Das Waldsterben.

Uups: Der Waldzustand

Waldzustand (1)

Der Zustand des Waldes in Westdeutschland, Österreich und der Schweiz verschlechterte sich Anfang der 1980er Jahre dramatisch. „Das Waldsterben“ rüttelte die Öffentlichkeit wach. Das hatte auch damit zu tun, dass es eine breite Umweltbewegung gab, unter deren Druck die Regierungen standen. Das war in der Bundesrepublik Deutschland ab 1982 eine CDU/CSU-FDP-Regierung unter einem Kanzler Helmut Kohl. Die Wissenschaft ging damals davon aus, dass insbesondere die Verbindung von Stickoxiden mit Ozon den Stoffwechsel bei Pflanzen und Bäumen behindern und die Bäume schädigen würden. Der Begriff „Saurer Regen“ war in aller Munde. In dieser Situation gab es für die Politik zwei Möglichkeiten zu reagieren: Man konnte die Lage leugnen und relativieren. Und man konnte die Öffentlichkeit mit Informationen überschütten und den Eindruck erwecken, man nehme das Thema sehr ernst. Die Bundesregierung entschied sich für die zweite Variante. Kreiert wurd e der jährlich zu erstellende „Waldschadensbericht“. Eine der ersten Maßnahmen war dann die Umbenennung der Berichte in „Waldzustandsberichte“. Auf Länderebene wurde beschlossen, regelmäßig Berichte zu erstellen. Seither sind mehr als tausend neue Jobs entstanden. Es werden Jahr für Jahr mehr als tausend Seiten Papier beschrieben. Wald wird kategorisiert, vermessen, bewertet. Es gibt eine regelmäßige Bundeswaldinventur: ein Bundeswaldgesetz, ein forstliches Umweltmonitoring, Maßnahmen des „Waldumbaus“, Zielsetzungen wie „klimaresilienter Wald“, Symposien mit Titeln wie „Die Baumarten im Hessischen Wald der Zukunft“ – schlicht & einfach: Es gibt auf dem Gebiet fast alles – nur keine Fortschritte.

Großversuch Tempo 100

Sehr schnell rückte der Straßenverkehr ins Zentrum der Debatte. Mehr als 50% der schädigenden Emissionen wurden diesem angelastet. Gefordert wurde ein Tempolimit. Auch hier gab es eine vergleichbar perfide-kluge Reaktion: Die Bundesregierung behauptete, man benötige nunmehr genaue Daten „gemessen im Realbetrieb“. Es wurde ein „Großversuch Tempo 100“ beschlossen. Teilstrecken des Autobahnnetzes wurden als „Teststrecken“ für den „Großversuch“ ausgewiesen. Dieser begann im Februar 1985; er endete im November desselben Jahres. Am 21. November 1985 tat Bild kund: „Millionen Bundesbürger können aufatmen“. Laut TÜV gäbe es bei Tempo 100 „nur ein sehr geringes Einsparungspotential“ bei den Emissionen. In Wirklichkeit waren die Rahmenbedingungen des „Großversuchs“ bewusst falsch gesetzt worden. Das Ziel war erreicht: Die scheinbar wissenschaftlichen Ergebnisse würgten jede weitere Diskussion ab.

Die Nachbarn: „le Waldsterben“

In der DDR, in der CSSR, in Polen und auch in Frankreich gab es vergleichbare Befunde von sterbenden Wäldern. Hier wurde jedoch die erstgenannte Politikvariante gewählt: der reale Zustand wurde ignoriert. Am 8. Januar 1986 veröffentlichte die französische Tageszeitung Libération Teile eines vertraulichen Berichts der staatlichen Forstverwaltung. Danach waren zu diesem Zeitpunkt in den Vogesen bereits 19,9% aller Nadelbäume „schwer beschädigt“. Nicht ganz so drastische, aber ebenfalls bedrückende Verhältnisse wurden für die Nordalpen und das Zentral Massiv gemeldet. Diese Fakten fanden jedoch keinen Eingang in eine offizielle Statistik. Mehr noch: Man tat so, als gäbe es kein französisches Wort für die Entwicklung und sprach von „le waldsterben“ – eine Art spezifisch-deutsche Gemütsverfassung, erklärlich, da bekanntlich im deutschem Liedgut „le Wald“ eine große Rolle spielt.

Waldzustand (2)

Im erstens Waldschadensbericht des Jahres 1983 galten 34% des Waldes als geschädigt. Im 1986er Bericht waren es bereits 54%. Der damals auch für den Bereich Umwelt verantwortliche Innenminister Friedrich Zimmermann erkannte dennoch Positives: „Wir konnten das Wachstum der Waldschäden massiv abbremsen.“ Ende der 1980er Jahre verschwand das Thema Waldschäden weitgehend (und der Begriff „Waldsterben“ ganz) aus den öffentlichen Debatten. Nicht verschwunden waren jedoch Emissionen und Schädigungen. Vor allem kam es in den letzten 35 Jahren zur verstärkten Wechselwirkung zwischen Klimawandel, Schadstoffeinträgen, Stürmen, Hitze und Trockenheit und Borkenkäferbefall. Am 24. Oktober 2020 konnte man dann in der Süddeutschen Zeitung lesen: „Das Drama des Waldes ist allmählich im nationalen Bewusstsein angekommen.“ Ach ja?

Laut Waldzustandsbericht 2020, vorgelegt im Februar 2021, ist der Anteil der Bäume „mit deutlicher und mittlerer Kronenverlichtung“ 2020 erheblich gestiegen. Lichte Kronen haben demnach bundesweit „79% aller Fichten und jeweils 80% aller Kiefern und Eichen sowie 89% aller Buchen.“ Im Grunde sind jedoch die in dem Bericht hundertfach genannten, unterschiedlichen Prozentangaben uninteressant, zumal in den vergangenen 36 Jahren die Kategorien, Begriffe und Bewertungen immer wieder verändert wurden. Tatsache ist: Der 2020er Bericht belegt den „schlechtesten Zustand [des Waldes] seit Beginn der Erhebungen im Jahr 1984.“ Es gibt in weiten Bereichen genau das, was Anfang dieser Debatten im Zentrum stand: das Waldsterben. Wobei es dafür bereits wieder Begriffe gibt, die alles weichspülen. So werden wir informiert, dass „die Anpassungskapazität unserer Wald-Ökosysteme überstrapaziert werden“ könnte. Im Übrigen wird massenhaft Wald für noc h mehr Straßen, noch mehr Autos, noch mehr Logistikzentren und Autofabriken abgeholzt – siehe Dannenröder Forst, siehe Tesla-Fabrik (siehe Seite 58 ff). Das Kapital giert nach dem Corona-Jahr nach neuem Wachstum, also nach mehr Emissionen (siehe Seite 38 ff und 53 ff), was Widerstand zur Pflicht macht (siehe Seite 73 ff).