Die Menschen sind weiter als die Politik

Die Bilanz von Wahlen. Welchen Wahlen?

kolumne winfried wolf

Am 26. September 2021 gab es zwei in vielerlei Hinsicht historische Wahlen, über die kaum berichtet wird. An diesem Tag sprachen sich in Berlin 56 Prozent für eine Enteignung der großen Wohnungskonzerne aus. Und warum gab es diesen Erfolg? Weil Millionen Menschen das Recht auf bezahlbares Wohnen als Grundrecht sehen und weil bis zu 2000 Aktive diese Kampagne in der Hauptstadt mit enormem Engagement getragen haben. Am selben Tag wurde mit Elke Kahr eine Frau zur Oberbürgermeisterin von Graz gewählt, die Mitglied der Kommunistischen Partei Österreichs ist und die davon ausgeht, dass auch heute noch „die lohnabhängigen Menschen der bewussteste Teil der Gesellschaft“ sind.1 Und warum hatten Elke Kahr und ihr Team diesen Erfolg? Weil sie mit ihrer konkreten bescheidenen Lebensweise als Vorbild gesehen werden, weil sie sich seit Jahrzehnten insbesondere für die Interessen von Mieterinnen und Mieter stark machen und einen umfassenden öffentlichen Wohnungssektor fordern.

Doch wenden wir uns dem zu, worüber breit berichtet wird – der Bundestagswahl in Deutschland. Die Ergebnisse lauten: 9,7 Millionen Menschen im wahlberechtigten Alter – rund eine Million mehr als vor vier Jahren – durften nicht zur Wahl gehen, weil sie keinen deutschen Pass haben. 14,3 Millionen oder ein knappes Viertel der Wahlberechtigten ging erst gar nicht zur Wahl. Weitere 4 Millionen (8,6%) machten ihr Kreuz bei Kleinparteien, deren Ergebnis jeweils unter der undemokratischen Fünf-Prozent-Hürde blieb. Die Wahlsiegerin SPD erhielt 11,9 Millionen Stimmen, was 25,7 Prozent der Wählerinnen und Wähler oder 19 Prozent der Wahlberechtigten und weniger als 15 Prozent der Bevölkerung im wahlberechtigten Alter entspricht. Nochmals dürftiger waren die Ergebnisse von CDU/CSU, Grünen und FDP. Diese Gesamtveranstaltung bezeichnete der Grüne Cem Özdemir als „das Hochamt unserer Demokratie“2

Nein, ich mache mich keineswegs über die Wahlen lustig. Es ist gut, dass es sie als einigermaßen freie gibt. Und selbstverständlich habe ich (die LINKE) gewählt. Doch analysiert werden müssen die Verhältnisse, wie sie sind. Wobei das, was jetzt nach der Wahl stattfindet, nochmals erbärmlicher ist als die nackten Ergebnisse. Der Zweitplatzierte will eine „Zukunftskoalition“ mit FDP und Grünen bilden. Die beiden kleineren Parteien erklären noch am Wahlabend, dass sie eine Regierung mit der Union der Verlierer nicht ausschließen. Gelingt Olaf Scholz am Ende die Bildung einer Regierung, dann wird derjenige Kanzler, der 2020 in zwei SPD-internen Wahlgängen um den Parteivorsitz unterlag – und dessen Politik von einer Mehrheit der SPD-Mitglieder als wenig sozial und nicht ökologisch ausgerichtet angesehen wird.3

Drei Dinge sind damit ausgemacht: Erstens, dass es sich bei der neuen Regierung um eine politisch schwache handelt, bei der die Gemeinsamkeit im Wesentlichen darin besteht, dass alle Beteiligten an die Futtertröge wollen. Nach 16 Jahren mit relativ stabiler Merkel-Regierung nähert sich die BRD auf diesem Gebiet dem EU-Normalmaß. Zweitens, dass diese Regierung einen grundsätzlich unsozialen Charakter haben wird. Sie verfolgt das Ziel der Einhaltung der Schuldenbremse. Sollte sie erkennen, dass Mehrausgaben – beispielsweise für Klimaschutz – notwendig werden, wird sie die entsprechenden Gelder nicht bei den Besserverdienenden und den hochprofitablen Unternehmen, sondern bei den kleinen Leuten holen – über „Rentenanpassung“, höhere Sozialbeiträge, steigende Energiepreise oder eine Mehrwertsteuererhöhung. Drittens, dass diese Regierung in keiner Weise den Aufgaben, die sich ihr stellen, gewachsen sein wird. Beschränken wir uns auf den Klimasch utz. Alle relevanten Player einer neuen Bundesregierung setzen auf rein marktwirtschaftliche Mechanismen zur Reduktion der Treibhausgase. Von einer „Entfesselung der Marktkräfte“ schwärmt Laschet. Von einer „industriellen Modernisierung“ schwadroniert Scholz. Für Baerbock gibt es „einen Weg der Klimaneutralität, den die Industrie bereits eingeschlagen hat“.4 Tatsächlich wirken die Marktmechanismen in die entgegengesetzte Richtung. Das ist so bei einer Konzentration auf eine CO2-Bepreisung, die als Alibi dafür herhalten muss, dass auf wirksame Maßnahmen wie Kerosinsteuer, Wegfall der Dienstwagensubventionierung und Tempolimits 120/80/30 verzichtet wird. Das wird besonders deutlich beim Elektroauto-Wahn, für den es nicht zufällig eine große Koalition, bestehend aus Union, SPD, Grüne, FDP und dem Verband der Autoindustrie gibt und in der sich Scholz und Laschet beim Lob für das neue Tesla-Werk in Grünheide zu übertrumpfen vers uchen.

Ein wesentlicher Faktor für den mangelnden Enthusiasmus des Wahlvolks besteht in der Politiker-Müdigkeit. Und ich meine es so, wie formuliert; die Rede ist nicht von „Politik-Müdigkeit“. Die Erfahrungen der Menschen mit der offiziellen Politik sind schlichtweg abstoßend. Ein Beispiel: Es gab mehr als ein Jahrzehnt lang eine deutliche Mehrheit gegen den Bundeswehreinsatz in Afghanistan. Im Bundestag stimmten jedoch immer gut 80 Prozent für eine Verteidigung der Freiheit Deutschlands am Hindukusch. Und wie reagierte jüngst „die Politik“ auf den Kollaps von Nato und USA in Kabul? Man müsse jetzt den Aufbau einer EU-Armee beschleunigen, um autonom Auslandseinsätze durchführen zu können. Olaf Scholz tönt: „In dieser Legislaturperiode haben wir den größten Aufwuchs für die Bundeswehr […] geschafft – ein Zuwachs von 36 Prozent. Das ist etwas, was ich aus tiefster Überzeugung für richtig halte.“5 Allein diese Aussage ist ein Offenbarungseid für einen potentiellen Bundeskanzler und insbesondere für einen Sozialdemokraten: 14 Prozent der Kinder in diesem Land leben in Hartz-IV-Haushalten. Millionen Existenzen sind wegen (berechtigter) Pandemie-Maßnahmen bedroht. Weit mehr als 100.000 Stellen fehlen im Bereich Krankenhäuser. Bei all diesen Themen heißt es, es gebe „kein Geld“. Doch der Kanzler in spe hält immense Steigerungen der Rüstungsausgaben „aus tiefster Überzeugung für richtig“.

Der Politik müde sind die Menschen nicht unbedingt. Am 24. September waren erneut Zehntausende Fridays-for-Future-Jugendliche auf den Straßen, um für eine wirksame Klimapolitik zu werben. Ein paar Tausend Bahnbeschäftigte zeigten, wie wirksam Streiks sein können. In Berlin stimmten die erwähnten 56 Prozent für eine ENTEIGNUNG der großen Wohnungskonzerne – obgleich die SPD-Spitzenkandidatin „Enteignung“ als „rote Linie“ brandmarkte. Wenn dann die LINKE, die in der Hauptstadt als einzige diese Kampagne – wenn auch nicht mit voller Kraft – unterstützte, nur 14 Prozent der Stimmen erhält, dann wird auch hier just dieser Widerspruch deutlich: Man traut der offiziellen Politik aus guten Gründen nicht. Schließlich ist bislang die LINKE Teil eines rot-rot-grünen Senats, der beispielsweise die Berliner S-Bahn zerschlagen und privatisieren will.6

Immer mehr Menschen wissen: auf die eigene Kraft, auf Basismobilisierung, auf Streiks kommt es an! Gegen einen abgehobenen Bahnvorstand! Gegen die Hambacher-Forst-Zerstörer! Gegen Mietenhaie! Für eine menschenwürdige Zukunft!

Anmerkungen:

1 FAZ vom 28. September 2021.

2 Anne Will, ARD, 26. September 2021.

3 Im ersten Wahlgang erhielt das Duo Olaf Scholz – Klara Geywitz 22,7 Prozent, im zweiten waren es 45,3 Prozent – gegenüber 53,1 Prozent, mit denen Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans als Parteivorsitzende gewählt wurden.

4 Baerbock-Aussage in der „Elefantenrunde“ vom 26. September 2021.

5 Interview in Welt am Sonntag vom 12. September 2021.

6 Wie bereits bei früheren Wahlen der Fall, gewannen erneut explizit linke LINKE-Kandidatinnen und Kandidaten deutlich, wohingegen eher angepasste LINKE-Kandidierende vielfach verloren. Bei den Berliner Wahlen zum Abgeordnetenhaus erzielte Jorinde Schulz im Neuköllner Wahlkreis 1 30 Prozent und Lucy Redler in Neuköllner Wahlkreis 2 26,6 Prozent (Erststimmen). Das waren jeweils deutlich Zuwächse – wohingegen die LINKE stadtweit (leicht) verlor.

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