; allein in Großbritannien waren es 637000, in der BRD sind es rund 500000 polnische Arbeitsmigranten. Die Rücküberweisungen, die dieses Millionenheer an Wanderarbeitern alljährlich gen Polen schickt, bilden einen wichtigen sozialen und ökonomischen Puffer, der in vielen Fällen den kaum vorhandenen Sozialstaat ersetzt und zudem zu einer Stärkung der Binnennachfrage beiträgt. Allein 2011 wurden – offiziellen Zahlen zufolge – rund vier Milliarden Euro auf diese Weise nach Polen überweisen.

Deutsche Löhne 3,4 mal höher
Eine nachhaltige Anhebung des Lohnniveaus in Polen haben diese Migrationswellen aber nicht bewirkt. Die Löhne stiegen zwar im Gefolge des EU-Beitritts rasch an, doch blieben sie im europäischen Vergleich immer noch weit zurück. 2011 etwa betrug der Durchschnittslohn eines polnischen Arbeitnehmers laut einer OECD-Studie umgerechnet 13800 Dollar, sodass Polen die niedrigste durchschnittliche Vergütung aller europäischen OECD-Länder aufwies. Selbst im krisengeschüttelten Ungarn und Lettland lagen die Vergütungen deutlich höher. Inzwischen kann von einer realen Aufholbewegung bei den Löhnen – auch aufgrund der erneut steigenden Arbeitslosigkeit – keine Rede mehr sein. Selbst den Angaben des polnischen statistischen Amtes zufolge ist der Brutto-Durchschnittslohn von 3521 Zloty (rund 846 Euro) in Polen 2012 gegenüber dem Vorjahr aufgrund der Inflation von 3,7 Prozent um 0,1 Prozent gefallen. Der Durchschnittslohn in Deutschland lag somit um den Faktor 3,4 höher als in Polen. Ein Anschluss der polnischen Semiperipherie zeichnet sich somit auch in dieser Kategorie nicht ab.

Ähnlich bescheiden fallen übrigens die Ergebnisse beim Rückgang der extremen Armut in Polen aus. Rund 16,3 Prozent der polnischen Bevölkerung galten 2012 offiziell als arm – sie mussten mit weniger als 50 Prozent des durchschnittlichen Einkommens über die Runden kommen. Hierunter befinden sich auch die 6,8 Prozent der polnischen Bevölkerung, die in extremer Armut vegetieren müssen und mitunter nicht einmal über ein Existenzminimum verfügen.

Zloty-Abwertung stoppt Armutsanstieg
In der bundesdeutschen Presselandschaft wird Polen gelegentlich als wirtschaftliches Vorbild dargestellt, weil es hier bislang gelang, während der Eurokrise eine Rezession zu vermeiden. Tatsächlich muss betont werden, dass Polen bislang – etwa im Vergleich zu den Ländern der südlichen Peripherie der Eurozone – einen relativ glimpflichen Krisenverlauf erfahren hat. Das alltägliche Elend, das der Kapitalismus bei seinem „normalen“ Funktionieren produziert, erscheint angesichts der massiven Pauperisierungsschübe in Südeuropa in einem milderen Licht. Einen wichtigen Grund für diesen milden Krisenverlauf stellt die nationale Währung, der Zloty, dar, die nach Krisenausbruch massiv gegenüber den Euro abwertete. Kostete der Euro vor dem Beginn der Eurokrise mitunter nur 3,3 Zloty, so verteuerte sich dieser auf dem bisherigen Krisenhöhepunkt auf bis zu 4,4 Zloty. Damit verbilligten sich polnische Exporte, das Land wurde konkurrenzfähiger, während die Einfuhren aus dem Euroraum merklich abnahmen.

Deswegen hat die polnische Rechtsregierung unter Premier Donald Tusk – die ansonsten als ein enger Verbündeter Berlins gilt – bislang dem deutschen Drängen auf einen verbindlichen Beitrittstermin zur Eurozone nicht nachgegeben. In Warschau ist man sich durchaus darüber im Klaren, dass ein Beitritt zur Eurozone keinesfalls den Aufstieg ins Zentrum des kapitalistischen Weltsystems mit sich bringen würde, sondern eher den endgültigen Abstieg in dessen Peripherie.

Tomasz Konicz lebt in Olsztyn (Polen). Er studierte Geschichte, Soziologie, Philosophie und Wirtschaftsgeschichte in Hannover. Konicz arbeitet als freier Journalist mit den Schwerpunkten Krisenanalyse und Osteuropa.