Das Brexit-Machtspiel zielt auch auf Italien

Die EU-Granden zeigen, wo der Hammer hängt

Eigentlich wohnen beim Thema Brexit zwei Seelen in meiner Brust. Da gibt es zunächst eine grundsätzliche Anti-EU-Haltung. Ich sehe die EU auf dem Weg zu einem imperialistischen und kriegerischen Monster; die jüngeren Absprachen zwischen Macron und Merkel und das Ja zu einer Militärunion, PESCO oder SSZ genannt, bestärken mich darin. Ein Austritt Großbritanniens aus der EU schwächt diesen im Werden begriffenen imperialistischen Superstaat beträchtlich. Damit ist der Brexit zunächst einmal positiv konnotiert.

Zum anderen bin ich seit den 1970er Jahren Anhänger der irischen Sache. Und natürlich ist Nordirland das Überbleibsel einer unsäglichen britischen Fremd- und Kolonialherrschaft über ganz Irland. In deren Verlauf es 1846-1849 The Great Famine, die große Hungersnot, gab: Hunderttausende Irinnen und Iren starben den Hungertod; Millionen wurden zur Auswanderung gezwungen; die Bevölkerung sank von 8,5 Millionen auf 6 Millionen. 1918, vor gerade einmal hundert Jahren, gewann bei den Unterhauswahlen Sinn Fein auf der irischen Insel 80 Prozent der Stimmen. Das waren zugleich Stimmen für die irische Einheit. Eine solche gesamtirische Einheit wäre auch heute eine grundsätzlich nachvollziehbare und gute Sache. Absurd wird es, wenn jetzt ausgerechnet die Führungsriege der EU die „irische Karte“ spielt, um das Brexit-Votum zu hintertreiben. Dies steht im Übrigen in offenem Widerspruch zur EU-Politik in Katalonien. Wobei dieser Widerspruch ein scheinbarer ist. Der EU-Führung geht es beim Thema Brexit und bei der Politik gegenüber Madrid und Barcelona nur um eins: um Machterhalt.

Diese beiden Seelen seien vorweg ausgebreitet. Womit wir bei der aktuellen Auseinandersetzung sind. Beim EU-Gipfel in Salzburg Ende September lehnten die führenden Vertreter der EU ein weiteres Mal einen Kompromissvorschlag der britischen Regierung in Sachen Brexit ab. Sie taten dies derart ultimativ, dass dies in Großbritannien in allen relevanten politischen Lagern als Demütigung und Provokation verstanden wurde. Der EU-Ratspräsident, Donald Tusk, und der französische Präsident, Emmanuel Macron, toppten dies noch durch bösartige Spitzen.[1] Die britische Premierministerin May antwortete: „Ich behandelte die EU in dem gesamten bisherigen Prozess [der Verhandlungen über einen Brexit; W.W.] mit Respekt. Ich erwarte dasselbe von der EU.“ Gleichzeitig erklärte sie offen: „Wir befinden uns in einer Sackgasse“.

Es ist die EU, die bewusst in diese Sackgasse hineinführte. Und die die Briten – egal ob die Regierung von den Konservativen gestellt wird oder ob sie in Bälde von Labour gestellt würde – nicht mehr aus dieser Sackgasse herauslassen will. Die deutsche und die französische Regierung unter Merkel und Macron spielen dabei, wie bei allen wichtigen EU-Themen, eine maßgebliche Rolle.

Um Sachfragen geht es nicht. Auch nicht im Fall der Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland. Die EU argumentiert, solange man keine für beide Seiten überzeugende gesamte Lösung für die Herauslösung Großbritanniens aus der EU gefunden habe, müsste Nordirland in der Zollunion mit der EU bleiben. Eine „harte Grenze“ zwischen Nordirland und der Republik Irland sei „nicht akzeptabel“. Doch dadurch entstünde eine Zollgrenze innerhalb Großbritanniens – mitten in der Irischen See. Es liegt auf der Hand, dass in der aktuellen Situation keine Regierung in London ein solches Vorhaben – die Infragestellung der staatlichen Einheit – unterstützen kann. Es gibt aber auch keine sachlichen Argumente, warum eine solche „Lösung“ zwingend wäre. Zunächst spielt der Handel zwischen Nordirland und der Republik Irland keine große Rolle. Nur 15 Prozent des nordirischen Handels gehen in den Süden der Insel. [2] Sodann existiert längst eine „unsichtbare Grenze“ zwischen Nordirland und Irland, die in Gang gesetzt wurde, um Schmuggel von Kraftstoffen und Tabak zu unterbinden und um „Terroristen“ zu kontrollieren. Schließlich gibt es in Europa zwischen dem Nicht-EU-Land Norwegen und dem EU-Mitgliedsstaat Schweden eine wesentlich längere Grenze ohne Schlagbäume, die mit „smart border“-Technologie ausgestattet und wirksam ist. Es gibt keinen einzigen überzeugenden sachlichen Grund, weshalb Vergleichbares nicht zwischen Nordirland als Teil von Großbritannien, das aus der EU ausgetreten sein wird, und der Republik Irland, funktionieren sollte.

Womit sich die Frage stellt, weshalb die EU derart ultimativ gegen London auftritt – und weshalb ihre Top-Vertreter derart geschlossen agieren. Dafür gibt es im Wesentlichen drei Gründe.

Erstens. Dieses Agieren und Auftreten entspricht dem Demokratieverständnis der Führung der EU. Wenn wir sagen, es handle sich um ein „Europa der Konzerne und Banken“, dann meint dies auch, dass das innere Regime der EU ein antidemokratisches und hierarchisches ist. Erinnern wir uns: 1992 sagten die Däninnen und Dänen Nein zum Maastricht-Vertrag. 2001 und 2008 gab es zwei Mal ein irisches Nein zum Nizza- und dann zum Lissabon-Vertrag. 2005 gab es ein französisches und ein niederländisches Nein zur EU-Verfassung. Die EU-Granden reagierten professionell. Man trat den Verfassungsentwurf in die Tonne und verabschiedete stattdessen einen Lissabon-Vertrag, in dem weitgehend das Gleiche steht wie im Verfassungsentwurf. Die Bevölkerung Dänemark und in Irland durfte solange abstimmen, bis das Ergebnis passte. Am 5. Juli 2015 gab es in Griechenland ein Referendum. 61,2 Prozent der Bevölkerung stimmten mit „Nein“ zu einem neuen „Memorandum“ mit noch mehr Sparen bei Renten und Einkommen usw. Das wird souverän ignoriert. Siehe die Seiten 32ff

Zweitens. Die EU-Führung will alles tun, um das Brexit-Votum zu revidieren. Nicht, weil bei diesem nationalistische und rassistische Töne eine Rolle spielten. Einmal abgesehen davon, dass dieses Votum auch und vor allem ein Votum der unteren und einfachen Leute und der arbeitenden Schichten gegen die EU war, [3] geht es der EU vor allem um das machtpolitische Gebilde der EU selbst. Mit Großbritannien entspricht das EU-BIP beinahe demjenigen der USA (es sind dann rund 90 Prozent des US-BIP). Ohne Großbritannien sinkt das Gewicht der EU erheblich, es entspricht dann nur noch 75 Prozent des US-BIP. Im Vergleich zu China liegen die EU-Exporte nahe an denen des Exportweltmeisters China. Ohne die Briten entsprechen die EU-Ausfuhren nur noch 80 Prozent der chinesischen. Hinzu kommt der gewaltige und mächtige Finanzsektor, über den London verfügt und der einer EU, die Weltpolitik machen will, dann fehlen wird. Dabei darf nicht vergessen werden: Fast das gesamte britische Establishment – und insbesondere die Wirtschaftsverbände und die Finanzinstitutionen – optierten für „Remain“, für den Verbleib in der EU. Auch sie haben ein Interesse, das Brexit-Votum zu revidieren.

Drittens. Die Führung der EU zielt mit ihrer ultimativen Haltung in Sachen Brexit längst auf ein anderes Land. Auf Italien. Eine offene politische und wirtschaftliche Krise in Italien ist so gut wie gewiss. In einer solchen Situation wird es in Italien – wie 2015 in Griechenland – starke Kräfte geben, die das Gefängnis EU verlassen wollen. Die EU-Granden zeigen deutlich, wo der Hammer hängt und was in einem solchen Fall droht.

Anmerkungen:

[1] EU-Ratspräsident Tusk hatte ein Foto von May und sich selbst bei der Kuchenauswahl mit dem folgenden Dialog auf Instagram veröffentlicht: „Ein Stück Kuchen vielleicht?“ „Tut mir leid – keine Kirschen.“ Dies sollte eine Anspielung auf „Rosinenpickerei“ seitens May sein und die Großbritannien unterstellte Absicht, den Kuchen „zugleich essen und zu behalten“ wollen. Macron wiederum hatte geäußert, der Aufruhr bei den Verhandlungen werde die Briten lehren, „nicht auf Lügner zu hören“, die ihnen vormachen wollten, der Austritt wäre eine einfache Sache.

[2] Die „Ausfuhren“ Nordirlands – die Waren, die Nordirland verlassen – hatten 2016 einen Wert von 26 Millionen britischen Pfund. Davon gingen Waren im Wert von 14,6 Millionen Pfund ins übrigen UK, was 56 Prozent entspricht. Waren im Wert von 2,6 Millionen Pfund (= 10%) gingen in die übrige UE (ohne UK und ohne die Republic of Ireland). Selbst die Ausfuhren in den Rest der Welt in Höhe von 4,8 Millionen Pfund (= 18%) waren größer als die Waren, die in die Irischen Republik gingen (4,0 Millionen Pfund = 15,4 Prozent).

[3] Dass die Brexit-Entscheidung diesen „klassenpolitischen“ Charakter hatte, analysierte Costas Lapavitsas ausführlich in LP21, Heft 34, S.36ff. Auch in einer verarmten Gegend wie Sunderland, wo die Gefahr besteht, dass die einzige größere Industrieansiedlung, das Nissan-Werk, mit einem Brexit verloren geht, stimmten mehr als 60 Prozent für „Leave“. Jüngst berichtete die Tageszeitung „Die Welt“ aus Sunderland unter der Überschrift „Die Unbeirrbaren“, wie die große Mehrheit dort an dem Votum von 2016 festhält (29.3.2018).