Sieben Thesen zur Notwendigkeit eines geordneten Ausstiegs der Peripherieländer aus dem Euro und eine Schlussfolgerung
Winfried Wolf. Lunapark21 – Heft 22
Die aktuelle Debatte um den Euro sollte in den größeren Zusammenhang der EU selbst, also der 1996 gegründeten EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) bzw. EG (Europäische Gemeinschaft) gestellt werden. Mit diesem Rückgriff wird auch klar, dass es um mehr geht als um die Einheitswährung, die in dem größten Teil der EU inzwischen vorherrscht.
1. EWG/EG/EU und Euro waren immer Projekte des Kapitals und immer vor allem von deutschen Kapitalinteressen bestimmt. Fortschrittliche Zielsetzungen waren damit nie verbunden.
Am Ursprung standen die Union der ehemaligen Rüstungs-, Kohle- und Stahlunternehmen (EGKS), der Zusammenschluss der Atomindustrie zu Euratom und die Bildung einer „Europäischen Verteidigungsunion (EVU)“. Auf dieser Grundlage wurde 1957 die EWG mit dem ungleichen Tandem Westdeutschland-Frankreich gebildet. Die europäische Einheitswährung ist ein altes Projekt der deutschen Kapitalkreise.[1] Das wurde seit den 1980er Jahren in der EG/EU debattiert und findet sich im Vertrag von Maastricht wieder. Der Euro wurde zu dem Zeitpunkt eingeführt, als auch die maßgeblichen deutschen Kapitalkreise in diesem ein Instrument zur Durchsetzung ihrer Interessen erkannten. Theo Waigel formulierte 1997 als deutscher Finanzminister unmißverständlich: „Der Sitz der Europäischen Zentralbank wird Frankfurt sein oder aus der Veranstaltung wird nichts.“
2. Das Projekt einer europäischen Freihandelszone beinhaltete immer auch die Option eines europäischen Nationalstaats als imperialistischem Gegenpol zu den USA. Allerdings war die EWG in den ersten Jahrzehnten ihrer Existenz eng mit US-Interessen verbunden. Und die heutige EU scheint sich erneut in Richtung Partnerschaft mit den USA zu bewegen.
Bei Gründung des EWG 1956 konnte keine Rede davon sein, dass diese Freihandelszone eine Konkurrenz zu den USA werden könnte. Die USA dominierten den Weltmarkt. Am 6. Dezember brachte John F. Kennedy in einer Rede vor dem US-amerikanischen Industriellenverband das Verhältnis USA/ EWG wie folgt auf den Punkt: „Es handelt sich (bei der EWG) um ein geschichtliches Zusammentreffen von Notwendigkeit und großen Möglichkeiten; in demselben Augenblick, in dem wir dringend eine Steigerung unserer Exporte brauchen, um unsere Zahlungsbilanz zu schützen und unsere Truppen im Ausland zu bezahlen, entsteht jenseits des Atlantiks dieser gewaltige neue Markt.“[2]
Der wirtschaftliche Niedergang der USA und der kurzzeitige Aufschwung der EU Anfang der 1990er Jahre beflügelte Bestrebungen, die EU als wirtschaftliche und perspektivisch auch militärische Gegenmacht zu den USA aufzubauen. Die Krise in der EU, der neue Aufschwung Nordamerikas, die nach dem 11. September 2001 eher nochmals gefestigte militärische Hegemonie der USA und insbesondere der wirtschaftliche Aufstieg Chinas veränderten die strategischen Optionen. Aktuell steht ein neues transatlantisches Bündnis USA-EU mit der perspektivischen Frontstellung gegen China auf der Tagesordnung. Ein Ausdruck davon ist die Bildung der Troika, in der der Internationale Währungsfonds, der stark von US-Interessen bestimmt wird, maßgeblicher Bestandteil ist.
3. Nirgendwo in der kapitalistischen Welt hatte jemals eine gemeinsame Währung für mehrere unterschiedlich starke Nationalstaaten bei Weiterexistenz nationaler Politiken Bestand.
Das Scheitern der Skandinavischen Währungsunion (1885-1924) mit der Rückkehr zu den alten nationalen Währungen ist beispielhaft, wobei hier mit Schweden, Dänemark und Norwegen vergleichbar starke Ökonomien zu einer Währungsunion zusammengeschlossen waren. In der Nordatlantischen Freihandelszone NAFTA (USA, Kanada und Mexiko) herrscht zwischen Mexiko als wirtschaftlich relativ schwachem Land und den USA bzw. Kanada als starken Ökonomien ein vergleichbares Gefälle wie im Euroraum zwischen Deutschland und Spanien oder Italien. In dieser Freihandelszone wird eine Einheitswährung erst gar nicht ernsthaft diskutiert. Der mexikanische Peso wird gegenüber dem US-Dollar kontinuierlich abgewertet: 1994, beim NAFTA-Start, löhnte man drei Peso für einen US-Dollar, heute sind es 12,5 Peso.
4. Es gab einen gescheiterten Euro-Testlauf – das Europäische Währungssystem (EWS).
1979 wurde das Europäische Währungssystem (EWS) geschaffen. Es band fast alle EG/EU-Währungen eng aneinander, auch das britische Pfund. Es verfügte über Ausgleichsmechanismen und Flexibilität. Dennoch brach 1993 das EWS im Gefolge der Krise 1991/92 zusammen. 1993 waren die Währungen der damaligen Peripherieländer Portugal, Spanien und Italien gegenüber der DM des Jahres 1979 um 75, 54 und 52 Prozent abgewertet. Selbst die Währungen eher starker Länder wie Großbritannien und Frankreich mussten Abwertungen um rund 33 Prozent hinnehmen.[3] Diese Relationen im 14-Jahres-Zeitraum des EWS entsprechen ziemlich genau den Schätzungen, wie stark heute, 14 Jahre nach Einführung des Euro, Abwertungen im Euroraum stattfinden müssten – wenn es denn noch nationale Währungen geben würde. Weil das dank des Korsetts Euro nicht stattfindet, wird ein Peripherieland nach dem anderen in die Arme der Troika getrieben.
5. Das Euro-Desaster wurde vorhergesehen. Doch das wollen die Propheten von Ende der 1990er Jahre nicht mehr wissen.
Der damalige Fraktionsvorsitzende der PDS im Bundestag, Gregor Gysi, argumentierte am 23. April 1998 im Bundestag: „Das heißt doch, wir wollen (mit dem Euro) den Export Deutschlands erhöhen und damit die Industrie in Portugal, Spanien und anderen Ländern schwächen. Die werden verostdeutscht, weil sie diesem Export nicht standhalten können. Das (wird) zu einer weiteren Spaltung in Europa führen.“
Es kam noch wesentlich schlimmer. Da irritiert es erheblich, dass man sich an diese Vorhersagen und an die Plakate der PDS „Euro – so nicht!“ nicht erinnern will, dass daraus keine Konsequenzen gezogen werden – und dass man ausgerechnet jetzt glaubt, der Euro ließe sich „demokratisieren“.
6. Die wirkungsmächtigen Konzepte zur Vervollständigung des Euro vertiefen die Krise und laufen auf einen autoritären Euro-Staat hinaus.
Seit Ausbruch der Euro-Krise vor gut drei Jahren wurde aus dem Sonderfall Griechenland der Normalfall Euroraum-Peripherie. Mit den (ganz oder halb) unter den Schutzschirm geflüchteten Ländern Griechenland, Spanien, Portugal, Irland, Zypern und Slowenien sind bereits 70 Millionen Menschen von den Troika-Programmen mit Sozialabbau, Kahlschlag-Privatisierung, vertiefter Krise, Hochschnellen der Arbeitslosigkeit und Entmachtung der nationalen Parlamente betroffen. In Kürze werden auch Italien und Frankreich „verostdeutscht“ werden. Selbst wenn in Deutschland die Löhne real etwas steigen und die Arbeitszeiten wieder verkürzt werden sollten (was es ja gerade 1979 bis 1993 gab, als dennoch die genannten Abwertungen stattfanden!) würde dies am grundsätzlichen Ungleichgewicht wenig ändern. Sollte das Krisenmanagement der Troika Erfolg haben, dann wird die gesamte EU nach dem Vorbild dieser Technokraten-Diktatur umgemodelt werden.
7. Eine fortschrittliche Position „Der Euro ist ein historischer Fortschritt“ müsste auch europaweit vertretbar sein. Das ist nicht der Fall.
Es gibt gute Gründe für Linke in Großbritannien, Dänemark, Schweden, Polen, Ungarn und in Tschechien, ganz zu schweigen von der Schweiz, Norwegen oder gar Island, eine Einführung des Euro abzulehnen. Wer in diesen Ländern für die Einführung des Euro plädiert, setzt sich dem begründeten Verdacht aus, für die Hegemonie der deutschen Konzerne und Banken einzutreten. Es leuchtet nicht ein, warum dieser Argumentationsstrang in den Nicht-Euro-Ländern Gültigkeit hat, dann aber im Kern der Eurozone, etwa in Deutschland und Österreich, der Euro Ausdruck eines historischen Fortschritts sein soll.
Bilanz und Folgerung: Der Euro ist die Krönung der EU als Projekt der großen Konzerne und Banken. Er ist inzwischen das entscheidende Element zur Strangulierung der schwachen EU-Ökonomien und zur Durchsetzung deutscher Kapitalinteressen. Ein organisierter Rückzug zumindest der Peripherieländer aus der Einheitswährung, flankiert von Kapitalverkehrskontrollen und radikalen Schuldenschnitten, ist sinnvoll, wenn eine weitere Vertiefung der Krise der gesamten EU vermieden werden soll.
Entscheidend bleibt jedoch all das, was die Gegenmacht zu den Banken und Konzernen stärkt: Arbeitszeiten verkürzen, Löhne rauf, Hartz IV weg, Mindestlöhne her, direkte Demokratie erproben: Arsch huh, Zäng ussenander & Blockupy – und vor allem praktizierte Solidarität mit denen, die von der EU, dem Euro und der Troika platt gemacht werden.
Anmerkungen:
[1] „Die Einigung Europa ist eine zwangsläufige Entwicklung. (…) Es besteht (…) das Ziel (…) einer europäischen Zollunion und eines freien europäischen Marktes, fester innereuropäischer Währungsverhältnisse mit dem späteren Ziel einer europäischen Währungsunion.“ Aus: Denkschrift des deutschen Auswärtigen Amtes „über die Schaffung eines europäischen Staatenbundes“ vom 9. September 1943. Natürlich gibt es keinen nahtlosen Brückenschlag von den NS-Plänen zur aktuellen EU. Es sollte jedoch zu denken geben, dass sich die NS-Planer klar darüber waren, wie vorteilhaft eine solche „europäische Währungsunion“ für die Durchsetzung der deutschen Kapitalinteressen sein würde.
[2] Wiedergegeben in: Archiv der Gegenwart vom 7. Dezember 1991, S. 9527.
[3] Um es in „Pkw-Währungen“ zu formulieren: Der Fiat Ritmo (heute: Fiat Uno) konnte damals gegenüber einem VW Golf nur dadurch konkurrenzfähig bleiben, dass die Lire um 52 Prozent abgewertet, das Pkw-Modell Ritmo also um 50 Prozent preiswerter wurde.