Covid-19 und die Arbeitswelt

Wie der Kapitalismus das Virus nutzt

In der ersten Phase der nun schon bald eindreiviertel Jahre währenden Pandemie keimte Hoffnung auf: Das unbekannte Virus, das die ganze Welt und alle Bereiche der Gesellschaft befiel, könnte den wild gewordenen Kapitalismus zur Räson bringen, führe es doch die Risiken des Global Sourcing, der Spekulation und eines auf kurzfristigen Profit gerichteten Wirtschaftens, das weder Mensch noch Natur schont, vor Augen. Langfristorientierung, Resilienz, Robustheit, Nachhaltigkeit und Reservehaltung schienen das Gebot der Stunde. Heute müssen wir konstatieren, dass nichts davon eingetreten ist.

Die Gesellschaft mag zwar durch die Konfrontation mit dem vom Virus ausgelöstem Schock etwas gelernt haben, zuvorderst dass ein handlungsfähiger und starker Staat von Nutzen ist und dass Schulden nicht des Teufels sind, sondern eine Voraussetzung für eine intakte Infrastruktur und eine gelingende Daseinsvorsorge. Die Wirtschaft aber ist aufgrund des ihr eigenen Mechanismus der Mehrwertproduktion und Akkumulation dazu offensichtlich nicht in der Lage.

Jetzt wiederholt sich, was vor 14 Jahren bei der Finanzkrise zu besichtigen war. Der Staat fungiert als ideeller Gesamtkapitalist: Damals hat er die Finanzmarktakteure aus dem von ihnen selbst angerichteten Schlamassel herausgehauen und die Realwirtschaft mit Abwrackprämie und Kurzarbeit Null vor den Folgen des Börsen- und Bankencrash bewahrt. Heute greift er der Realwirtschaft mit Überbrückungshilfen, Kreditabsicherungen, Kurzarbeitergeld, Unterstützungszahlungen an Selbständige und die Modifizierung des Insolvenzrechts unter die Arme, um das Wertschöpfungsmoratorium erträglich zu machen. Dabei fließen unvorstellbaren Summen, so als ob es Austeritätspolitik und Schuldenbremse nie gegeben hätte.

Krise, welche Krise?

Wer durch den Einbruch des Virus eine neue große Krise des Kapitalismus heraufziehen sah, wurde eines Besseren belehrt. Die Aktienkurse, die kurze Zeit auf Talfahrt waren, eilten von einem Allzeithoch zum nächsten, die Umsätze der Industrie kletterten erneut, die Auftragsbücher sind voll, die Unternehmenslandschaft ist noch weitgehend die gleiche, die staatlichen Unterstützungsleistungen lassen selbst Zombie-Unternehmen am Leben, der Spargel konnte dank der Luftbrücke von Rumänien nach Deutschland gestochen werden. Die Reichen sind noch reicher und die Armen noch ärmer geworden und die normalerweise in einer Krise auftretende Massenarbeitslosigkeit ist dank Kurzarbeit ausgeblieben. Eine Entwertung des Kapitals hat nicht stattgefunden. Gewiss hatten Bereiche des Handels und Verkehrs sowie die Gastronomie, der Kulturbetrieb und einige personenbezogene Dienstleistungsbranchen zu leiden, aber das wird in der Summe aufgewogen durch die coronabedingte Sonderkonjunkt ur des Online-Handels, der Lebensmittel-Discounter und der IT-Industrie. Selbst die weltweiten Lieferketten haben großenteils gehalten und wenn sie zu reißen drohten, dann eher durch die Blockade des Suezkanals, durch einen Mangel an Containern und durch Engpässe bei Chips und Stahl.

Dass der exogene Schock der Pandemie weitgehend spurlos an großen Teilen der Wirtschaft und vor allem an der Industrie vorbeiging, hat in erster Linie mit der hiesigen politischen Ökonomie zu tun. Von der „Freiheitsberaubung“ durch den Lockdown, der verschiedentlich beklagt wurde, war in weiten Bereichen zumindest des produzierenden Gewerbes nichts zu spüren. Die Kernsektoren des deutschen Erfolgsmodells mit seinen exportorientierten Branchen des Maschinen- und Fahrzeugbaus, der Elektro- und der chemisch-pharmazeutischen Industrie erhielten von der Politik einen Freifahrtschein. Ihnen wurde kein pandemieadäquates Verhalten auferlegt. Es gab nur Empfehlungen, freiwillige Selbstverpflichtungen und die Aufforderung zur Beachtung der Alltagsregeln mit Abstand, Maske, Hygiene. Während in Frankreich und Italien die Fabriktore geschlossen werden mussten, lief die Produktion hier auf Hochtouren. Und als sich die Kanzlerin durchrang, Ostern um zwei weitere Ruhetage zu ver längern, stand am Ende eine Entschuldigung, sowas überhaupt gedacht zu haben. Der laut Robert-Koch-Institut zweitgrößte Infektionsherd Betrieb war für die Politik keiner, was trotz des öffentlichen Aufschreis über Ansteckungen in der Fleischindustrie selbst für das frühkapitalistische Geschäftsmodell des Agro-Business galt.

Was sich in ökonomischer Betrachtung wie ein neuerlicher Beweis für die Fähigkeit des Kapitalismus ausnimmt, selbst unvorhergesehenen Ereignissen gewachsen zu sein, obwohl ja ohne den Staat das Kapital im Regen gestanden hätte, sieht in soziologischer Perspektive, die den Blick auf den konkreten Betrieb und die konkrete Arbeit richtet, anders aus. In den öffentlichen Diskurs dringt sie kaum vor und deshalb ist es ein Glücksfall, dass inzwischen eine Untersuchung über die „Corona-Krise im Betrieb“ vorliegt. Die Sozialforscher Dieter Sauer und Richard Detje haben 43 Interviews mit Interessenvertretungen aus Industrie und Dienstleistung geführt, um die Handlungsweisen des Managements in der Pandemie und die Folgen für die Beschäftigten in Erfahrung zu bringen.1 Die Ergebnisse der Untersuchung werden im Folgenden umrissen.

Arbeitswelt – Terra incognita des Pandemiegeschehens

Glaubt man den Medien und der Politik, so findet das Virus seine Wirte vor allem in der Privatsphäre, der Freizeit, wo die Menschen trotz aller Warnungen ihrer Geselligkeit frönen, Hochzeiten und Geburtstage feiern, Partys veranstalten und Besuche empfangen. Deshalb schiebt der milde Lockdown dieser Sphäre einen Riegel vor, während er die industrielle Arbeitswelt – sieht man vom Masken-, Abstands- und Hygienegebot ab – weitgehend unbehelligt lässt. Dort scheint das Virus aufgrund ihres institutionellen Charakters keine Chance zu haben; dort scheinen die organisatorischen Abwehrkräfte zu wirken. Überhaupt geht der öffentliche Diskurs über die Sphäre, in der die Menschen den größten Teil ihrer wachen Zeit verbringen, fahrlässig hinweg. Home Office und der Arbeitsschutz wiegen die Politik und die Medien in Sicherheit und machen strenge Auflagen und Kontrolle entbehrlich. Und die Wunderwaffe Kurzarbeit verhindert, dass die Beschäftigten in die Arbeitslosigkeit oder Armut fallen; von daher herrscht in den meisten Fabriken Business as usual.

Die Ignoranz gegenüber dem tatsächlichen Geschehen in den Betrieben hat eine lange Tradition und spricht in der Pandemie den Infektionsherd Betrieb von jeder Verantwortung für die Ausbreitung des Virus frei.

Kurzarbeit und Überarbeit

Die Kurzarbeit, die schon 2007/2008 eine Arbeitsmarktkatastrophe verhindert hat, ist auch in der Pandemie das Beschäftigungsinstrument par excellence, das mittlerweile von anderen Ländern kopiert wird. Mit ihr scheint eine Win-Win-Situation für beide Arbeitsmarktparteien hergestellt: Die Unternehmer können Arbeitskraft horten, die sie nichts kostet, um nach der Krise gleich wieder voll loszulegen, die Arbeitnehmer bleiben vom Schicksal der Arbeitslosigkeit verschont. Was wie ein Entgegenkommen des Staates wirkt, ist in Wahrheit Selbsthilfe der Arbeitnehmer. Sie bezahlen die Kurzarbeit aus eigener Tasche, nämlich aus ihren Zahlungen in die Arbeitslosenversicherung, woran auch der Umstand nichts ändert, dass es einen Arbeitgeberbeitrag gibt, der nichts anderes ist als Bestandteil des Lohns. Verletzt wird die Parität durch die unterschiedliche Belastung von Unternehmen und Arbeitnehmenden. Während letztere die Sozialversicherungsbeiträge zahlen müssen, sind die Arbeitgeber davon befreit. Ein Segen ist die Kurzarbeit nur für die Hälfte der Beschäftigten, nämlich diejenigen, deren Salär aufgrund der Verhandlungsmacht der Betriebsräte manchmal bis zu 100 Prozent, etwa bei der Lufthansa, aufgestockt wird. Für die andere Hälfte sieht es schlecht aus. Mit Einbußen von bis zu 50 Prozent des Haushaltseinkommens ist die Armutsgrenze nah. Ganz zu schweigen von denjenigen, die erst gar nicht in den Genuss von Kurzarbeitergeld kommen, weil sie als Leiharbeitende, mit Werkvertrag oder befristet beschäftigt kurzerhand vor die Tür gesetzt werden. Kurzarbeit ist ein Privileg des von der neoliberalen Orthodoxie gescholtenen Normalarbeitsverhältnisses und der Stammbelegschaft. Prekär Beschäftigte im Niedriglohnsektor können sie sich schlicht nicht leisten. Kurzarbeit wird überwiegend über die Gewerblichen verhängt, während die Angestellten ins Home Office dürfen. Die Inanspruchnahme von Kurzar beit hindert die Unternehmen nicht, in einigen Bereichen Überstunden zu fahren und den Aktionären Dividenden zu zahlen.

Während sich die Kurzarbeit für bis zu vier Millionen Beschäftigte als eine radikale Verkürzung der Arbeitszeit darstellt, herrscht in anderen Sektoren Mehr- und Überarbeit unter zum Teil miserablen Arbeitsbedingungen vor. Paketausfahrer, Pflegekräfte, Erntehelfende, Logistikbeschäftigte und Verkäuferinnen, die allesamt weit unter dem deutschen Lohndurchschnitt verdienen, gehen auf dem Zahnfleisch und sind erhöhten Infektionsgefahren ausgesetzt. Sie werden – gerade weil systemrelevant – gnadenlos verheizt und sie können der symbolischen Aufwertung ihrer Arbeit und den geringen Boni wenig abgewinnen.2

Home Office – die moderne Heimarbeit

Heimarbeit, eine der geläufigen Arbeitsform des Frühkapitalismus, erlebt durch die Pandemie eine Renaissance. Sie, die einstmals von Sozialdemokraten und Gewerkschaften als eine die Arbeitenden vereinzelnde Methode der Ausbeutung kritisiert und bekämpft wurde, steht heute in neuer Blüte. Neben der Kurzarbeit gilt sie als die zweite Wunderwaffe gegen Covid-19. Allerdings darf sie nicht mehr so heißen, es ist jetzt das Home Office, das einen anderen Klang hat. Ihre Verbreitung – zeitweise arbeiteten 25 Prozent der Beschäftigten in den eigenen vier Wänden – verdankt sie der Pandemie, in der sie zunächst als Infektionsschutzmaßnahme auftrat. Dann aber erfuhr sie eine Transformation zu einer für Unternehmen und Arbeitende attraktiven organisatorischen Innovation. Das Unternehmen spart Raumkosten und erhält tendenziell mehr Leistung, der oder die Beschäftigte spart die Anfahrt zum Betrieb und kann im besten Fall Arbeit und Leben unter einen Hut bri ngen. Weshalb aber das Home Office so schnell zum Massenphänomen werden konnte, dafür kommen zwei Gründe in Betracht. Zum einen gibt es offensichtlich zahlreiche „Bullshit-Jobs“, die für das Funktionieren des physischen Produktionsprozesses keine Bedeutung haben und überall erledigt werden können. Zum anderen entsteht aufgrund eines neuen Steuerungsprinzips in den Unternehmen kein Problem mehr, wenn die Beschäftigten nicht in Sicht der Führungskräfte sind. Statt Kommandos und Anordnungen, erhalten die Beschäftigten Zielvorgaben, die sie eigenverantwortlich erfüllen müssen. Wo die Devise „Mach, was du willst, aber sei profitabel“ herrscht, da bedarf es keiner Präsenz und keiner gängelnden Vorgesetzten. So erklärt sich auch, warum die modernen Heimarbeiter in der Regel länger und intensiver ihrer Arbeit nachkommen. Sie genießen es, dass sie von betrieblicher Bürokratisierung und Zerfledderung der Arbeit weitgehend versc hont sind und konzentriert die gesteckten Ziele anvisieren können, es sei denn ein familiäres Chaos bricht in das Home Office ein. Die Vorstellung, sie könnten sich zuhause einen faulen Lenz machen, verkennt die smarte Herrschaft des Mangement by Objectives. Dennoch überrascht es, dass Home Office von den Angestellten so weit angenommen wird, dass es die Pandemie wohl überdauern wird. Die befragten Beschäftigten vermissen den Betrieb nicht als Arbeitsort, sondern als sozialen Ort der Kollegialität und des Austausches, was darauf verweist, dass das betrieblich verfasste Arbeiten als entfremdet wahrgenommen wird, das nur gemeinschaftlich auszuhalten ist. Weil Solidarität und Kooperation soziale Qualitäten sind, befürworten die meisten Befragten hybride Arbeitsformen: einen Wechsel von Home Office und Büro.

Infektionsschutz

Die Kritik am ausbleibenden Shutdown der Industrie bedeutet nicht, dass das Kapital gegenüber der Gesundheit seiner Belegschaften gleichgültig wäre. Ein wüstes Infektionsgeschehen ist nicht in seinem Interesse, beschädigt es doch Arbeitskraft und Image des Unternehmens. Die Kritik richtet sich gegen die Annahme, dass der Pandemie-Verhaltenskodex in Betrieben, die Menschen für den Herstellungsprozess eng zusammenführen, eins zu eins befolgt werden könnte. Die Unternehmen können vieles tun: Maskenpflicht anordnen, Schnelltests durchführen, Trennscheiben zwischen Arbeitsplätzen anbringen, Schichten entzerren, Kantinen sperren, Desinfektionsmittel bereitstellen. Aber diese Maßnahmen stehen oft nur auf dem Papier und lassen sich im Alltag, wenn kostengünstig und schnell produziert werden muss, nicht einhalten. Es funktioniert noch am ehesten in automatisierten Werkshallen, in denen sich die Wächter des Produktionsprozesses verlieren. Es funktioniert aber nicht, wenn Arbeitsgruppen Hand in Hand arbeiten oder Servicetechniker in Kooperation große Anlagen einrichten. Man kann schlicht nicht unter Druck arbeiten und das Einmaleins der Pandemieregeln befolgen. Deshalb wäre im Sinne von Zero Covid die Stilllegung aller nicht lebenswichtigen Betriebe die einzig vernünftige Maßnahme gewesen.

„Corona, das ist einfach nur die Überschrift, unter der alles läuft“

Die Pandemie hat der Hochleistungsökonomie Deutschlands nicht viel anhaben können. Sieht man von den Schrammen, die einige Sektoren der Wirtschaft abbekommen haben, und von der Umgruppierung mancher Kapitalien ab, etwa zwischen online- und stationärem Handel, so hat sich das Rad der Akkumulation und Rationalisierung weitergedreht. Zwei Trends haben durch das Virus neuen Schub erhalten: die Digitalisierung und die indirekte Steuerung. Das bislang eher gemächliche Digitalisierungstempo hat aufgrund der Ubiquität von Videokonferenzen und Online-Kommunikation angezogen. Die Rationalisierungseffekte, die in der Vergangenheit noch kaum zum Tragen kamen, werden künftig stärker zu Buche schlagen. Die indirekte Steuerung, die im Widerstreit zum Kommandosystem steht, dürfte aufgrund der Erfahrungen mit dem Home Office zur hegemonialen Steuerungsform werden.

Für die Interessenvertretungen der Beschäftigten heißt das: Digitalisierungsstrategie mitgestalten, Digitalisierung für nachhaltige Arbeitsbedingungen nutzen, Einfluss auf Zielbildung und Rahmenbedingungen der indirekten Steuerung nehmen, Autonomie der Beschäftigten stärken und Strukturen zur Unterstützung der zur Selbstoptimierung aufgerufenen Beschäftigten schaffen.

Ob Betriebsräte und Gewerkschaften für die großen Restrukturierungen, zu denen auch die Dekarbonisierung gehört, gerüstet sind, darf bezweifelt werden. In der Pandemie sind sie Re-Agierende geblieben, obwohl laut Gesetz der Arbeits- und Gesundheitsschutz in ihnen die größten Anwälte hat. Im Betrieb war die Pandemiebekämpfung wie in der Politik die Stunde der Exekutive, die in der Not kein Gebot kennt. Betriebliche Interessenpolitik, die auf die Präsenzkultur, auf personale Kommunikation und auf die Solidaritätserfahrung der Vertretenen angewiesen ist, hatte es schwer. Die Kräfteverhältnisse haben sich zugunsten des Kapitals verschoben. Die Aufwertung, die die Arbeit in den Zeiten von Corona erfahren hat, ist noch nicht in eine konsequente interessenpolitische Agenda übersetzt worden.

Josef Reindl, Jahrgang 1953, ist Diplom-Soziologe, selbständiger sozialwissenschaftlicher Berater und Institut für Autonomieforschung.

Anmerkungen:

1 Richard Detje, Dieter Sauer: Corona-Krise im Betrieb. Empirische Erfahrungen aus Industrie und Dienstleistungen. Hamburg 2021.

2 Die extreme Belastung der Beschäftigten im Gesundheitswesen war als „Systemrelevante Ausbeutung“ Titelthema in Lunapark21, Heft 52, Winter 2020.