Der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis äußerte nach dem schweren Eisenbahnunglück im Tempi-Tal auf der Strecke Athen – Thessaloniki: „Wir werden die Auslöser dieser Tragödie herausfinden.“
Sicher gibt es einen aktuellen, konkreten „Auslöser“ für das Unglück. Das ist aller Wahrscheinlichkeit nach die Entscheidung des Stellwerkers oder Fahrdienstleiters, der einen der beiden Züge auf das falsche Gleis lenkte. Und es gibt auch die in diesem Zusammenhang auch bei Bahnunfällen in Deutschland immer wieder bemühte Formel vom „menschlichen Versagen“, das „nie auszuschließen“ sei. Womit von den eigentlich Verantwortlichen abgelenkt wird.
Denn tatsächlich war das Unglück vermeidbar. Eben weil es seit vielen Jahrzehnten bei der Eisenbahn vielfältige und ausreichend entwickelte Technik gibt, die „menschliches Versagen“ so gut wie ganz ausschließen. Diese moderne Signal- und Steuertechnik wurde im Grundsatz im Fall der griechischen Bahnstrecke eingekauft – doch sie war zum Zeitpunkt des Unglücks nicht in Funktion. Der Lokführer Kostas Genidounias äußerte nach dem Unglück gegenüber dem staatlichen Fernsehsender: „Elektronische Systeme? Nichts funktioniert! Wir machen seit Jahren Handarbeit.“ Ein Überlebender berichtete kurz nach dem Unfall, einen Zugsangestellten gehört zu haben, der rief: „Wo ist er denn verschwunden, dieser Stationsvorsteher, worauf wartet er, warum meldet er sich nicht?“. Worauf ein zweiter Zugbegleiter rief: „Wir können nicht mehr warten, wir müssen blindlings auf gut Glück weiterfahren“. Wegen massiver Mängel in der Infrastruktur und bei der Bahnsicherheit traten in jüngerer Zeit – deutlich vor dem Unglück – der Leiter der Netzinstandhaltung und eine Reihe verantwortlicher Ingenieure im Bereich Infrastruktur zurück. Sie – und die im Bahnbereich aktive Gewerkschaft – warnten wiederholt vor einer Katastrophe. Die linke griechische Tageszeitung EFSYN brachte in ihrer Ausgabe vom 2. März eine Liste mit den zahlreichen schweren Unfällen, die es seit der Privatisierung der griechischen Bahn gab, und eine Chronik des Ausverkaufs der staatlichen Bahnen, was zugleich Geschenke an die Privatinvestoren sind.
Wenn die Europäische Kommission rund zwei Wochen vor dem Unglück die griechische Regierung vor dem Europäischen Gerichtshof verklagte, weil sie in den nächsten fünf Jahren keine Mittel für die Instandhaltung der Schieneninfrastruktur bereithalten würde, dann klingt das nach „Haltet den Dieb“. Denn es ist die Europäische Union selbst, die für den Zustand des Landes im Allgemeinen und für den Zustand der griechischen Eisenbahn im Besonderen die entscheidende Verantwortung trägt.
Die tatsächliche Erklärung für das tragische Unglück muss die drei Ebenen (1) griechische Strukturkrise und EU-Verantwortung, (2) Privatisierung der griechischen Eisenbahn und (3) italienische Staatsbahn als Betreiberin der Strecke im Blick haben.
Griechische Struktur Krise. Griechenland war im Rahmen der EU-Krise ab 2010 in eine Strukturkrise geraten, bei der die Überschuldung eine zentrale Rolle spielte. Die 2015 gewählte linke Regierung (Syriza) versuchte eine politische Lösung mit massivem Schuldenerlass 2015 herbeizuführen. In dem denkwürdigen Referendum vom 3. Juli 2015 stimmten mehr als 60 Prozent der griechischen Bevölkerung gegen ein neues EU-Sparprogramm. Die EU blieb hart; die Syriza-Regierung kapitulierte. Sie und die später gewählte konservative Regierung setzen seither die Sparpläne von IWF, EU und internationale Banken um. Das Resultat: 2023 ist das Land mit 375 Milliarden Euro, was 160 Prozent des griechischen Bruttoinlandprodukts entspricht, völlig überschuldet. Die Sparpläne sind mit tiefen Einschnitten in fast allen gesellschaftlichen Bereichen (die Rüstung ausgenommen) verbunden.
Griechische Eisenbahn. Die staatliche griechische Eisenbahn wurde bereits 2013 im Rahmen eines frühen Spardiktats in eine Gesellschaft zum Ausverkauf von Staatsvermögen eingebracht (TAIPED). Der Betrieb (Trainose) und die Infrastruktur (EESTY) wurden aufgespalten. Anfang 2017 – also als ein Ergebnis der Kapitulation des Jahres 2015 – wurde der Eisenbahnbetrieb von der italienischen Eisenbahngesellschaft Ferrovie dello stato zum Spottpreis von 45 Millionen Euro übernommen. Der Vizegouverneur der Provinz Attica spottete damals, dass der Preis niedriger sei als die Ablösesumme für einen bekannten griechischen Fußballspieler. Gleichzeitig wurde das ohnehin ausgesprochen dünne griechische Eisenbahnnetz weiter ausgedünnt, das Straßennetz massiv ausgebaut – und 14 Flughäfen von dem deutschen Flughafenbetreiber Fraport übernommen. Die stark von der EU und dem IWF geprägten, Griechenland auferlegten Sparprogramme stehen in einem krassem Gegensatz zu dem, was eine klimagerechte Politik auszeichnen müsste: Abbau Schiene, Ausbau Straße und Steigerung Luftverkehr.
Italienische Bahn FS. Yannis Varoufakis, Ex-Finanzminister in der Syriza-Regierung, behauptete, die italienische Staatsbahn, die die Strecke Athen – Thessaloniki betreibt, sei „marode“. Das ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Richtig ist, dass die FS ihre griechische Erwerbung in einen maroden Zustand versetzt hat. Grundsätzlich ist die FS eine eher reiche Staatsbahn, die in der typischen Mischung, wie wir dies von der Deutschen Bahn AG kennen, auf einem Hochgeschwindigkeitsnetz schicke und teure Züge (le Frecce) rollen lässt und gigantische, zerstörerische Betonprojekte umsetzt (siehe Val di Susa) und gleichzeitig Nebenstrecken abbaut und tausende kleinere Bahnhöfe verfallen lässt. Griechenland hat für die Herren in der FS-Top-Etage den Stellenwert einer Nebenstrecke. Im Übrigen hat die FS Erfahrungen mit schrecklichen Bahnunfällen – und wie man dafür die Verantwortung leugnet. Am 29. Juni 2009 entgleiste in Viareggio, Ligurien, ein Güterzug beladen mit Butan. Es kam zu Explosionen, die Teile des Ortes zerstörten und 32 Menschen das Leben kosteten. Der damalige FS-Generaldirektor Mauro Moretti wurde zu einer hohen Haftstrafe verurteilt – die er aber nie antreten musste, da er in Revision ging und diese sich ausreichend lange, bis zur Verjährung, hinzog. Als kleines Dankeschön wurde Moretti Chef von Leonardo (früher Finmeccanica), des größten europäischen Rüstungskonzerns.
Zurück zum griechischen Ministerpräsidenten und seiner Aussage, er werde „die Auslöser dieser Tragödie herausfinden.“ Genau das wird er nicht tun: Die Infragestellung der zerstörerischen Sparpolitik und der EU-Austeritätsprogramme finden nicht statt.
Winfried Wolf ist, zusammen mit Nikos Chilas Verfasser des Buchs „Die griechische Tragödie. Rebellion, Kapitulation, Ausverkauf“. Zuletzt auf deutsch erschienen Wien, Promedia, 2018. Griechische Ausgabe Athen 2020.
Der Beitrag ist auch im Bürgerbahn-rail blog HIER veröffentlicht.
Italienische Übersetzung des Beitrags
Telefoninterview mit Winfried Wolf zum griechischen Bahnunglück