Die Mobilisierung des Ressentiments gegen die Grundlagen der Luftreinhaltung

Wie alles begann

Alles begann im September 2015 mit Meldungen aus den USA, nach denen die US-Umweltbehörde EPA (Environmental Protection Agency) dem Volkswagen-Konzern vorwarf, seine großmäulig als „CLEAN DIESEL“ beworbenen Dieselmotoren verfehlten im Realbetrieb die zulässigen Abgas-Grenzwerte für Stickoxide (NOx) um ein Vielfaches.

Oder begann es nicht schon viel früher und erfuhr lediglich keine öffentliche Resonanz, weil in Deutschland die Automobilindustrie Kultstatus genießt und sich selbst noch im Rechtsbruch staatlicher Protektion sicher sein kann? Fest steht zumindest so viel: Wer auch immer als Ingenieur, Fachjournalist, Verkehrspolitiker oder PR-Stratege jemals mit dem Thema Effizienz und Emissionen von Verbrennungsmotoren befasst war, konnte spätestens seit 2006 wissen, dass sich die Geschichte vom sauberen Diesel zwar gut erzählen lässt, jedoch immer eine Lug- und Betrugsgeschichte gewesen sein muss. Bereits damals erkannte man im Rahmen einer Feldüberwachungs-Studie im Auftrag des Umweltbundesamtes (UBA) bei einem VW GOLF TDI: Es „…scheint die Strategie der NOx-Reduzierung auf den Prüfzyklus zur Typgenehmigung optimiert zu sein.1 Sauber also nur auf dem Prüfstand? Ein klarer Hinweis auf das Vorhandensein einer Prüfzyklus-Erkennung samt einer Umgehung der Abgasreinigung im Realbetrieb. In den Folgejahren veröffentlichten die Deutsche Umwelthilfe (DUH) und weitere Umweltinitiativen wiederholt Hinweise auf extreme Diskrepanzen im NOx-Emissionsverhalten von Diesel-Pkw im Prüfzyklus einerseits sowie im Realbetrieb andererseits. Im Jahr 2011 schließlich bestätigte gar die Gemeinsame Forschungsstelle der EU diesen Zustand nach eigenen Tests. Die Dieselautobauer – VW mit seiner Motorengeneration EA 189 an der Spitze – hatten da bereits seit Jahren die Abgasnormen im Realbetrieb außer Kraft gesetzt und einen industriellen Großbetrug ohnegleichen betrieben. Als die Party 2015 in den USA endete, hatte VW weltweit über elf Millionen Betrugsdiesel verkauft. Nahezu drei Millionen davon fahren nach einem wenig wirksamen Software-Update weiterhin auf deutschen und die übrigen 8 Mio. überwiegend auf anderen europäischen Straßen.

Warum beendete hierzulande in all den Jahren niemand dieses gegen die Gesundheit von Millionen Menschen gerichtete kriminelle Treiben? Und wie konnte es geschehen, dass nach alledem nicht die Autoindustrie, sondern die Regularien der Luftreinhalte-Politik sich heftigsten Anfeindungen ausgesetzt sehen?

Die Dieselautobauer und die lästigen Stickoxid-Grenzwerte

Im Jahr 2010 trat die Directive 2008/50/EC über Luftqualität und saubere Luft in Europa in Kraft, worin die NO2-Immission im Stundenmittel auf 200 µg/m³ und im Jahresmittel auf 40 µg/m³ begrenzt wurde. Da rund 60 Prozent der städtischen Außenluft-Belastung mit NO2 dem Straßenverkehr und davon wiederum gut zwei Drittel den Dieselmotoren zuzuordnen sind, kamen in zahlreichen Städten nach anhaltender Überschreitung der Grenzwerte an den verkehrsnahen Messstationen die Dieselautos ins Visier einer kritischen Öffentlichkeit. Auf den Verdacht, die Dieselautos könnten ein Vielfaches des Zulässigen an Stickoxiden ausstoßen, reagierten die Hersteller von Anfang an mit Aktivitäten zur Delegitimierung der Immissionsgrenzwerte. Über die von VW, Daimler, BMW und Bosch finanzierte sogenannte Europäische Forschungsvereinigung für Umwelt und Gesundheit im Transportsektor (EUGT) lancierten sie solange Zweifel an den NO2-Grenzwerten, bis sie sich schließlich in den reiflich bekannten Expositionsversuchen mit Dieselabgasen an Affen in den USA verhedderten: Fünf Affen wurden den verdünnten Abgasen eines alten Ford Pickup von 1997 ausgesetzt, fünf weitere den ebenfalls verdünnten Abgasen eines VW Beetle von 2015. Pikantes Detail: Der Beetle lief dabei allerdings nur im Prüfstandmodus, und trotzdem entsprach das Ergebnis dieses unsinnig-brutalen Tests nicht den Erwartungen. Die Entzündungen im Atemtrakt waren bei den Beetle-exponierten Tiere ausgeprägter als bei jenen der Ford-Pickup-Gruppe. Das Abgasgemisch der neuen EA-189-Diesel-Motoren erwies sich selbst im nichtrepräsentativen Prüfstandmodus als toxischer als jenes des alten Fords. Die EUGT-Aktivitäten erregten zu Recht öffentliche Abscheu. Als Speerspitze im Kampf um die Delegitimierung der Regularien der Luftreinhaltung war diese angebliche Forschungsvereinigung damit verbrannt und wurde klammheimlich aufgelöst.

Mittlerweile liegt das ganze Ausmaß des Diesel-Abgasbetrugs offen und kaum jemand bestreitet mehr die Tatsache, dass die Überschreitungen der NO2-Grenzwerte in den großen deutschen Städten unmittelbare Folge dieses industriellen Großbetrugs sind. Der Anteil des Dieselautos an den Neuzulassungen geht zurück und es drohen Fahrverbote für Diesel-Pkw in Städten mit anhaltender Grenzwert-Überschreitung, nachdem die Deutsche Umwelthilfe erfolgreich gegen die untätige Hinnahme von verkehrsbedingten Gesundheitsschäden geklagt hat. Es herrscht Alarmstimmung im Land, aber nicht aus Sorge um die mit krimineller Energie herbeigeführten Gesundheitsschäden, sondern wegen der Bedrohung der individuellen Mobilität. Vor kalten Enteignungen durch den Wertverlust von Betrugsdieseln wird ebenso gewarnt wie vor auto- und industriefeindlichen Ideologien, denen es nicht um saubere Luft, sondern um die Lahmlegung unserer Innenstädte gehe. Es werden Ressentiments mobilisiert, doch Ressentiments führen eigentlich immer am Thema vorbei.

Sind Stickoxid-Belastungen der Atemluft eine Bagatelle?

Dass in der Motorentwicklung und im Management von VW so gedacht wird, darf nach dem Konterkarieren der Luftreinhalteziele mit dem Motor EA 189 unterstellt werden. Dass nun aber seit nahezu zwei Jahren in politischen Äußerungen und fachlichen Stellungnahmen dasselbe Denken durchscheint, ist einer eingehenderen Betrachtung wert. Es geht offenbar um die Rettung des deutschen Dieselautos, und die größte mediale Aufmerksamkeit erfährt, wer am rüdesten über die NO2-Grenzwerte und über gerichtlich verordnete oder drohende Fahrverbote herfällt.

Den Startschuss setzten vor der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts in Sachen Zulässigkeit und Verhältnismäßigkeit von Fahrverboten zur Einhaltung der NO2-Grenzwerte zwei Vertreter aus der Arbeitsmedizin. Das war bereits 2017. Die Professoren Helmut Greim und Hans Drexler, einschlägig bekannt für ihre Ignoranz gegenüber international anerkannten epidemiologischen Erkenntnissen über Gesundheitsschäden bei Langzeitbelastung durch niedrige Schadstoffdosen, erklärten unabhängig voneinander in verschiedenen Medien, Überschreitungen des NO2-Grenzwertes von 40 µg/m³ im Jahresmittel seien praktisch belanglos. Fahrverbote bei Überschreitung dieses Grenzwerts seien medizinisch nicht begründbar. Drexler verwies auf den Feinstaub, der viel gefährlicher als NO2, jedoch im Unterschied zu NO2 dem Diesel nicht anzulasten sei. Drexler lieferte damit die Argumentationsfigur, die in späteren Stellungnahmen bis hin zu jener der Leopoldina im April 2019 auftauchen sollte:

Vergesst NO2! Vergesst das Dieselauto! Vergesst Fahrverbote! Feinstaub ist das Problem!

Tatsächlich sind die aktuellen Feinstaub-Belastungen der Außenluft mit größeren und eindeutigeren Gesundheitslasten verbunden als die Belastungen durch NO2. Das ist aber auch schon alles, was an den Einlassungen der beiden Herren stimmt. Denn belanglos sind NO2-Belastungen aus Dieselabgasen keineswegs. Sie sind nicht nur mit Erkrankungen der Atemwege und der Lunge assoziiert, sondern treten auch als Feinstaub-Vorläufer in Erscheinung und bilden sogenannte sekundäre Aerosole. Nach einer 2016 erschienenen Studie in fünf südeuropäischen Großstädten können sie so bis zu 30 Prozent zum Feinstaub-Aufkommen beitragen. Die Europäische Umweltagentur (EEA) unterstreicht deshalb die Notwendigkeit, zur Minderung der Feinstaub-Belastung sowohl den direkten Ausstoß an partikulärem Material (PM) als auch den Ausstoß an gasförmigen Vorläufern wie NO2 zu verringern.

„Dieselskandal: Sind Stickoxide das geringere Übel?“ Unter dieser Überschrift plädierte in der Zeitschrift Arbeitsmedizin Sozialmedizin Umweltmedizin, Ausgabe 08/2018, der österreichische Arbeitsmediziner Dr. Fuchsig dafür, den Feinstaub-Partikeln in der Luftreinhaltung die „Hauptaufmerksamkeit“ zu widmen. Sein Plädoyer ist nicht sonderlich originell. Bereits 2002 hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen in seinem Umweltgutachten erklärt, Partikel, deren wichtigste Quelle Kfz mit Dieselmotor seien, seien als das wichtigste Problem der Luftverschmutzung anzusehen. Hat damals niemand zugehört? Die Feinstaub-Emissionen (PM 2,5) sind zwar in der Masse dank verschiedener Maßnahmen von 2002 bis 2016 um 25 Prozent zurückgegangen, und der Rückgang im Verkehrssektor liegt sogar bei 35 Prozent. Doch hinter diesen Zahlen verbirgt sich eine gefährliche Entwicklung: Während die Partikelmasse pro m³ abnimmt, stagniert die Partikelanzahl pro m³ bei den ultrafeinen Partikeln (UFP) mit einem Durchmesser bis 100 Nanometer (PM 0,1). Sie entstammen zu über 70 Prozent den Abgasen der auf Energieeffizienz getrimmten Motoren mit Direkteinspritztechnik, bestehen zu über 50 Prozent aus Kohlenstoff bzw. Ruß und haben wegen ihrer Fähigkeit, bis in die Blutbahn vorzudringen, ein besonders hohes toxisches Potenzial. Die Luftreinhaltung hat also allen Grund, sich energisch um eine Begrenzung dieser Partikel zu bemühen. Doch muss man dazu die Bedeutung der Stickoxid-Belastungen kleinreden?

Dr. Fuchsigs Einlassungen zielen eindeutig darauf ab. Gleich eingangs nennt er zu Kurzzeiteffekten von NO2-Belastungen Zahlen aus der EUGT-finanzierten Aachener Expositionsstudie mit gesunden Erwachsenen und schließt daran den extrem hohen schweizerischen Arbeitsplatzgrenzwert von 6000 µg/m³ sowie einen bei Asthmatikern festgestellten „lowest observed effect level“ (LOEL) der WHO von 400-500 µg/m³ aus dem Jahr 2000 an. Offenbar soll die Leserschaft auf große Zahlen eingestimmt werden, um sie dann in Anbetracht der NO2-Immissions-Grenzwerte für das Jahres- und Stundenmittel (40 bzw. 200 µg/m³) in staunendes Kopfschütteln versetzen zu können: So niedrig? Fuchsig hätte statt dieser Vereinnahmung der Leserinnen und Leser auch einfach den aktuellen Wissenstand zu NO2-Kurzzeiteffekten referieren können, den J. S. Brown von der US-Umweltbehörde EPA 2015 in einer Metaanalyse von 16 Studien mit insgesamt 240 Erwachsenen mit mildem Asthma zusammengefasst hat. Demnach steigt nach einer 30-minütigen Exposition gegenüber 400 bis 600 µg/m³ NO2 und nach einer 60-minütigen Exposition gegenüber 200 µg/m³ NO2 bei einem statistisch signifikanten Teil der Asthmatiker die Empfindlichkeit der Atemwege; die Provokationsdosis nimmt um die Hälfte ab.2 Die Studie sieht also eine Verschlechterung des Gesundheitszustands von Asthmatikern bei umweltrelevanten NO2-Konzentrationen. Das betrifft in Deutschland sechs bis sieben Millionen Menschen. Was hilft ihnen der Hinweis auf die Gefährlichkeit von Feinstaub? Von der EPA wird diese Studie als eine von drei Metaanalysen genannt, die konsistente Evidenz mit hoher Qualität liefern.

Langzeiteffekte durch niedrigdosierte NO2-Expositionen bestreitet Fuchsig mit Hinweis auf die physikochemischen Eigenschaften von NO2 komplett. Der Vielzahl epidemiologischer Studien, die zu anderen Ergebnissen kommen, hält er vor, im Irrtum zu sein. Die in solchen Studien zweifellos festgestellten Gesundheitsschäden an Atemwegen, Lunge, Herz und Kreislauf rührten vermutlich nicht von NO2, sondern von den mit diesem hoch korrelierenden ultrafeinen Partikeln UFP her.

Stickstoffdioxid und ultrafeine Partikel sind eng zusammenhängende Gifte

Stickstoffdioxid (NO2) und ultrafeine Partikel (UFP) treten in Straßennähe immer gemeinsam und in hoher Abhängigkeit voneinander auf. Das erschwert es in epidemiologischen Studien, die beobachteten Gesundheitsschäden eindeutig der Exposition gegenüber einem dieser Schadstoffe zuzuordnen. Beide eignen sich im Prinzip als Indikatoren für das gesamte toxische Gemisch, das Verbrennungsmotoren ausstoßen. Doch in der Praxis gilt das nur für das an den Messstationen routinemäßig ermittelte NO2. Ultrafeine Partikel werden bislang nur vereinzelt gemessen und die Messmethoden sind noch nicht standardisiert. Ihr toxisches Potenzial ist aufgrund ihrer großen spezifischen Oberfläche, über die adsorbierte krebserregende Substanzen wie z.B. polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe oder Schwermetalle bis in die Zellen transportiert werden können, in hohem Maß besorgniserregend. In klinisch-kontrollierten Kurzzeitstudien wurden Lungenfunktionsstörungen, lokale Entzündungen und Herz-Kreislaufeffekte beschrieben. Die aktuelle europäische Abgasnorm für die Typgenehmigung von Pkw lässt für Diesel- und Ottomotoren einen maximalen Ausstoß von 6 x 1011 Partikel pro km zu. Nahezu 90 Prozent des Ausstoßes entfallen dabei auf UFP. Richt- oder Grenzwerte zum Schutz der menschlichen Gesundheit gibt es für UFP noch nicht. An verkehrsnahen Messstationen werden UFP-Belastungen zwischen 2000 und 20.000 Partikel pro cm³ gemessen.

Die einstweilen einzige Begrenzung dieser gefährlichen Luftverunreinigung besteht in ihrer engen Bindung an das Stickoxid NO2: Je weniger NO2, umso weniger UFP!

Blaue Plakette und Fahrverbote könnten dies schnell bewerkstelligen, die alleinige Reduzierung der NO2-Belastung durch die Nachrüstung der Dieselautos mit SCR-Katalysatoren hingegen nicht. Die UFP-Belastung muss unabhängig davon durch zügige Ausrüstung aller Kraftfahrzeuge mit hocheffizienten Partikelfiltern abgesenkt werden. Weshalb aller Kraftfahrzeuge? Weil mittlerweile die modernen direkteinspritzenden Ottomotoren noch weit höhere UFP-Ausstöße aufweisen als Dieselautos.

Soll das Thema Abgasbetrug beim Dieselauto im Feinstaub-Geraune abgeräumt werden?

Ist Stickstoffdioxid (NO2) bei Langzeitbelastungen im Niedrigdosenbereich, wie von Fuchsig unterstellt wird, nur Indikator für Gesundheitsschädigungen durch andere Schadstoffe wie UFP, oder zeigt es auch eigene, unabhängige Schadwirkungen? Diese Frage stellte sich im Rahmen der WHO bereits in den 1990er Jahren bei der Überarbeitung ihrer Luftgüteleitlinien für die europäische Region. Die Datenlage war unsicher. Hätte man deshalb auf die Erarbeitung einer Luftgüteleitlinie, einer „Air Quality Guideline (AQG“), bei Langzeitbelastungen mit Atemwegsgift NO2 verzichten sollen?

Regulatorische Aufgaben im umweltbezogenen Gesundheitsschutz erfordern so gut wie immer das Handeln auf der Basis unsicheren Wissens. Der renommierte Umwelt-Epidemiologe Prof. Heinz-Erich Wichmann sagt dazu: Im Umweltbereich ist es nur in Ausnahmefällen möglich, Richt- und Grenzwerte stringent auf der Grundlage von Wirkungsuntersuchungen abzuleiten. Für viele Fälle liegen nur Hinweise für Gesundheitsrisiken vor, quantitative Abschätzungen sind die Ausnahme. Auch in diesem Falle ist es erforderlich, Richtwerte bzw. Grenzwerte zum Schutz der Bevölkerung festzulegen. 3 Die WHO-Fachleute kniffen nicht. Sie sprachen sich trotz der unbefriedigenden Datenlage unter Bezugnahme auf eine Meta-Analyse von epidemiologischen Studien über den Zusammenhang zwischen häuslicher NO2-Belastung und Atemwegserkrankungen bei Kindern für eine Langzeit-AQG (Jahresmittel) von 40 µg/m³ aus. Diese AQG fand im Jahr 2000 Eingang in die 2nd Edition der WHO-Air Quality Guidelines for Europe. Bereits 1997 hatte sich das UN-ProjektInternational Program on Chemical Safety/IPCS auf derselben Datengrundlage für die Veröffentlichung einer identischen Langzeit-Leitlinie entschieden (IPCS 1997). Die EU hat diese Leitlinie in zwei Richtlinien übernommen.4 Sie muss seit 2010 EU-weit eingehalten werden, was jedoch in Dutzenden Städten weder der Fall war noch ist, und was in Deutschland weder den Bundesverkehrsminister noch die Umweltministerin, geschweige denn den VW-Vorstand um den Schlaf gebracht hat. Bewirkt hat erst das International Council on Clean Transportation (ICCT) etwas mit seinen Abgastests und die DUH mit ihrem Pochen auf geltendes Recht. Jetzt sind sie alle aufgewacht und beziehen Stellung: Der Verkehrsminister, indem er sich mit rüden Ausfällen gegen die DUH hervortut und sich zum großen Grenzwert-Experten aufwirft („…sind Pi-mal-Daumen abgeschätzt“), die Umweltministerin, indem sie abtaucht, die Automobilindustrie, indem sie dezent ihren Anspruch auf Schonung wegen ihrer überragenden volkswirtschaftlichen Bedeutung begründet und ansonsten so tut, als ginge sie das alles nichts an, die vielen Experten aus den Medien und der Wissenschaft, indem sie der Autoindustrie und ihrem Minister Beistand leisten und plötzlich alle was zu sagen haben gegen den NO2-Langzeit-Grenzwert, gegen die Regulationsbehörden und gegen Fahrverbote.

Ehrabschneidende Behauptungen und selbstgefällige Einlassungen

Man muss nicht auf Prof. Dieter Köhler eingehen. Der hat sich selbst mit seiner Rechenschwäche disqualifiziert und damit gezeigt, warum er Epidemiologen nicht mag: Die können rechnen. Außerdem will er ja nicht nur die NO2-Grenzwerte kassieren, sondern hält auch die Feinstaub-Grenzwerte für Unsinn, weil ihm noch kein NO2-oder Feinstaubkranker untergekommen ist. Nachhaltiger an der Delegitimierung des NO2-Langzeit-Grenzwertes arbeitet u.a. Prof. Alexander S. Kekulé, Direktor des Instituts für Biologische Sicherheitsforschung in Halle. In der ZEIT schrieb er unter der Überschrift „Hysterie ums Falsche – Der Grenzwert 40 Mikrogramm für das Auspuffgas Stickstoffdioxid ist aus der Luft gegriffen“, der Grenzwert habe eine „bizarre Historie“, die Gutachter hätten abgeschrieben und bis heute gäbe es keine belastbaren Daten, die den 40-Mikrogramm-Grenzwert stützten.5

Es ist schon erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit Wissenschaftler, die ansonsten viel Wert auf Seriosität legen, dem Ressentiment gegenüber konkurrierenden Fachdisziplinen freien Lauf lassen, wenn es um die Verteidigung von Vorlieben, Interessen und Deutungshoheiten geht. Man kann ja beklagen, dass es bis heute der Datengrundlage des Langzeit-Grenzwert für NO2 von 40 µg /m³ an Robustheit und Eindeutigkeit mangelt, aber deshalb ist er noch lange nicht aus der Luft gegriffen. Er gründet sich auf die Beobachtung, dass das Risiko von Kindern, Erkrankungen der unteren Atemwege zu erleiden, mit steigender häuslicher NO2-Belastung zunimmt. In der Zusammenführung von neun epidemiologischen Studien aus zwei Erdteilen und drei Ländern ermittelte die US- Umweltbehörde EPA 1993 für einen durchschnittlichen Zuwachs der häuslichen NO2-Belastung um 28,3 µg/m³ eine Zunahme der Erkrankungen der unteren Atemwege bei 5-12-jährigen Kindern um 20 Prozent.6 Der Langzeit-Grenzwert von 40 µg/m³ setzt sich schließlich aus einer evidenten Hintergrundbelastung von 10-15 µg /m³ und der krankheitsrelevanten

Zusatzbelastung von 28,3 µg/m³ zusammen. Bei einer 20-prozentigen Zunahme der die Atmung betreffenden Krankheitslast von Kindern sollte es genug sein. Das ist die Schutzniveau-Maßgabe, die der IPCS- und WHO-Leitlinie sowie dem EU-Grenzwert zugrunde liegt.

Was macht nun Prof. Kekulé aus einem solch völlig normalen Regulationsprozess im Bereich der Luftreinhaltung? Er bescheinigt ihm eine „bizarre Historie“, nennt das völlig korrekt gekennzeichnete Referieren von Arbeitsergebnissen der EPA durch Autorinnen und Autoren des UN-Projekts IPCS „abschreiben“ und behauptet, diese hätten mangels brauchbarer Daten kurzerhand geschätzt, dass ein Gasherd die mittlere jährliche NO2-Konzentration im Haushalt auf ungefähr 40 µg/m³ erhöhe. Er sieht bis heute keine belastbaren Daten, die den 40-Mikrogramm-Grenzwert stützen und kennt keinen Beleg dafür, dass die Zahl irgendetwas mit den gesundheitlichen Auswirkungen von NO2 zu tun hätte. Dass er sich am Ende dann auch noch für die Beibehaltung des Grenzwertes ausspricht, ist nur scheinbar paradox: Wer muss schon einen delegitimierten Grenzwert fürchten?

Liest man die jüngeren Einlassungen von Prof. Kekulé zum Thema Regulation der NO2-Belastungen, so drängt sich einem der Eindruck auf, er halte die Teams der Umwelt-Epidemiologie sowie der Expositions- und Risikoabschätzung für stark belehrungsbedürftig.7 Aus Beobachtungsstudien in der realen Welt Schlüsse über Zusammenhänge zu ziehen und sich über Wahrscheinlichkeitsberechnungen und Plausibilitätserwägungen zu Kausalitäten vorzuarbeiten, ist Kekulé offenbar ein Graus. Epidemiologisch abgeleiteten Grenzwerten bestreitet er die Legitimität. Er lässt nur die Eindeutigkeit des Laborexperiments gelten, obwohl er bestimmt weiß, dass dies die Eindeutigkeit einer Kunstwelt ist: Die Rückübertragung dort festgestellter Dosis-Wirkungsbeziehungen in die reale Welt ist nämlich mit zahlreichen Unsicherheiten behaftet und Langzeit-Effekte können mit Laborexperimenten gar nicht erkannt werden. Es ist diese Unlust, sich auf die Vieldeutigkeit der Welt einzulassen, die dazu führt, dass Wissenschaftler wie Greim, Drexler, Fuchsig oder Kekulé in gesellschaftlichen Konflikten wie dem um das Dieselauto instinktsicher ihren Platz an der Seite der ignoranten, mächtigen Vereinfacher – das heißt der Autokonzerne und ihrer Lobby – einnehmen.

Der Langzeit-Grenzwert für NO2 ist vielfach bestätigt

Prof. Kekulé behauptet im FAZ-Artikel vom März 2019, damals wie heute gäbe es keine Experimente, die eine biologische Wirkung von NO2 in den geringen, in der Außenluft gemessenen Konzentrationen zeigten. Diese Botschaft versteht jeder: Vergesst NO2! Doch diese Botschaft täuscht. Sie ist Kekulés laborexperimentell eingeschränkter Weltsicht geschuldet. Er erkennt epidemiologische Studien nicht an, liest sie offenbar auch nicht und weiß deshalb nichts von jener Studie von K. Belanger und anderen aus dem Jahr 2006, die – ganz ähnlich der Begründungsstudie für den 40 µg/m³-Grenzwert – den innerhäusigen Zusammenhang zwischen der NO2-Belastung der Luft und Atemwegserkrankungen bei Kindern mit Asthma betrachtet hat. Teilgenommen haben 728 Kinder unter zwölf Jahren, die sich in zwei Gruppen aufteilten: Einmal jene mit Gasherd in der Wohnung (NO2-Quelle!) und einmal jene mit Elektroherd. In den Gasherd-Wohnungen waren die Kinder im Mittel 49,5 µg/m³ NO2 ausgesetzt, während die mittlere NO2-Belastung in den E-Herd-Wohnungen nur 16,4 µg/m³ betrug. Die Kinder aus den Gasherd-Wohnungen litten gegenüber den Kindern aus den E-Herd-Wohnungen 2,3mal häufiger an keuchenden Zuständen und Kurzatmigkeit und verspürten 4,3 mal häufiger Brustkorbenge. Kinder mit Asthma sind demnach durch den Langzeit-Grenzwert nur unzureichend geschützt. Ihre Eltern sollten die Verwendung von Gasherden meiden.8

Wie die WHO 2013 berichtet, wurden von 2004 bis 2012 160 epidemiologische Studien zum Zusammenhang von NO2-Expositionen im Niedrigdosisbereich mit Gesundheitsschäden veröffentlicht.9 Darunter beschäftigen sich 98 Studien mit Gesundheitsschäden im Bereich der Atemwege und der Lunge, 19 mit Gesundheitsschäden im Herz-Kreislauf-System. Da verkehrsbedingt in innerstädtischen Bereichen NO2, UFP und eine Vielzahl weiterer Schadstoffe meistens hochkorreliert auftreten, ist die sichere Zuordnung der erkannten Schäden zu NO2-Konzentrationen bekanntermaßen schwierig bis unmöglich.

In den letzten Jahren versuchen immer mehr Epidemiologen, diese Schwierigkeit durch die Anwendung von Zwei- oder Mehr-Schadstoffmodellen zu meistern. Einer kanadischen Arbeitsgruppe scheint das recht gut gelungen zu sein.10 In einer großen Studie mit ungefähr 1,1 Millionen erwachsenen Einwohnern im Raum Toronto untersuchten sie zwischen 1996 und 2012 in erster Linie den Zusammenhang zwischen Langzeit-Expositionen gegenüber UFP und dem Auftreten von Lungenkrebs, Asthma und chronischer Bronchitis, Chronic Obstructive Pulmonary Disease (COPD). Überraschend zeigte sich in der Studie im Ein-Schadstoffmodell für UFP bei einem Anstieg der Anzahl-Konzentration um 10.097 Partikel/cm³ kein klarer Hinweis für einen Anstieg der Gesundheitsrisiken im Atemwegs- und Lungenbereich. Erst die Adjustierung gegen PM (2,5) mit 3,2 µg/m³ sorgte für einen den UFP zuschreibbaren Risiko-Anstieg bei COPD um 7 Prozent. Das Asthma- und Lungenkrebsrisiko veränderte sich nicht. Die weitere Adjustierung gegen NO2 mit 7,9 µg/m³ führte den Risiko-Anstieg bei COPD wieder auf ein Prozent zurück. Die Resultate lassen vermuten, dass der Risikoanstieg, der den ultrafeinen Partikeln zugeschrieben wird, bei chronischer Bronchitis eigentlich dem Stickstoffdioxid zuschreiben ist.

Für NO2 zeigte sich im Ein-Schadstoff-Modell bei einem Konzentrations-Anstieg um 7,9 µg/m³ ein Anstieg des COPD-Risikos um zehn Prozent, um vier Prozent bei Asthma und um neun Prozent bei Lungenkrebs. Diese Risiko-Zuwächse erwiesen sich nach Adjustierung gegen PM (2,5) als robust. Lediglich der Befund für Lungenkrebs tendierte nach Einbezug von Rauchen und BMI gegen Null. Sollten sich die Ergebnisse in kommenden Beobachtungsstudien bestätigen, wären das klare Hinweise auf eine unabhängige Schadwirkung von NO2 auch im Niedrigdosisbereich weit unter dem Langzeit-Grenzwert von 40 µg/m³.

Schlussbetrachtungen

Angesichts der Heftigkeit der Kontroversen um den NO2-Grenzwert und um Fahrverbote hat Bundeskanzlerin Merkel die Nationale Akademie der Wissenschaften LEOPOLDINA gebeten, sich im Rahmen ihrer wissenschaftsbasierten Beratung von Politik und Öffentlichkeit mit der Luftverschmutzung insbesondere durch NO2 und deren gesundheitlichen Folgen auseinanderzusetzen. Zu dem im April vorgestellten Ergebnis ihrer ad-hoc-Stellungnahme Saubere Luft lässt sich selbst bei freundlicher Beurteilung nur sagen: Auftrag verfehlt! Nach dem Motto Allen gut und niemandem weh hat die Akademie keine Stellung zur vorgelegten Frage bezogen, sondern ist ausgewichen auf Feinstaub, Treibhausgase, Grundlagen-Infos zur Luftreinhaltung und aktuelle Statusbetrachtungen. Wer wissen möchte, was wegen der Grenzwert-Überschreitungen für NO2 nun geschehen soll, wird an Fahrverboten ebenso elegant vorbeigeführt wie an der Nachrüstung der Betrugsdiesel mit SCR-Katalysatoren. Erstere werden als „kurzfristiger lokaler Aktionismus“ abgetan und letzteres mit Hinweis auf Treibstoff-Verbrauch und CO2-Ausstoß implizit verworfen. Was also tun? Die Akademie schlägt eine ressortübergreifende Strategie zur Luftreinhaltung und ein Konzept für eine nachhaltige Verkehrswende vor. Das ist alles gut und richtig, dürfte aber für die heute von Stickoxiden belasteten Bevölkerungsteile wie Das Wort zum Sonntag klingen.

Herbert Obenland, Verein für kritische Arbeits-, Gesundheits- und Lebenswissenschaft e.V., ehemaliger Leiter des Umweltlabors Arguk, Oberursel.


Fachbegriffe

Emission ~ Ausstoß, hier: Ausstoß von Schadstoffen beim Betrieb von Verbrennungsmotoren

EA 189-Motoren Diesel-Motoren gemäß Entwicklungsauftrag 189: heraus kamen die Betrugsdiesel

Immission ~ Einwirkung, hier: Einwirkung von Schadstoffen auf den Menschen

NOx ~ Summe der Stickoxide a) Stickstoffmonoxid (NO) und b) Stickstoffdioxid (NO2). Wird im Abgas von Verbrennungsmotoren gemessen

NO ~ Stickstoffmonoxid. Entsteht beim Betrieb von Verbrennungsmotoren und wird nach Ausstoß in die Atmosphäre schnell zu NO2 umgewandelt.

NO2 ~ Stickstoffdioxid. Hauptsächlich verkehrsbedingter Luftschadstoff

PM 2,5 ~ Feinstaub mit Durchmesser kleiner 2,5 Mikrometer

SCR-Katalysator ~ NO2-Abgasreinigungssystem. Umwandlung von NO2 in Stickstoff und Wasser

Typgenehmigung ~ Erlaubnis zur Herstellung eines Fahrzeugtyps nach Prüfung auf Konformität u.a. mit Abgasnormen

WHO ~ World Health Organization

µg/m³ ~ Konzentrationsangabe in Mikrogramm pro Kubikmeter Luft. Ein Mikrogramm entspricht einem Millionstel Gramm

Anmerkungen:

1 Steven Heinz (TÜV Nord) (2006): UBA-Forschungsbericht UFOPLAN-Nr. 201 45 105: Untersuchungen für eine Änderung der EU-Direktive 93/116/EC (Messung des Kraftstoffverbrauchs und der CO2-Emission).

2 Brown JS (2015): Nitrogen dioxide exposure and airway responsiveness in individuals with asthma. Inhal Toxicol. 2015 Jan; 27(1); 1-14.

3 Wichmann, Heinz-Erich (2018): Expertise zu gesundheitlichen Risiken von Stickstoffdioxid im Vergleich zu Feinstaub und anderen verkehrsabhängigen Luftschadstoffen –Bewertung durch internationale Expertengruppen, München 2018.

4 1999/30/EG Grenzwerte für Schwefeldioxid, Stickstoffdioxid und Stickstoffoxide, Partikel und Blei in der Luft sowie 2008/50/EG Luftqualität und saubere Luft in Europa.

IPCS-International Program on Chemical Safety (1997): Nitrogen Oxides – Environmental Health Criteria (EHC) 188, 2nd Edition, WHO Geneva, 1997.

WHO-World Health Organization (2000): Air Quality Guidelines for Europe, 2nd Edition. WHO Regional Office for Europe, Copenhagen.

5 Kekulé AS (2018): Hysterie ums Falsche – Der Grenzwert 40 Mikrogramm für das Auspuffgas Stickstoffdioxid ist aus der Luft gegriffen. In: DIE ZEIT Nr.46/2018, 8. November 2018.

6 US-EPA-Environmental Protection Agency (1993): Air Quality Criteria for Oxides of Nitrogen (Final Report, 1993). US-Environmental Protection Agency, Washington D.C., EPA/600/8-91/049aF-cF, 1993.

7 Kekulé AS (2019): Teufel oder Beelzebub. In: FRANKFURTER ALLGEMEINE, 31.03.2019

8 Belanger K, Gent JF, Triche EW et al. (2006): Association of indoor nitrogen dioxide exposure with respiratory symptoms in children with asthma. Am J Respir Crit Care Med, 2006 Feb 1; 173(3): 297-303

9 WHO-World Health Organization (2013): REVIHAAP-Review of Evidence on Health Aspects of Air Pollution. First results. WHO Regional Office of Europe, Copenhagen.

10 Weichenthal S, Bai L, Hatzopoulou M et al. (2017): Long-term exposure to ambient ultrafine particles and respiratory disease incidence in Toronto, Canada: a cohort study. Environmental Health (2017) 16(1):64.

11 https://www.leopoldina.org/publikationen/detailansicht/publication/saubere-luft-stickstoffdioxid-und-feinstaub-in-der-atemluft-grundlagen-und-empfehlungen-2019/

Erschienen in lunapark21 Heft 46/ Sommer 2019, S. 32-39.

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