Dass wir seit den 1980er Jahren verstärkt einen Prozess der Privatisierung erleben, ist bekannt. Dass „Privatisieren“ vom lateinischen Wort „privare“ kommt und dass dieses Wort recht treffend „berauben“ heißt, hat auch weitgehend die Runde gemacht. Dass die Bundesregierung als Vertreterin des Eigentümers, der Bevölkerung, auch im Fall des bestehenden öffentlichen Eigentums völlig verantwortungslos handelt, dass sie das ihr anvertraute öffentliche Gut so behandelt, als wäre es ein nicht öffentliches, ein bereits beraubtes, ein privates, ein außerhalb ihrer Verfügungsgewalt stehendes, ist im Detail kaum bekannt. Und soll im Folgenden am Beispiel der Deutschen Bahn AG dokumentiert werden.
Als Bundesbahn und Reichsbahn im Dezember 1993 unter dem Stichwort „Bahnreform“ zusammengeschlossen und in die Deutsche Bahn Aktiengesellschaft umgewandelt wurden, wurde das Grundgesetz, in dem bislang die Eisenbahn als rein staatliche verankert war, um einen Artikel 87e erweitert. Mit diesem sollte eine Teilbindung der Eisenbahn an öffentliche Zielsetzungen gewährleistet und einer rein am Markt orientierte Entwicklung im Bereich Schiene entgegengewirkt werden. Eineinhalb Jahrzehnte lang wurde dieser GG-Artikel so ausgelegt, als gebe es eine Bundesverantwortung zur gestaltenden Schienenverkehrspolitik lediglich hinsichtlich der Verkehrswege. Hier gab es in den letzten Jahren eine erfreuliche Veränderung. Es ließe sich auch sagen: Der Grundgesetztext, der eigentlich eindeutig ist, wurde endlich richtig gelesen. In diesem wird nämlich festgehalten, dass „der Bund gewährleistet, dass […] beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes sowie bei deren Verkehrsangeboten auf diesem Schienennetz, soweit diese nicht den Schienenpersonennahverkehr betreffen, […] dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere den Verkehrsbedürfnissen, […] Rechnung getragen wird.“[1]
Das aber heißt: Nicht nur der Bau und der Erhalt der Schienenwege hat die Vorgaben „Orientierung am Wohl der Allgemeinheit“ und an „den Verkehrsbedürfnissen“. Dies gilt auch für die Verkehrsangebote auf dem Schienennetz (soweit es sich nicht um den Nahverkehr handelt, der 1994 zur Ländersache wurde, wobei es auch hier ÖPNV-Gesetze auf Landesebene gibt, die ebenfalls vergleichbare Zielsetzungen wie eine Orientierung am Allgemeinwohl haben).
Der letzte Satz dieses GG-Artikels lautet: „Das Nähere wird durch Bundesgesetz geregelt.“ Das heißt: Im Dezember 1993 wurde mit der GG-Änderung beschlossen, dass es ein „Bundesgesetz“ geben werde, in dem geregelt wird, was „Orientierung am Allgemeinwohl“ bedeuten könnte – hinsichtlich des Baus der Schienenwege und der Angebote auf denselben. 23 Jahre nach dieser Verfassungsänderung gibt es ein solches Bundesgesetz immer noch nicht. Es gab drei oder vier Anläufe, ein solches Gesetz verabschieden zu lassen – doch diese wurden immer nur von einer Partei (PDS; DIE LINKE) eingebracht, die sich in der Parlamentsminderheit befand bzw. befindet. Seit dem 8. Dezember 2016 liegt im Bundesrat ein neuer Gesetzesantrag der Länder Rheinland-Pfalz, Brandenburg, Bremen, Saarland und Thüringen mit dem „Entwurf eines Gesetzes zur Gestaltung des Schienenpersonenfernverkehrs – Schienenpersonenfernverkehrsgesetz – SPFVG – vor“, mit dem den GG-Anforderungen entsprochen werden soll. Doch auch dieser Entwurf dürfte an der Mehrheit im Bundesrat scheitern.[2]
Wenn die Schienenpolitik sich nicht am Allgemeinwohl usw. orientiert, dann wird oft argumentiert: Aber die Deutsche Bahn AG sei doch eine Aktiengesellschaft und damit nicht der gestaltenden Politik unterworfen. Sieht man von dem zitierten Grundgesetz-Artikel einmal ab, so gilt: Diese Deutsche Bahn AG befindet sich – noch – zu 100 Prozent in Bundeseigentum. Mindestens zwei konkrete Versuche zu ihrer Privatisierung (2005-2008) bzw. zu einer Teilprivatisierung (2015/2016) sind bislang erfreulicherweise gescheitert. Solange es dieses uneingeschränkte Bundeseigentum gibt, ist es nicht nur möglich, sondern geboten, dass die Bundesregierung als Vertreterin des Bundes, der für die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland steht, ihrer Verantwortung für eine nachhaltige Schienenpolitik und eine Orientierung „am Allgemeinwohl“ gerecht wird.
Es ist sogar die aktuelle Bundesregierung, die als Ergebnis der leidvollen Erfahrungen vergangener Jahre, als vor allem in Zeiten des vorangegangenen Bahnchefs Mehdorn man oft den Eindruck hatte, dass der Schwanz mit dem Hund wedelt, konkretisierte, was aus der 100-prozentige Aktienmehrheit an der Deutschen Bahn AG folgt. Diese hielt im Herbst 2013 im Koalitionsvertrag fest: „Wir werden die Geschäftspolitik der DB AG noch stärker an diesen Zielen [der Nachhaltigkeit; W.W.] ausrichten, ohne die Wirtschaftlichkeit in Frage zu stellen. Dazu werden wir das Steuerungskonzept für die DB AG unter Berücksichtigung des Aktienrechts überarbeiten. […] Die Steuerung der DB AG im Aufsichtsrat wird von dem im für Verkehr zuständigen Bundesministerium angesiedelten Staatssekretär koordiniert.“[3]
Wie also hat die bestehende Bundesregierung nun dieses „Steuerungskonzept“ entwickelt? Am 10. Juli 2016 stellte ein Dr. Peter Kasten aus Göttingen dem Minister für Verkehr und Infrastruktur die entsprechende Frage. Er schrieb: „Sehr geehrter Herr Dobrindt! Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag vereinbart, um den Einfluss des Bundes auf das Staatsunternehmen Deutsche Bahn zu sichern, ein Steuerungskonzept zu erarbeiten. Nach drei Jahren ist meine Frage berechtigt, wie weit sind die Umsetzungen dieses Ziels gediehen?“ Der Herr Minister benötigte ein halbes Jahr, um dann – am 23. Dezember 2016 – wie folgt zu antworten (festgehalten auf Abgeordnetenwatch): „Sehr geehrter Herr Dr. Kasten, haben Sie vielen Dank für Ihre Frage. Die Steuerung der Deutschen Bahn AG im Aufsichtsrat wird vom zuständigen Staatssekretär im Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) im Rahmen der aktienrechtlichen Möglichkeiten koordiniert und auf dieser Grundlage werden die Interessen des Bundes eingebracht.“
Das heißt: Es gibt kein Steuerungskonzept. Im Aufsichtsrat sitzen sogar als Vertreter des Bundes, also des Eigentümers, ein Vertreter der Deutschen Bank (die höchst spezifische Interessen hat, aber kaum die der Allgemeinheit vertritt), der Präsident des Tourismusverbandes (dessen erklärtes Ziel vor allem die Förderung des in Konkurrenz zur Schiene stehenden Flugverkehrs ist), der Eigentümer der Georgsmarienhütte (die an die Deutsche Bahn AG u.a. ICE-Achsen liefert, also erneut höchst spezifische und eigene Interessen vertritt). Darüberhinaus stehen seit mehr als zwei Jahrzehnten an der Spitze der Bahn mit Heinz Dürr, Hartmut Mehdorn und Rüdiger Grube Bahnchefs, die aus der Daimler-Kaderschiede – also direkt von der Konkurrenz – kommen. Alle drei hatten bzw. haben sie keinerlei Erfahrung in Sachen Schienenverkehr.[4] Seit Ende der 1990er Jahre gibt es – erstmals seit 1835! – keine einzige Person im gesamten Vorstand der Deutschen Bahn, die Eisenbahn-Erfahrungen hat. Wobei es bislang immer hieß, diese Herren verfügten über große „Management-Erfahrungen“. Doch nun wurde am 14. Dezember 2016 mit Roland Pofalla ein Bahnvizechef und ein designierter kommender Bahnchef ernannt, der weder irgendeine Art von Eisenbahnerfahrung noch irgendeine Form von Management-Erfahrungen hat.
Die fünffache Bilanz lautet:
(1) Das öffentliche Eigentum Deutsche Bahn ist laut Verfassung „dem Allgemeinwohl“ verpflichtet. Daran hält sich niemand. Meist wird von den jeweiligen Bundesregierzungen offen erklärt, es gebe eine solche Verpflichtung am Allgemeinwohl nicht.
(2) Die Verfassung schreibt vor, dass ein „Bundesgesetz“ regeln würde, wie diese allgemeine Verpflichtung zu konkretisieren ist. Auf dieses Gesetz warten die Bahnbeschäftigten, die Fahrgäste und die Allgemeinheit seit mehr als 23 Jahren.
(3) Die Deutsche Bahn AG befindet sich zu 100 Prozent in Bundeseigentum. „Eigentum verpflichtet“ – öffentliches Eigentum sollte in besonderem Maß verpflichten. Doch dieser Verpflichtung kommt der Vertreter des Eigentümers nicht nach.
(4) Die Bundesregierung hat vor mehr als drei Jahren im Koalitionsvertrag zugesagt, endlich ein „Steuerungskonzept“ für den Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG zu entwickeln. Am Ende ihrer Legislaturperiode lässt sie mitteilen, dass es das Steuerkonzept nicht gibt und nicht geben wird.
(5) Die Bundesregierung als Vertreterin des Eigentümers Bund müsste, so wie jeder Eigentümer einer anderen Aktiengesellschaft dies tut, in den Vorstand und in den Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG Leute berufen, die fachkompetent sind und die gewährleisten, dass eine Politik im Interesse des Eigentümers betrieben wird. Tatsächlich haben die Top-Leute bei der Deutschen Bahn keine Eisenbahn-Kenntnisse. Ein großer Teil der Aufsichtsräte vertritt Interessen, die in Widerspruch zu den Interessen der Schiene und denen der Allgemeinheit stehen.
[1] Grundgesetz Artikel 87e. Der GG-Artikel wurde hier allerdings bewusst im Satzbau umgestellt bzw. so wiedergegeben, dass die Grundaussage, wonach der Schienenverkehr beim Bau der Verkehrswege und bei den Angeboten auf dem Schienennetz am Wohl der Allgemeinheit und an den Verkehrsbedürfnissen zu orientieren sei, im Zentrum steht. Im Original steht dort einigermaßen verkompliziert: „Der Bund gewährleistet, dass dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere den Verkehrsbedürfnissen, beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes […] sowie bei deren Verkehrsangeboten auf diesem Schienennetz […] Rechnung getragen wird.“
[2] Drucksache 745/16, Deutscher Bundesrat.
[3] Koalitionsvertrag Seite 42. Hervorgehoben von W.W.
[4] 1998/99 gab es eineinhalb Jahre mit Ludewig einen Bahnchef, der eine andere, eher am Allgemeinwohl orientierte Schienenpolitik betreiben wollte (u.a. stellte er das Ziel „Pünktlichkeit“ ins Zentrum und stoppte das Projekt Stuttgart 21). Er wurde umgehend unter Bundeskanzler Schröder durch den Dampfplauderer, Daimler-Manager und Flugzeugingenieur Hartmut Mehdorn ersetzt.
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