Was heißt Impfstoffgerechtigkeit?

„Die Pandemie trifft uns alle, Europäer wie Afrikaner, aber sie trifft uns nicht alle gleich.“ Mit diesen Worten eröffnete Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Anfang Juni die Africa-Roundtable-Initiative. Doch damit wollte er nicht etwa primär auf die Impfquote von damals einem Prozent in Afrika (ohne Marokko) hinaus, sondern entschuldigte: „Die älteren Gesellschaften Europas haben deutlich mehr Opfer zu beklagen, als die jüngeren Gesellschaften Afrikas.“

Nur einen Monat später war diese Aussage überholt: Die registrierten Covid-Todesraten in Afrika übertrafen die in Deutschland und der EU. Südafrika, Namibia, Tunesien und Botswana beklagten über Monate die höchsten Sterberaten der Welt.

Am Beispiel Indonesiens lässt sich die direkte Verantwortung der von EU, USA und Großbritannien dominierten Impfstoffverteilungspolitik für in den letzten Monaten geschätzt weltweit Hunderttausende zusätzliche unmittelbare Corona-Tote – Menschen aus Risikogruppen, deren Länder über nicht genug Impfstoff verfügen – gut nachzeichnen: Indonesien bestellte rechtzeitig Ende 2020 genügend Dosen von AstraZeneca, SinoVac, Pfizer und Novavax, Impfbereitschaft vergleichbar mit Deutschland. Während in Deutschland Anfang Juni die Impfung für alle freigegeben wurde, begann in Indonesien die von der Delta-Variante getriebene, bislang verheerendste Welle. Das Weltimpfprogramm Covax hatte von den für diesen Zeitpunkt versprochenen zwölf Millionen AstraZeneca-Dosen nur etwa fünf Millionen geliefert. Grund war, dass die indische Regierung den Export von Impfstoffen stoppte, als das Land von Delta heimgesucht wurde. Bis dahin war die Mehrzahl der von Cova x an ärmere Länder verteilten Dosen jedoch AstraZeneca aus indischer Produktion, und Indonesien hatte zusätzlich direkt in Indien bestellt. Pfizer würde die bestellten Dosen sowieso erst im August anfangen zu liefern, nachdem zahlungskräftigere Kunden bedient worden sind. Das Impfprogramm der Afrikanischen Union, Avatt, hat bis heute keine einzige der im Januar bestellten Dosen erhalten. Der Großteil des indonesischen Impfprogramms musste also mit damals rund 40 Millionen verfügbaren, in der Mehrzahl auf Basis des chinesischen Grundstoffs im eigenen Land endverarbeiteten SinoVac-Dosen bestritten werden. Aufgrund der mehrwöchigen Verzögerung zwischen Bereitstellung und Verimpfung – zum Vergleich: in Deutschland damals eine Woche – konnten bis Anfang Juni 29 Millionen Dosen verimpft werden. Unter den zirka 18 Millionen Erstgeimpften waren hauptsächlich Gesundheitskräfte und Staatsbeschäftigte, nur etwa vier Millionen wurden als Über-60-Jährige priorisiert geimpft.

Doch auch bei besserer Priorisierung der Älteren hätten für die 27,5 Millionen Indonesier:innen Über-60-Jährige oder gar 56 Millionen Über-50-Jährige schlichtweg der Impfstoff gefehlt. Für Über-60-Jährige Indonesier:innen statt für gesunde 20-Jährige in Deutschland gelieferte Dosen hätten hundertfach mehr Leben gerettet werden können, denn 50–64-Jährige sterben ungefähr 30 Mal so wahrscheinlich an Covid wie junge Erwachsened durch die Delta-Welle. Bei einer global gerechten Priorisierung nach Altersgruppen hätten bereits bis Anfang Juli alle Über-50-Jährigen auf der Welt ihren ersten Impftermin haben können, schon die erste Impfdosis für die Älteren hätte Zehntausende Menschenleben gerettet.

Am maßgeblich von der EU finanzierten, im April 2020 gestarteten Weltimpfprogramm Covax lässt sich ablesen, dass diese Verhältnisse von Anfang an in Kauf genommen wurden: Das Ziel war, bis Ende 2020 lediglich für 20 Prozent der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung Impfungen bereitzustellen. Voraussichtlich werden es 15 Prozent sein, bislang wurden nur rund drei Prozent erreicht.

Steinmeiers Äußerung verweist aber auch auf eine notwendige Komplikation unseres Verständnisses von globaler Gesundheitstgerechtigkeit im Kontext der Corona-Pandemie, in der ein einfaches Nord-Süd-Schema schneller als bei Aids, Tuberkulose, Malaria und Hepatitis-B-Erkrankungen, von denen ärmere, abhängige Länder des Südens ungleich stärker betroffen sind – an seine Grenzen stößt. Vielmehr ist die imperialistische Politik , die zur massiven Verschärfung von Ungleichheiten führt, von der Verletzlichkeit der imperialistischen Zentren selbst zu verstehen, die nicht in der Lage und auch nicht willens zu sein scheinen, auch nur ihre eigene ältere Bevölkerung vor einer Seuche, die hätte ausgerottet oder zumindest weitgehend unterdrückt werden können, zu schützen, die einer sozialdarwinistischen begrenzten Durchseuchungsstrategie so wenig wert ist wie das Leben der Überflussbevölkerung im Süden. Diese Politik hat bereits zu r Mutierung der doppelt ansteckenderen, Immunitäten teils umgehenden und tödlicheren Delta-Variante geführt, die auch den Erfolg des Impfprogramms gefährdet. Herdenimmunität ist mit den jetzigen Impfstoffen kaum noch zu erreichen, selbst in Deutschland steigen wieder Todesraten, erneute Überlastung der Intensivmedizin nicht ausgeschlossen. In Ermangelung einer gesamtgesellschaftlich orientierten Antwort auf die Pandemie hat eine Impfkampagne, die auf Individualisierung der Verantwortung für den Gesundheitsschutz setzt, dem Irrationalismus von Impfgegner:innen wie auch den Zweifeln Zögernder kaum etwas entgegenzusetzen. Um immer schnell genügend Impfstoffe für die deutsche Bevölkerung vorrätig zu halten, wird die Entsorgung von Millionen abgelaufener Dosen in Kauf genommen, die anderswo fehlen. Dabei ist Delta einzudämmen – wie die Beispiele Vietnam und New South Wales zeigen – ohne ausreichend hohe Impfquoten kaum noch möglich.

Zentral für die weitere Perspektive auf die Pandemie und über sie hinaus sind die neuartigen, hochwirksamen und schnell an Mutationen anpassbaren mRNA-Impfstoffe.

Die in Ländern des Südens bislang vor allem genutzten Totimpfstoffe aus China und Indien und Vektorimpfstoffe allein – ohne eine mRNA-Auffrischung – dämmen die Ausbreitung der Beta- und Delta-Variante schlechter ein und schützen auch schlechter gegen schwere Verläufe. Um den Aufenthalt in Großraumbüro und Diskothek ohne Test und Maske zu erlauben, bunkern reiche Länder bereits Drittimpfungen für junge Gesunde, während in anderen Teilen der Welt Gesundheitskräfte noch ungeimpft sind. Die Knappheit der mRNA-Impfstoffe wird daher auch nächstes Jahr noch ein Problem darstellen – verschärft womöglich durch weitere Mutationen. Der zellfreie Produktionsprozess wäre auch in Betrieben umsetzbar, die weder die Ressourcen noch die Erfahrung besitzen für die für Tot- und Vektorimpfstoffe notwendigen Kontrollschritte und Sicherheitsvorkehrungen. Im Dienste der Sicherung des Monopolprofits der Impfstoffhersteller und des Standortvorteils verzichteten maßgeblich die USA und Deutschland darauf, den Transfer der Technologie von Moderna und BioNTech an alle interessierten Hersteller durchzusetzen. Effizient möglich wäre dies über das im April von der Weltgesundheitsorganisation initiierte Schulungszentrum für mRNA-Impfstoffproduktion in Südafrika. Sollten unter öffentlichem Druck in den USA die jüngst begonnenen, aber bislang ergebnislosen Gespräche mit Moderna oder zukünftige Gespräche mit Pfizer/BioNTech nicht doch noch zu einem Erfolg führen, würde das Schulungszentrum eigenständig auf Grundlage anderer Technik einen Covid-Impfstoffkandidaten entwickeln. Für die Pandemiebekämpfung im nächsten Jahr käme dies zu spät. Gestützt durch demokratische Kämpfe um Gesundheitsgerechtigkeit könnte dies jedoch der Grundstein sein für eine eigenständige zukünftige Impfstoffproduktion und -entwicklung gegen zahlreiche Krankheiten auch in Weltregionen, die ni cht länger der Macht einiger Monopole ausgeliefert wären.

Das UN-Covid-19-Gipfeltreffen am 22.9. hingegen dominierten wiederum Versprechungen von Impfstoffalmosen durch die USA und die EU. Das Gelegenheitsfenster, als Krisenantwort die Produktionsverhältnisse für Gesundheitsgüter infrage zu stellen, das sich durch die im Mai von Biden angekündigte, aber nie gegen die EU durchgesetzte Unterstützung einer Patentaussetzung öffnete, scheint vorerst verstrichen.

Jonathan Schmidt-Dominé ist Antirassismus-Aktivist und Pressesprecher bei der Kampagne Zero Covid.

Mehr lesen:

Das Projekt Lightspeed – die Produktion des Biontech-Impfstoffes Unterschätzte Sprünge Selten hat eine Abendlektüre so bedeutsame Konsequenzen gehabt. Am Freitag, dem 24. Januar 2020, entnahm Ugur Sahin eine...