Zur Debatte über die Zukunftsaussichten des Sozialismus in China
Die China-Debatte nervt mich zunehmend, ich finde sie aufregend und langweilig zugleich. Sie regt mich auf, weil das Gros der europäischen Linken sich anmaßt, darüber zu befinden, ob und wie China zum Sozialismus gelangt, obgleich ihr eigner Versuch in Osteuropa kläglich gescheitert und in Westeuropa ein solcher Versuch noch nicht einmal unternommen worden ist. Ich halte mich da an Lenin, der vor hundert Jahren meinte, dass sich die Dinge anders entwickelt haben, als es sich Marx und Engels gedacht hatten. So ist das auch heute in China.
Soweit ich sehe, hat die chinesische KP-Führung in den vergangenen dreißig Jahren nie behauptet, dass China ein sozialistisches Land sei. Vielmehr sollen nach ihrer Vorstellung bis 2049 die Grundlagen eines „Sozialismus chinesischer Prägung“ errichtet und „ein bescheidener Wohlstand“ für Alle erreicht werden, also immer noch kein Sozialismus in vollentwickelter Gestalt (was immer das sein mag). Wie China und die Welt 2049 aussehen werden, weiß niemand – auch 1929 hatte niemand ein realistisches Bild von der Lage in der Sowjetunion und der Welt im Jahre 1959.
Ich sehe die Situation in China als durchaus kritisch an, kritischer vielleicht als die in der Sowjetunion 1929 (aber selbst da bin ich mir nicht so sicher). Damals hatte die sowjetische KP-Führung die bis dahin betriebene „Neue Ökonomische Politik“ (NÖP) abgebrochen, vor allem aus innenpolitischen Gründen, die aus zunehmenden sozialen Spannungen resultierten. Die verheerenden Folgen dieses Bruchs („Perelom“ genannt) sind inzwischen bekannt, weniger bekannt ist vielleicht die in den Zeiten der NÖP ausgegebene Losung Bucharins: „Bereichert Euch!“ Die KP-Führung Chinas beschreitet diesen Weg (Bucharins) offenbar weiter – mit durchaus ungewissem Ausgang: Nichts kann ausgeschlossen werden, weder dass China die formulierten Zielstellungen erreicht noch dass es auch dort einen „Perelom“ mit unabsehbaren Folgen gibt oder dass es, wie die einstige Sowjetunion, wieder kapitalistisch wird. All dies ist möglich…
Wer sich im Zusammenhang mit der chinesischen NÖP über die Zahl der Millionäre aufregt, sollte wenigstens bedenken, dass es Mitte der 1980er Jahre allein in dem tausendmal kleineren DDR-Bezirk Erfurt 90 Millionäre gab; die Relation ist etwa dieselbe. Und so treffen die meisten der formulierten Kritikpunkte an den gegenwärtigen Zuständen in China ebenso auf die untergegangenen „realsozialistischen“ Staaten Osteuropas zu, Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln, fehlende Rolle der Gewerkschaften, unzureichende Demokratie usw. usf. Auch deshalb sehe ich die Situation in China kritisch, insbesondere nachdem die chinesische KP-Führung ausgerechnet den Passus aus dem Parteistatut gestrichen hat, der eine mehrfache Wiederwahl des Vorsitzenden ausschloss.
Auf der andern Seite hat China geschafft, was der Sowjetunion im zivilen Wirtschaftsbereich nie gelungen ist, dass es die wirtschaftlich-technologische Entwicklung in der Welt (mit)bestimmt. Die in diesem Zusammenhang vorhandenen Ängste in den USA und der EU sind, von ihrer Warte aus betrachtet, sehr real und durchaus berechtigt. Und vielleicht ist wirtschaftliche Stärke in China sogar eine Voraussetzung für das, was gemeinhin mit dem schwammigen Wort Demokratisierung etikettiert wird; der umgekehrte Weg, den die sowjetische KP-Führung in den letzten Jahren ihrer Herrschaft beschritten hatte, mittels Demokratisierung einen wirtschaftlichen Aufschwung zu erreichen, erwies sich jedenfalls als Irrweg.
Die sozialen Kosten von Chinas Aufstieg waren und sind sicherlich nicht gering – waren sie bei dem (gescheiterten) Versuch in der Sowjetunion geringer? Das sollte konkret untersucht werden, statt die chinesische Entwicklung besserwisserisch an den Phantasiegebilden einer eurozentristischen Linken zu messen. Solange nicht Vergleiche mit realen Objekten – sei es der Geschichte (Sowjetunion), sei es der Gegenwart (Indien, meinethalben auch Brasilien oder Indonesien) – vorgenommen werden, bleibt die Debatte nur langweilig.