Begriffs-Inflation

Preissteigerungen heißen in Deutschland jetzt grundsätzlich Inflation – aus schlechten politischen Gründen. Waschkörbeweise soll mein Großvater sein Gehalt abgeholt haben, um am Abend doch nur noch ein Brot für Millionen Mark nach Hause bringen zu können. Das war 1923, wie er immer wieder erzählt hat und diese Erfahrung bestimmte nicht nur sein künftiges Verhalten gegenüber galoppierenden Preissteigerungen und Geldentwertungen. Dabei war die Geldentwertung 1923 nur Ergebnis eines misslungenen Raubes, mit dem die Ausgaben für den Ersten Weltkrieg eigentlich gedeckt werden sollten. Und auch die zweite Währungsumstellung, die mein Großvater erlebte, fand nach dem nächsten verlorenen Weltkrieg statt, weil auch dieses Mal, glücklicherweise, die Rüstungsausgaben nicht durch die Beute aus eroberten Ländern gedeckt werden konnten.

Die Furcht vor einer erneut rasanten Entwertung des Geldes bestimmte die Anfangsjahre der Bundesrepublik und auch bis in die 1970er Jahre die Wirtschaftspolitik und floss in die Politik der Europäischen Union in Form jener Vorschriften ein, die Geldwertstabilität zum obersten Ziel von Zentral-Banken und Währungshütern machen.

Nur hatten nach 1949 keinerlei Preissteigerungen auch nur entfernt etwas mit den Inflationserfahrungen zu tun, deren Begriff sich die Berichterstattung über gegenwärtige Preissteigerungen leiht.

Die Inflation von 1923 führte zu einer Entwertung der Mark auf ein Billionstel. Wenn jetzt durchschnittliche Preissteigerungen der Waren in Deutschland unter zehn Prozent im Jahr unter dem Titel Inflation behandelt werden, hätte mein Großvater nur lachen können. Und Bewohner:innen einiger Staaten der EU und der übrigen Welt, die mit Preissteigerungen von mehreren Dutzend Prozent konfrontiert sind, werden solche Etikettierung einer moderaten Steigerung als Hohn empfinden.

Warum also wird der Begriff Inflation benutzt, wenn von der Teuerungsrate innerhalb eines Jahres die Rede ist? Die Verteuerung eines definierten Warenkorbes von 4,5 Prozent gegenüber dem November 2020 geht unter anderem zurück auf den kurzfristigen allgemeinen Preisnachlass im vergangenen Jahr in Folge der Senkung der Mehrwertsteuer zum 1. Juli 2020, die Anfang 2021 aufhörte.

Am stärksten schlagen die Energiepreise gegenüber einem vorherigen sehr niedrigen Stand zu Buche, die in Folge der Lieferprobleme während der Corona-Krise und der CO2-Abgabe auf Heizöl, Benzin und Gas angestiegen sind. Das Vertrauen in den Marktmechanismus, der in allen anderen Fällen so hoch gehalten wird, kann nicht allzu groß sein, wenn die für den Klimaschutz notwendige Steigerung des Preises für fossile Energie in dem Moment durch Minderung der staatlichen Abgaben ausgeglichen werden soll, wo sie endlich stattfindet. War das mit der Einpreisung der CO2-Emissionen, um die Klimaerwärmung zu verlangsamen, also gar nicht so ernst gemeint?

Wenn angesichts relativ geringer Preissteigerungen, die zudem nur vorübergehend auftreten und zum Teil aus staatlichem Handeln resultieren, das Schreckwort „Inflation“ ununterbrochen im Munde geführt wird, müssen andere Interessen berührt sein.

Und tatsächlich, das Sparverhalten der Bundesbürger gefällt Banken, Sparkassen und Kapitalbesitzern nicht länger.

Die Weltwirtschaft bietet nicht mehr genügend profitable Anlagemöglichkeiten. Die Banken können mit den Guthaben ihrer Sparer kaum noch etwas anfangen. Aber vielleicht kommt ja wieder alles in Schwung, wenn die braven Bürgerinnen und Bürger ihre Konten räumen und ihr Geld rasch in die Spekulation mit Aktien und Immobilien werfen.

Vergessen machen wollen diese Geldmobilisierer die Krise von 2008 nebst dem Umstand, dass bei Kurssteigerungen von Aktien und Preissteigerungen von Immobilien nur diejenigen gewinnen, die als letzter vor dem Kurssturz verkaufen und diejenigen im Nullsummenspiel verlieren, die am Ende der Rally eingestiegen sind.

Die angebliche Sicherung der Geldguthaben mittels Investment wird die Inflationsgeängstigten teuer zu stehen kommen.

Sorgen wir also dafür, dass die inflationäre Verwendung des Begriffs Inflation durch die Marktanbeter als das erkannt wird, was er ist – ein billiger Trick, der mit unpassendem historischen Vergleich ein windiges Geschäft ermöglichen soll und Enkel um Ersparnisse und Rente bringen wird.