Das Projekt Lightspeed – die Produktion des Biontech-Impfstoffes

Unterschätzte Sprünge

Selten hat eine Abendlektüre so bedeutsame Konsequenzen gehabt. Am Freitag, dem 24. Januar 2020, entnahm Ugur Sahin einer Meldung in The Lancet, dass der Krankheitserreger SARS-CoV-2 oder Covid 19 von Mensch zu Mensch und auch ohne Krankheitssymptome weitergegeben werden könne.

Wenn alle Menschen anfällig waren, die Inkubationszeit zwei Wochen, die Übertragungsrate zwei bis sieben und die Sterblichkeit 0,3 bis 10 Prozent der Infizierten betrug, wären mehr als zwei Millionen Todesfälle zu erwarten, errechnete der Arzt in Mainz. Das wären mehr als bei der Spanischen Grippe in den 1920er Jahren.

Als Fachleute und Gesundheitsorganisationen noch beruhigten, die Epidemie würde sich lokal halten lassen und in kurzer Zeit auslaufen, ließen die Gründer und Inhaber von Biontech, das Ärzteehepaar Özlem Türeci und Ugur Sahin, die gesamte Firma innerhalb einer Woche auf die schnelle Entwicklung eines Impfstoffes auf mRNA-Basis ausrichten. Das Kürzel steht für messengerRibonukleinsäure, m für messenger, englisch Bote und A für acid, englisch Säure. Auf solcher Basis hatte Biontech individualisierte Impfstoffe gegen Krebserkrankungen entwickelt.

Joe Miller, ein in Frankfurt lebender Journalist der Financial Times, schildert auf Grundlage von Interviews mit Özlem Türeci und Ugur Sahin, deren leitenden Mitarbeitern und Geldgebern, die Entwicklung und Produktion des Corona-Impfstoffes von Biontech von der ersten Formulierung einer Strategie am 27. Januar 2020 bis zum 8. November 2020, als bekannt wurde, dass eine Doppelblind-Studie an über 43.000 Personen in sechs Ländern eine Wirksamkeit von über 90 Prozent ergeben hatte.

Das Original „The Vaccine“ erschien in Englisch für das britische Publikum, und erläutert deshalb nebenbei die Besonderheiten des deutschen Zulassungsverfahrens von Impfstoffen.

Das Mainzer Forscherpaar gehört zur zweiten Generation der „Gastarbeiter“, Ugur Sahin ist der Sohn eines Ford-Arbeiters in Köln und Özlem Türeci Tochter eines Chirurgen aus der Türkei, der wegen der Kurdenfrage nach Lastrup in Niedersachsen ging. Beide arbeiteten nach dem Medizinstudium an Impfstoffen gegen Krebs, als sie sich im saarländischen Homburg in der Klinik trafen.

Wie klassischer Impfstoff sucht der Biontech-Impfstoff, eine Immunreaktion des Körpers zu provozieren. Dazu benutzt er aber keine Viren oder deren Bestandteile, die im üblichen Verfahren inaktiviert durch Injektion in den Körper gebracht werden, so dass das Immunsystem lernt, in Zukunft das Virus zu erkennen und zu zerstören. mRNA-Impfstoffe von Biontech oder Moderna hingegen benutzen keine Virusbestandteile, sondern Botenstoffe, die die Information über einen Teil des Virus enthalten und in den Fabriken der Zelle, den Ribosomen, vom Körper produziert werden sollen. Erst auf die vom Körper selbst produzierten Virenbestandteile entsteht dann die neu gelernte Immunreaktion. So kommt der Körper nicht mit dem krankheitserregenden kompletten Virus in Berührung, und es müssen auch keine Viren für einen Impfstoff gezüchtet werden. Der Botenstoff enthält nur die Information zum Bau des Andockstachels des Virus, dem sogenannten Spike, dessen Vorhandensei n dann die Immunabwehr aktiviert.

Der Biontech-Impfstoff beruht also auf der Verwendung und Produktion von messengerRibonukleinsäure, also auf Botenstoffen, die als einsträngige Kopien von Abschnitten der Träger von Erbinformation, der DNA, Teilinformationen in die Ribosome, die peripheren Fabriken der Körperzellen, bringen. Özlem Türeci und Ugur Sahin hatten diese einsträngigen Botenstoffe erforscht als Teil einer Strategie, das Immunsystem des Körpers gegen körpereigene Krebszellen zu aktivieren und dabei die vielfältigen Immunantworten im menschlichen Körper zu nutzen.

Bis zum 27. Januar 2020, als das Project Lightspeed (Lichtgeschwindigkeit) der Entwicklung eines mRNA-Impfstoffes gegen Covid-19 begann, hatten sie relativ erfolgreich 400 Patienten mit Impfstoffen auf mRNA- Basis behandelt. Dabei ging es um eine individuell abgestimmte Produktion von Stoffen, die das Immunsystem gegen den spezifischen Krebs des jeweiligen Patienten aktivierten. Statt wie bisher einen spezifischen Stoff für eine Person möglichst rasch zu produzieren, bevor der Patient starb, sollte jetzt für einen spezifischen Virus und dessen Mutationen möglichst schnell Impfstoff millionenfach hergestellt werden.

Die Prüfung

Um während des Verlaufs der Pandemie noch eingreifen zu können, musste das Entwicklungs- und Zulassungsverfahren wesentlich schneller erfolgen als in den üblichen mindestens sechs Jahren. Das Prüfverfahren durch das Paul-Ehrlich-Institut ließ keine der notwendigen Stufen und Prüfungen aus, aber verkürzte die Gesamtzeit des Zulassungsverfahrens, indem parallel gearbeitet und unverzüglich kommuniziert wurde.

Dabei erwies sich als Vorteil, dass relativ rasch aus 20 vorhandenen erprobten Impfstoffen gegen Krebs Impfstoffkandidaten ausgewählt werden konnten, die nun die Information über einen Virusbestandteil in die Ribosomen bringen sollten. Mit den klinischen Studien an freiwilligen Probanden wurde begonnen, sobald die Ergebnisse der toxikologischen Studien vorlagen, der endgültige Bericht der Toxikologie aber noch nicht ausgefertigt war.

Weil es kein Heilmittel gegen COVID-19 gab, war eine bewusste Infektion von freiwilligen Probanden aus ethischen Gründen ausgeschlossen. Deshalb musste eine Doppel-Blind-Studie – weder die Organisatoren noch der Arzt oder die Probanden wussten, wer den Impfstoff oder ein Placebo erhielt – in den Ländern stattfinden, in denen ein ausreichendes Infektionsrisiko bestand.

Um die Prüfung auf Wirksamkeit an Zehntausenden von Probanden überhaupt durchführen zu können, wurde der amerikanische Pharmaziekonzern Pfizer zur Hälfte an Biontech beteiligt, an Kapitalzuschüssen, Gewinnen und Verlusten, wobei sich das Forscherehepaar die Letztauswahl der Impfstoffkandidaten vorbehielt.

Nachdem sich ein Impfstoffkandidat abzeichnete, nämlich die Variante BNT162b2, die den Virus-Spike vollständig kodierte und zusätzlich durch Modifikation der mRNA eine starke T-Zellen-Antwort hervorrief, die vom Virus befallene Zellen zerstört, wurde die entscheidende Doppelblind-Studie in sechs Ländern begonnen. Als die Zahl von 94 Erkrankungen in der Probandengruppe erreicht war, wurde die Studie „entblindet“: Von 43.538 geimpften Probanden, von denen die Hälfte zweimal BNT162b2 erhalten hatte, erkrankten nur vier Personen, die übrigen 90 Erkrankten dagegen hatten das Placebo bekommen.

Die unterschätzte Produktion

Mit der Kenntnis seiner Wirksamkeit von über 90 Prozent begann die Produktion des Biontech-Impfstoffes mit dem Namen Tozinameran in gleicher Weise, wie bereits die der Krebsimpfstoffe und der Impfstoffe für die Studien stattgefunden hatte – nur eben nicht mehr in Zehntausenden Dosen, sondern für Millionen und Milliarden von Patienten.

Der modifizierte Botenstoff wird im Prinzip nicht durch Zerlegen des Virus erzeugt, sondern durch synthetischen Zusammenbau einer Molekülkette. Dafür wird auch nicht ein Virusbestandteil als physikalische Vorlage benutzt, sondern nur die Information darüber, welche Aminosäuren und Molekülgruppen in welcher Reihenfolge im Molekül verkettet sind.

Der Produktionsprozess des Impfstoffes erfordert 50.000 Arbeitsschritte vom Start bis zur fertigen Impfdosis, die Charge selbst wird dabei in rund zwei Tagen hergestellt und der Impfstoff anschließend mit Fett-Tröpfchen umhüllt, abgefüllt und etikettiert. So etwas geht nur mit elektronischer digitaler Steuerung, wie überhaupt die Analyse der Reihenfolge von Basensequenzen in der Erbinformation nur möglich war durch DNA-Sequenzier-Automaten, die komplexe chemische und physikalische Analyseschritte durchführen.

Der Nachbau in Mengen von bestimmter mRNA in einer bestimmten Molekülstruktur erfordert eine exakte Kontrolle aller Produktionsschritte und benutzten Komponenten und Hilfsstoffe, weil beispielsweise eine Änderung in der Abfolge zu einer abweichenden Faltung des Moleküls mit anderer Wirkung führen kann.

Das kurz vor der Finanzkrise 2008 gegründete und börsennotierte Unternehmen Biontech ist am Impfstoffprojekt mit dem amerikanischen Konzern Pfizer zur Hälfte beteiligt. Biontech erzielte im 3. Quartal 2021 auf einen Umsatz von 6,1 Milliarden Euro einen Betriebsgewinn von 4,7 Milliarden Euro, einen Nettogewinn von 3,2 Milliarden Euro, also eine Umsatzrendite von 77 Prozent. Nach dem Willen des Gründerpaares soll die ihnen zustehende Hälfte der Biontech-Erträge in die Entwicklung weiterer Impfstoffe gesteckt werden.

Das Forscherehepaar Türeci und 
˛ Sahin war von Anbeginn inhaltlich fokussiert – gebrauchswertorientiert, wenn man so will – wehrte Übernahmeversuche ab, wenn sie auf kurzfristige Gewinne aus waren, um mehr Zeit für die Optimierung der Krebsimpfstoffe zu haben, tauschte sich mit internationalen Fachleuten aus und setzte bei der Kalkulation nicht auf gewinnträchtiges Vorgehen, sondern im Falle des COVID-19-Impfstoffes darauf, dass möglichst schnell ein überhaupt wirksamer Impfstoff entstand.

Ihr Vorgehen müsste eigentlich der Traum des Innovations-Ökonomen Joseph Schumpeter sein. Sie konnten die Bedingungen und Möglichkeiten nutzen, die den Kapitalismus so unschlagbar machen: ein inhaltliches Ziel verfolgen, wirksame Medikamente für eine wichtige Krankheit entwickeln und dabei Geldgeber gewinnen, die auf langfristigen Nutzen statt auf kurzfristigen Profit setzten.

Weil mRNA individuell angepasst werden kann, entweder auf einen Patienten oder auf ein Virus und dessen spezifische Mutationen, und dennoch schnell in großen Mengen produziert werden kann, wird diese komplizierte Herstellungsweise künftig dennoch vielfach angewendet werden. Individuell wirksame Impfstoffe und Pharmazeutika können nicht in Massenstudien auf Wirkungen und Nebenwirkungen geprüft werden. Deshalb ist die Erfassung der Wirkungen auf die Patientinnen noch weitaus wichtiger als bei den Heilmitteln, die in Massen gleichartig hergestellt werden. Wissenschaftliche Forschung und staatliche Aufsichtsbehörden würden dem besser folgen können, wenn es ein anonymisiertes Meldesystem über Wirkungen und Nebenwirkungen – positive und negative – gäbe. Auf diese Weise wären Staat und Gesellschaft diesem revolutionären Verfahren zur Produktion pharmazeutisch wirksamer Substanzen überhaupt erst gewachsen.


Impfstoffe gegen Viren

Im Gegensatz zu Bakterien sind Viren eingehüllte „tote“ Erbinformationen, die sich erst in lebenden Zellen vermehren können, indem sie die zelleneigenen Fabriken zur eigenen Reproduktion nutzen. Außerhalb des Körpers zerfallen sie sehr schnell und werden wie im Falle des Corona-Virus in Wassertröpfchen durch die Luft getragen, bevor sie ggf. durch chemisch-physikalische Aktionen an Lungenzellen des Menschen andocken, eindringen und dort vermehrt werden.

„Tot-Impfstoffe“

gegen Viren sind eigentlich chemisch oder physikalisch inaktivierte Viren, die, ganz oder in Teilen dargereicht, das körpereigene Immunsystem aktivieren sollen wie die bereits benutzten chinesischen, indischen oder kubanischen Impfstoffe dieses Typs.

Wenn nicht gen-technische Verfahren zu Hilfe genommen werden sollen, lassen sich „Tot-Impfstoffe“ nur produzieren durch Züchtung ansteckender Viren in lebendem Gewebe, seien es Gewebekulturen oder Hühnereier. Anschließend werden die produzierten Viren chemisch oder physikalisch inaktiviert, wobei die Gefahr besteht, das Virus so zu verändern, dass eine Immunantwort fehlgeht, eine allergische Reaktion stattfindet oder sogar dem Virus ein Eindringen in die Zellen erleichtert wird.

Mutationen von Viren können nur innerhalb lebender Zellen entstehen, sie können sich aber verbreiten, wenn sie ansteckender, schneller übertragbar sind oder Impfstoffwirkungen umgehen können.

Labore, die inaktivierte-Viren-Impfstoffe herstellen, müssen deshalb sehr sicher gegen Verbreitung von Viren sein und mutierte Viren aus den Impfstoffen entfernen und deren Ausbrechen verhindern.

Vektorimpfstoffe

Um nicht mit gefährlichen Viren operieren zu müssen, benutzen Impfstoffe wie Oxford/AstraZeneca und Sputnik für Menschen harmlose Viren, an die Teile des Zielvirus geknüpft sind.

mRNA als Impfstoffe

Damit der Botenstoff überhaupt zu den Fabriken in der Zellperipherie gelangen kann, ist er verändert, damit der durch ihn produzierte isolierte Virus-Stachel stabil ist und jene physikalische Form annimmt, die es dem Virus ermöglicht, in die Zelle einzudringen. Zusätzlich ist er von kleinsten Tröpfchen verschiedener Fette umhüllt, um den Angriff von Enzymen auf dem Weg zum Ribosom zu überstehen. Nach der Verwendung als Information für den Aufbau von isolierten Virusstacheln zerfällt der Impfstoff im Körper und die Immunreaktion auf die von den Zellen selbst produzierten isolierten Virus-Stacheln beginnt.

Mehr lesen:

Was heißt Impfstoffgerechtigkeit? „Die Pandemie trifft uns alle, Europäer wie Afrikaner, aber sie trifft uns nicht alle gleich.“ Mit diesen Worten eröffnete Bundespräsident Fr...