Freihandel schafft Arbeitsplätze. quartalslüge

Patrick Schreiner. Lunapark21 – Heft 24

Der EU-Binnenmarkt ist aus ökonomischer Sicht nichts anderes als eine Freihandelszone. Aktuell steht die Europäische Union davor, eine große transatlantische Freihandelszone gemeinsam mit den USA zu schaffen.(siehe S. 8ff) Die Argumente heute sind die gleichen wie damals: Mehr Wettbewerb, mehr Wachstum, mehr Arbeitsplätze, mehr Investitionen, mehr Exporte und mehr Wohlstand soll dies bringen.

Das wird im Koalitionsvertrag von Union und SPD wie folgt auf den Punkt gebracht: „Die Wachstumschancen, die sich aus dem Freihandel ergeben, wollen wir durch eine intensivere internationale Koordination nutzen. (…) Wir treten für die Vollendung des europäischen Binnenmarktes ein. (…) Noch bestehende Hindernisse müssen beseitigt werden (…) Genauso wie den Erfolg der Verhandlungen der Europäischen Union über ein Freihandelsabkommen mit den USA (TTIP) streben wir auch den zügigen Abschluss weiterer Handelsabkommen mit dynamisch wachsenden Schwellenländern an.“

Der Glaube an Freihandel, Deregulierung und Liberalisierung scheint trotz jahrelanger Krise und trotz des Scheiterns der neoliberalen EU-Lissabon-Strategie lebendiger denn je. Kritik an solchen Freihandelsabkommen, an Liberalisierung und Privatisierung spielt im politischen und medialen Diskurs hingegen so gut wie keine Rolle. Tatsächlich erweist sich die Behauptung, Freihandel schaffe Arbeitsplätze, als Quartalslüge. Ein Blick zurück ist angebracht. Die angeblich objektiven Studien über die Segnungen des Freihandels müssen einer kritischen Bilanz unterzogen werden.

Medial und politisch ausgeschlachtet wurde hierzulande insbesondere die Studie „Transatlantic Trade and Investment Partnership. Who benefits from a free trade deal?”, die die Bertelsmann-Stiftung im Juni 2013 veröffentlichte. In der Tat wird wieder einmal das Bild blühender Landschaften gezeichnet. Durch die Freihandelszone EU-USA würden die EU-Staaten und die USA stark profitieren. Das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner würde angeblich deutlich ansteigen. Deutschland könne dank Freihandelszone mit einem um 4,7 Prozent höheren BIP rechnen, noch besser stünden beispielsweise Schweden (7,3 Prozent) und Großbritannien (9,7 Prozent) da. Auch die Krisenländer Südeuropas sollen besonders profitieren: Italien mit einem um 4,9 Prozent höheren BIP, Griechenland mit 5,1 Prozent und Spanien mit 6,55 Prozent kommen sogar auf noch bessere (und erstaunlich präzise vorhergesagten) Werte. Die Arbeitslosigkeit soll allenthalben deutlich sinken – gerade auch in Südeuropa.

Am deutlichsten hat dies Aart De Geus, Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann-Stiftung, bei der Vorstellung der Studie formuliert: „Ein transatlantisches Freihandelsabkommen wäre ein wichtiges Instrument für mehr Wachstum und Beschäftigung in Europa. Gerade die krisengeschüttelten Südeuropäer würden davon überdurchschnittlich profitieren.“

Sieht man sich allerdings die Zahlen nur für diese Krisenländer genauer an, bleibt davon nicht viel übrig (Abbildung). Selbst wenn man das optimistischste und deshalb unrealistischste Szenario zu Grunde legt, das vom ifo-Institut in der Studie für die Bertelsmann-Stiftung durchgerechnet wurde, sind die Arbeitsplatzgewinne verglichen mit den krisenbedingten Arbeitsplatzverlusten nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Studie prognostiziert für Griechenland langfristig knapp 35000 neue Arbeitsplätze, für Spanien knapp 143000. Verglichen mit den durch die Krise verlorenen 980000 bzw. vier Millionen Jobs macht dies gerade einmal 3,5 Prozent bzw. 3,6 Prozent aus.

Dass selbst solche Zahlen über angebliche positive Effekte des EU-US-Freihandelsabkommens viel zu optimistisch und daher unrealistisch sind, legen rückblickend frühere Erfahrungen in der Europäischen Union nahe. Hier wurden in den 1980er Jahren die Grundlagen für den 1993 eingeführten EU-Binnenmarkt geschaffen. Auch damals agierte man mit großen Versprechungen. Die EU-Kommission ließ Ende der 1980er Jahre eine groß angelegte ökonomische Studie durchführen, die 1988 als so genannter „Cecchini-Report“ erschien. Darin wurden Wachstumseffekte durch den Binnenmarkt von 2,5 bis 6,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Aussicht gestellt; zwei Millionen neue Arbeitsplätze sollten entstehen. Die Europa-Begeisterung jener Jahre beruhte nicht zuletzt auf den Versprechungen der Ideologinnen und Ideologen des Freihandels. Man erinnere sich: Dies war wenige Jahre nach der neoliberalen Wende von Margaret Thatcher, Ronald Reagan und Helmut Kohl.

Der Cecchini-Report floss ebenso wie ein Forderungspapier der europäischen Industrielobby, des „European Round Table of Industrialists“, in ein Weißbuch der EU-Kommission mit dem Titel „Vollendung des Binnenmarktes“ ein. Dieses wiederum wurde zum Leitfaden für die Schaffung des EU-Binnenmarkts, für Liberalisierung und Deregulierung von Dienstleistungs-, Güter-, Arbeits- und Kapitalmärkten in Europa. Damit beruhte die Freihandelspolitik damals, genau wie heute, ideologisch und politisch auf zwei Säulen: Auf den Forderungen von Lobbygruppen des Kapitals und auf wohlklingenden Versprechungen hinsichtlich der Segnungen, die der Freihandel angeblich bringe.

Versprechungen, die im Falle des EU-Freihandels allerdings schon Anfang der 1990er Jahre nicht mehr zu halten waren. Die Kommission begann schon ab 1992, ihre Zahlen nach unten zu korrigieren (der EU-Binnenmarkt existiert offiziell erst seit 1993). Heute liegen mehrere Studien vor, die die wirtschaftlichen Effekte des EU-Binnenmarkts untersuchen – und keine von ihnen bestätigt rückblickend auch nur annähernd die Zahlen für Wachstum und Beschäftigung im Cecchini-Report, mit denen der Binnenmarkt bei seiner Durchsetzung begründet und legitimiert wurde. Die umfassendste Studie zum „Erfolg“ des EU-Binnenmarkts hat 1997 die EU-Kommission unter dem Titel „Der Binnenmarkt und das Europa von morgen“ vorgelegt. Ihre Kernaussage ist, dass der erhoffte und vor Einführung des Binnenmarkts vorausgesagte ökonomische Prozess, durch den es zu Wachstum und Beschäftigung kommen sollte, nicht eingetreten sei.

Dass die Kommission dennoch ein positives Fazit des EU-Binnenmarktes zieht, ist Folklore und kann nicht überraschen, würde alles andere doch die eigene Existenzberechtigung in Frage stellen. Schließlich gab es ja mit Weltwirtschaftskrisen und der deutschen Wiedervereinigung vermeintliche Erklärungen zuhauf. Man könnte dennoch zu einer anderen Schlussfolgerung kommen. Zu jener nämlich, dass der EU-Binnenmarkt, der Standortkonkurrenz ausgebaut und Liberalisierung wie auch Deregulierung vorangetrieben hat, zwingend nicht zu mehr, sondern zu weniger Wachstum und Wohlstand führen muss – weil soziale Ungleichheit, zunehmende Unsicherheit und die Vernachlässigung volkswirtschaftlicher Nachfrage nun einmal wirtschaftlich schädlich sind. Grundsätzlich ist festzustellen: Seit Mitte der 1990er Jahre stagnieren in Europa weitgehend die Reallöhne, ist die Massenarbeitslosigkeit gestiegen, sind die Lohnquoten – der Anteil der abhängig Beschäftigten am Bruttoinlandsprodukt – beschleunigt gefallen, hat die Verarmung deutlich und die Kluft zwischen Arm und Reich in extremer Form zugenommen. Dafür gibt es zweifellos viele Gründe; doch einer davon ist auch der Freihandel mit Liberalisierung und Deregulierung.

Und heute? Soll die nächste Freihandelszone geschaffen werden. Werden wieder einmal Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung propagiert. Wird wieder einmal der Freihandel mit phantastischen Prognosen hinsichtlich Wohlstandsgewinnen, Wachstum und Beschäftigung begründet und gefeiert. Wird man wieder einmal all dies beschließen. Und in einigen Jahren wird keine einzige retrospektive Studie die Prognosen der Bertelsmann-Stiftung bestätigen oder gar übertreffen. Aber die politischen Fehler sind dann gemacht. Und die Ernte fahren nicht die Beschäftigten, nicht die Mehrheit der Bevölkerung und auch nicht die viel zitierten „mittelständischen und kleinen Unternehmen“ ein. Vielmehr besteht diese Ernte in nochmals höheren Exporten und Extraprofiten der großen Konzerne und der Banken, die in erster Linie vom Freihandel profitieren.

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