Erpressung pur

Griechenland, deutsche Verantwortung und der Tod eines Siemens-Ehrenmannes
kolumne winfried wolf. Lunapark21 – Heft 29

Port-au-Prince, 13. November 1995, Präsidentenpalast. Präsident Bertrand Aristide redet gegenüber der kleinen Bundestagsdelegation, deren Mitglied ich bin, über „Armut, Analphabetentum und Arbeitslosigkeit in Haiti“. Günther Dahlhoff, deutscher Botschafter im Land, unterbricht Aristide barsch und fragt: „Wie steht es mit den Privatisierungen in Ihrem Land, Exzellenz? Was ist mit dem E-Werk?“ Ich hatte durchaus eine Vorstellung von imperialistischer Politik. Doch so offen erpresserisch hatte ich mir das nicht vorgestellt. Wobei Naivität auch von Vorteil sein kann. Das Ganze wurde zum Skandal; der damalige Bundesaußenminister Klaus Kinkel musste zum ersten Mal in der Geschichte der deutschen Diplomatie einen Botschafter wegen Rassismus in den vorgezogenen Ruhestand schicken.[1]

Nun ist Haiti das ärmste Land der westlichen Zivilisation. Und vor allem weit weg. Alles also nicht zu vergleichen mit dem reichen Europa und dem hier vorherrschenden zivilisierten Politikstil.

Brüssel, 16. Februar 2015, Beton-Glas-Palast der EU. Treffen des Finanz-Politbüros der Eurozone, Deckcode „Euro-Gruppe“. Yanis Varoufakis hatte zwei Tage zuvor im Spiegel von „Waterboarding“ gesprochen, davon dass „Griechenland sprichwörtlich unter Wasser gedrückt wird. Kurz vor dem Wasserstillstand wird uns gestattet, ein paar Atemzüge zu nehmen. Dann drückt man uns wieder unter Wasser, und alles geht von vorne los.“ Beim Euro-Gruppe-Treffen selbst legt er ein Sechs-Seiten-Papiere vor (später hieß es in den deutschen Medien, der Mann „erschien mit leeren Händen, ganz ohne Powerpoint“). In dem Papier wird Punkt für Punkt belegt: Die Ziele von EU und Troika wurden alle verfehlt. Weitere Privatisierungen seien „kontraproduktiv“, weil sie „das Land noch mehr in den Abgrund reißen“. Die Gang lässt Varoufakis auflaufen; ihr Bandenchef, Jeroem Dijsselbloem, lässt die Sitzung ergebnislos abbrechen. Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble wird zitiert mit: „Am 28., 24 Uhr, isch over.“[2]

Griechenland wird seit Jahrzehnten von Parteien regiert, die entweder – in Form der Nea Demokratia – eng mit der CDU/CSU oder – im Fall von PASOK – mit der SPD verbandelt sind. Der griechische Ministerpräsident, unter dem der Euro eingeführt wurde, Konstantinos Simitis, zählte zu den FROGS, zu den FRiends Of Gerhard Schröder. Seit rund fünf Jahren diktiert die EU, welche Politik in Griechenland zu exekutieren sei. Die drei vorausgegangen Ministerpräsidenten führten jeweils dienstbeflissen aus, was die Troika aus EU, EZB und IWF vorgaben. Und immer der Verweis auf „das Licht am Ende des Tunnels.“ So heißt es in dem Papier der Euro-Gruppe vom 21. Februar 2012, mit den „beschlossenen Maßnahmen“ würde „die griechische Schuldenquote kontinuierlich zurückgeführt und bis 2020 bei 120,5% liegen.“ Heute liegt sie bei knapp 180 Prozent – und steigt weiter.

Nachdem nun vor wenigen Wochen eine nicht genehme Regierung demokratisch gewählt wurde, wird dieser das ökonomische Desaster der vergangenen 10 bis 15 Jahre angelastet – und von dieser ein beschleunigter Sparkurs gefordert. Der unerbittlichste Antreiber der Erpresserbande ist die deutsche Regierung der Großen Koalition unter Angela Merkel und Sigmar Gabriel, in Brüssel meist vertreten durch den Bundesfinanzminister.

Die Interessen der deutschen Konzerne und Banken an dem brutalen Vorgehen der EU gegen die neue griechische Regierung liegen auf der Hand (siehe Seite 52). Wenn Wolfgang Schäuble in der österreichischen Tageszeitung Kurier (6.2.2015) feststellt: „Die Probleme liegen allein in Griechenland, nicht außerhalb. Und schon gar nicht in Deutschland“, dann ist das falsch: Sie liegen auch in Deutschland. Es gibt eine dreifache deutsche Verantwortung für die Misere in Griechenland.

Da sind erstens die Nazi-Verbrechen und die Griechenland 1942 abgepresste Zwangsanleihe in Höhe von 476 Millionen Reichsmark. Tsipras erste Amtshandlung nach seiner Vereidigung war ein Besuch am Athener Denkmal am Schießstand von Keseriani, wo das NS-Regime 600 Hinrichtungen von Widerstandskämpfern durchgeführt hatte. Selbst die FAZ schrieb am 10. Februar hinsichtlich der Forderungen der griechischen Seite nach Reparationsleistungen vorsichtig: „Die Rechtslage ist hier keineswegs eindeutig“, insbesondere im Fall der Zwangsanleihe könnte Griechenland möglicherweise zu Recht 11 Milliarden Euro von Berlin fordern.

Da ist zweitens die direkte deutsche Verantwortung für das gegenwärtige Elend in Griechenland. Es ist schlicht unwahr, dass die Bundesregierung nichts mit der konkreten Sparpolitik in Griechenland zu tun hätte. Alle wichtigen Bundestagsbeschlüsse zur „Hilfe“ für Griechenland waren „unterlegt“ mit detaillierten Vorgaben zum brutalen Sparen. So war die Bundestagsabstimmung vom 27. Februar 2012 mit einem Dokument „untersetzt“, in dem es heißt: „Notwendige Maßnahmen: […] Kürzung der Aufwendungen für Arzneimittel um mindestens 1076 Mio Euro im Jahr 2012.“ In dem Text werden über 11 Seiten hinweg weitere extreme Sparmaßnahmen im Detail aufgelistet – immer als Voraussetzungen dafür, dass Geld fließt (an die Banken).

Und da sind drittens die flächendeckenden Schmiergeldzahlungen deutscher Konzerne in Griechenland. Ist es nicht einigermaßen lächerlich, wenn hierzulande über Korruption im griechischen Alltag berichtet wird und gleichzeitig die große Korruption, für die die deutsche Seite maßgeblich verantwortlich ist, verschwiegen wird? Die deutschen Konzerne Rheinmetall (Lieferung von Panzerhaubitzen nach Athen), Deutsche Telekom (Übernahme der griechischen Telefongesellschaft OTE), MAN-Ferrostaal (Lieferung von U-Booten), Krauss-Maffei Wegmann (Leo-II-Panzer) und Siemens (U-Boote und U-Bahn) – um nur die wichtigsten Schmiergeld-„Investoren“ zu nennen – haben im Zeitraum 1998 bis 2010 in Griechenland mindestens 200 Millionen Euro für die Korrumpierung von Entscheidern „investiert“. Damit konnte man – ein paar wenige Aufrechte ausgenommen – die gesamte in Griechenland herrschende politische Klasse plus die paar wichtigen Militärs plus die maßgeblichen Staatsanwälte und Richter schlicht „einkaufen“.

All das ist im Detail von Gerichten nachgewiesen – und zwar von Gerichten in Athen und von solchen in Deutschland. Und all das ist nicht Schnee von gestern: Anfang Februar 2015 nahm sich Heinz Joachim Neubürger, der langjährige Siemens-Finanzvorstand, das Leben. In den Medien war viel zu lesen über den Tod eines „Ehrenmanns“, der „für Transparenz und Verlässlichkeit“ gesorgt habe.[3] Das Wort „Griechenland“ taucht nirgendwo auf. Nicht im Bericht des Manager Magazin. Nicht bei Wikipedia. Nicht im ausführlichen, vierspaltigen Nachruf der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Doch Neubürger brachte sich um, weil er vor Gerichten in Athen und München mit guten Argumenten und Dokumenten beschuldigt wurde, an der Spitze des Siemens-Systems zur flächendeckenden Korrumpierung der griechischen Elite gestanden zu haben. Wobei diese Korrumpierungsmaßnahmen zur Folge hatten, dass Griechenland sich um Dutzende Milliarden Euro zusätzlich verschuldete – wegen absurder Aufrüstungsprogramme, wegen grotesker Bauten für die Olympiade, wegen einer unnötigen, sündhaft teuren Brücke am Eingang des Isthmus von Korinth (Preis je Pkw-Fahrt: 13,50 Euro). Usw. usf.

Am 6. Februar 2015 weilte Yanis Varoufakis in Berlin – Antrittsbesuch bei Wolfgang Schäuble. Auf der Abschluss-Pressekonferenz meldete sich ein Journalist mit der Feststellung: „In 90 Prozent aller Korruptionsfälle in Griechenland ist eine deutsche Firma involviert“. Er wolle „nur einen Namen nennen: Michael Christoforakos, Ex-Chef von Siemens Griechenland. Der läuft doch in München frei herum!“ Erst nach dieser Intervention verwies auch Varoufakis auf „grenzüberschreitende Gesetzesverletzungen in der Euro-Zone“ und bat „unsere Freunde in der EU um Hilfe“. Denn „sonst können wir unseren Bürgern nicht in die Augen sehen und ihnen nicht mehr versichern, dass es keine Immunität für Korruptions-Täter in der EU gibt.“ Schäubles Kommentar: „Jeder muss vor der eigenen Türe kehren.“ Es handelte sich im übrigen hier um eine Begebenheit, über die die führenden Medien nicht berichteten – hier dokumentiert nach der Tageszeitung junge Welt.

Was wir in diesen Wochen in der EU im Fall Griechenland erleben, ist der bislang größte politische Skandal in der 60-jährigen Geschichte von EWG/EG/ EU, ist imperialistische Erpressung pur.

Winfried Wolf ist Chefredakteur von Lunapark21.

Anmerkungen:

[1] Es gelang damals, den Skandal über die Zwischenstationen Konkret und Badische Zeitung im Stern (5/96) zu publizieren. Eine mutige Redakteurin (Bettina Schneuer) unterstützte mich; eine SPD-MdB mit Rückgrat (Gabriele Fograscher) deckte meine „das deutsche Nest beschmutzenden“ Aussagen und hielt auch dann noch stand, als der SPD-Fraktionschef (Peter Struck) sie massiv anging. In der Öffentlichkeit waren es dann aber „nur“ Drittweltinitiativen und fortschrittliche religiöse Gruppen wie der „Aachener Friedenspreis“, die dem shitstorm Paroli boten. Auch die PDS-Bundestagsfraktion ging in Deckung. Siehe: Winfried Wolf, Haiti – Arroganz im Armenhaus – Bonner Diplomatie, Rassismus und Armutsentwicklung, Köln, ISP, 1996.

[2] Nach: Süddeutsche Zeitung vom 7. März 2015.

[3] So zu lesen im Nachruf in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 7. Februar 2015, die an dieser Stelle allerdings den Ex-Siemens-Chef Heinrich von Pierer zitierte, der seinerseits fünf Millionen Euro zahlte, um vor Gericht nicht weiter wegen der Siemens-Schmiergeldzahlungen erscheinen zu müssen.

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