Eine Pionierin der britischen und internationalen Arbeiterbewegung
Sechs Kinder brachte das Ehepaar Marx Zeit seines Lebens auf die Welt; vier davon Töchter. Vier starben noch im Kindesalter. Drei Töchter hinterließen in der internationalen Arbeiterbewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts ihre Spuren. Jenny Caroline engagierte sich in Frankreich. Jenny Laura kämpfte über Jahrzehnte an der Seite ihres späteren Mannes Paul Lafargue und übersetzte die Schriften von Karl Marx ins Französische.
Und schließlich Eleanor Marx. Ihr Aktivismus wirkt bis heute nach. Die GMB (General, Municipal, Boilermakers and Allied Trade Union) ist mit 600.000 Mitgliedern eine der größten Gewerkschaften Großbritanniens. Für deren Vorläuferorganisation, der „Gasworkers Union“ schrieb sie das Regelwerk. Deren Mitglieder wählten sie 1890 einstimmig in den Gewerkschaftsvorstand. Als führende Gewerkschafterin nahm sie an zahlreichen internationalen Kongressen teil und kämpfte dort für die Repräsentation von Frauen in der Gewerkschaftsbewegung.
Die Kindheit von Eleanor Marx ist eng mit der Entstehungsgeschichte von „Das Kapital“ verknüpft. Während der Vater schrieb, spielte Eleanor in seinem Arbeitszimmer. Ein Nebenprodukt von Marxens Kritik der politischen Ökonomie war die Figur von Hans Röckler, ein fiktiver Ladenbesitzer in dauernden Geldnöten.
Das Geschäft von Röckler wurde Ausgangspunkt zahlreicher von Karl für seine Tochter erfundene Märchengeschichten. Darin verarbeitete er einerseits die eigene Familiengeschichte und brachte Eleanor so die Gründe für Flucht-, Exil-, und das politische Engagement der Eltern nahe. Daneben lernte Eleanor über die von Vater Karl erzählten Geschichten die Grundlagen von Warenkreisläufen, Entfremdung und Ausbeutung kennen. Ein lebenslanges Interesse für Literatur wurde so geweckt. Eleanor war erst drei Jahre alt, da konnte sie bereits Shakespeare-Passagen rezitieren. Andererseits wurden die Grundlagen für ihr späteres politisches Engagement gelegt.
Der Ort Jews Walk Nummer 7 repräsentiert den Endpunkt eines bewegten und kämpferischen Lebens. Doch das Leben der Menschen bewegt sich durch Zeit und Raum. Für eine Art Anfang steht die Adresse „Vernon Terrace“ im Badeort Brighton (50.8296°N, 0.1496°W). Hier arbeitete Eleanor eine Zeit lang als Lehrerin. Im Jahr 1884 lernte sie dort Clementina Black kennen, eine Aktivistin in der „Women‘s Trade Union League“, der auch Eleanor bald beitrat.
1884 war überhaupt ein ereignisreiches Jahr. Eleanor Marx ging in den Vorstand der „Social Democratic League“, der ersten sozialistischen Partei Großbritanniens. Schon bald spaltete sie sich aufgrund von Differenzen mit Henry Hyndman, dem Finanzier und autokratischen Parteivorsitzenden gemeinsam mit anderen Vorstandsmitgliedern von der Social Democratic Federation ab um die „Socialist League“ zu gründen. Für deren Parteizeitung „Commonweal“ schrieb Eleanor Marx zahlreiche Beiträge.
Politisch steckte die britische Arbeiterbewegung damals noch in den Kinderschuhen. Die Gründung der Labour-Partei sollte Eleanor Marx nicht mehr mitbekommen. Doch für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ging sie gemeinsam mit Wilhelm Liebknecht auf eine Spendensammeltour durch die USA. Das war gelebter Internationalismus zu einer Zeit, in der die Welt wesentlich schwerer zu durchreisen war als heute, auch wenn die Vernetzung des Planeten durch das Bürgertum rapide voranschritt.
Die wichtigste politische Entwicklung im Großbritannien der 1880er und 1890er Jahre war die Entstehung des „New Unionism“. In den Jahren zuvor waren die meisten Gewerkschaften von starkem Standesdünkel geprägt. „Craft Unions“ organisierten nur gut ausgebildete Fachkräfte. Auf die zig Millionen ungelernten Arbeitskräfte in Fabriken, Häfen und Bergwerken schauten sie hinunter.
Das änderte sich, als die Ungelernten begannen, die Bühne der Geschichte zu betreten. Ein Startschuss war der Streik von Arbeiterinnen einer Londoner Streichholzfabrik im Jahr 1888. Die willkürliche Entlassung zweier Kolleginnen führte zu einer Revolte gegen gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen und überlange, damals 14 Stunden betragende Arbeitszeiten.
Ein Jahr später kam es zum Streik von 100.000 Hafenarbeitern am Londoner Hafen. Dieser Streik gilt als die endgültige Geburtsstunde des New Unionism. Die Hafenarbeiter forderten eine Lohnerhöhung sowie Zuschläge für Akkordarbeit. Zu zehntausenden demonstrierten sie durch London. Die Unsichtbaren wurden sichtbar.
Das Beispiel der sich hier erstmals selbstorganisierenden ungelernten Arbeiterinnen und Arbeiter sollte ins Heute ausstrahlen. Das war das Prekariat der damaligen Zeit. Sicher sind die Umstände heute andere. Aber auch jetzt verweigern viele Gewerkschaften Kolleginnen und Kollegen in unsicheren, befristeten und teilweise tagelöhnerähnlichen Arbeitsverhältnissen die Unterstützung. Das sind die Craft Unions von heute, die dringend durch eine Prise „New Unionism“ verändert gehören.
Eleanor Marx befand sich mittendrin. Eigentlich hasste sie öffentliche Reden. Doch dieser Arbeitskampf fand sie als Rednerin auf zahlreichen Kundgebungen. Daneben leistete sie unermüdliche organisatorische und administrative Arbeit, um der Streikbewegung bei der Koordinierung zu helfen.
Als Repräsentantin des sozialistischen Flügels der Arbeiterbewegung lehnte Eleanor Marx das Mittel des individuellen Terrors ab. Im Hinblick auf durch Anarchisten verübte Attentate sagte sie: „Die Bomben, die wir brauchen, sind Agitation, Bildung und Organisation“. Eleanor Marx lebte all diese Aspekte. Dem jungen Arbeiter Will Thorne brachte sie das Lesen und Schreiben bei. Später wurde er der Generalsekretär der Gasworkers Union.
Persönliche Risiken scheute sie nicht. Die Ablehnung individuellen Terrors machte sie nicht zu einer Pazifistin. Auch auf der Straße war Eleanor Marx eine Militante. Im November 1887 half sie bei der Verteidigung einer Demonstration von Arbeitskräften auf dem Trafalgar Square gegen massive Angriffe durch die Polizei.
Das Persönliche und das Politische haben sich bei Eleanor Marx bis zu ihrem Lebensende vermengt. 1884 traf sie in der Social Democratic Federation auf Edward Aveling, ein Zoologe, Freidenker und Atheist. Bis zu ihrem Lebensende lebte sie mit Aveling in einer freien Lebensgemeinschaft, obwohl das Paar eine gemeinsame „Hochzeitsreise“ unternahm.
Mit Aveling verließ Eleanor Marx die SDF in Richtung Socialist League. Auch an der USA-Reise mit Wilhelm Liebknecht nahm Aveling teil. Am 11. April 1887 sprechen beide vor 100.000 Menschen auf einer Kundgebung im Londoner Hyde Park für die Unabhängigkeit Irlands.
Hinter ihrem Rücken heiratete Aveling im Juni 1897 die 22-jährige Schauspielerin Eva Frye. Als Marx dies schließlich herausfand, trieb sie dies in eine Depression die sie nie wieder überwinden konnte. Schließlich besorgte sie sich aus einer Apotheke Gift, welches sie in Nummer 7 Jew Street einnahm. Sie lebte noch, als man sie fand, doch jede Hilfe kam zu spät.
Christian Bunkeist als freier Journalist aktiv in Großbritannien und Österreich.
Tussy an Old Nick
Und endlich war 1867 Das Kapital (Band 1) vollendet. […] Die Welt aber hatte nicht auf Karls Buch gewartet. Die erste Auflage von 1000 Stück erschien am 15. September und verkaufte sich zäh, und zäh las sich das Buch […] Engels betrank sich wie versprochen, als das Buch herauskam […]
Als das Kapital erschien, war ich 12 ½ Jahre alt […] Mit Schwesterherz Laura, der blonden Kühlen mit den giftgrünen Augen, Spitzname „Kakadu“, vertrug ich mich immer weniger, sie neidete mir die Zuneigung meines Vaters. Mohr hielt nichts von strenger Erziehung und ließ uns Töchtern viel Freiheit. Sobald der Mensch gehen lerne, lerne er zu fallen, meinte er, und durch Fallen lerne man gehen. Mohr und ich standen in regem Briefkontakt, Briefe, die wir uns immer wieder unter der Tür durchschoben und die niemand lesen durfte außer uns. Mohr nannte mich „Miss Liliput“ und unterschrieb mit „Dr. Wunderlich“. Ich nannte ihn „Old Dick“ und unterschrieb mit „Tussy“, nicht mit „Alberich“, wie mich meine Schwestern manchmal nannten. Ich wollte Tussy heißen. Freilich wurde ich von Old Nick regelrecht verwöhnt, was Möhne [Jenny Marx, Mutter von Eleanor alias Tussy und Marx´ Frau] wiederum nicht gefiel. Sie war in dem Sinne näher bei Laura.
Aus (dem sehr empfehlenswerten) Buch: Klaus Gietinger, Karl Marx, die Liebe und das Kapital, Frankfurt/M. 2018 (hier S.310f), Verlag Westend, 350 Seiten, 22 Euro.