Eugen Varga (1879-1964)

Zu seinen mittel- und langfristigen Prognosen ökonomischer Entwicklung
Thomas Kuczynski. Lunapark21 – Heft 29

Dass sich im vorigen Jahr der Todestag von Eugen (ungarisch Jenö, russisch Jevgenij) Varga zum fünfzigsten Male jährte, war, ich muss es zu meiner Schande gestehen, auch mir entgangen. Dabei gehörten die Arbeiten des Begründers kontinuierlicher marxistischer Konjunkturberichterstattung über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg zur Pflichtlektüre von Konjunkturforschern in aller Welt, gleichgültig welcher ideologischen Provenienz.[1] In ihrer Art sind diese umfassenden Analysen der Weltkonjunktur bis heute unübertroffen und scheinen in ihrer Kombination von empirisch-statistischer Materialfülle und politisch-ökonomischer Einordnung der Ereignisse geradezu unwiederholbar – vielleicht auch ein Grund, kein besonders guter, weshalb es heute unter den Linken niemanden gibt, der auf seinen Spuren wandelt und Vergleichbares zu leisten versucht.

Varga verstand seine nüchternen Analysen immer als Beitrag zum internationalen Klassenkampf, und daher leitete er aus ihnen auch mittel- und längerfristige Prognosen ab, die häufig hoch umstritten und zuweilen erstaunlich treffsicher waren. So wurde er, als er 1924 feststellte, der Weltkapitalismus sei in eine Periode der „relativen Neustabilisierung“ eingetreten, von Ultrarevolutionären als „Rechter“ und „Opportunist“ beschimpft, worauf er mit den auch heute noch bedenkenswerten Worten antwortete: „Es gibt keine ‘linke’ oder ‘rechte’ Analyse; es gibt keine ‘opportunistische’ oder ‘revolutionäre’ Perspektive. Es gibt nur ‘richtige’ oder ‘unrichtige’ Analysen; eine richtige oder eine unrichtige Perspektive. Und mag sich jemand für einen noch so großen Revolutionär halten, weil er die Perspektive des Sieges des Proletariats ständig in kürzester Zeit vor sich sieht: eine erfolgreiche revolutionäre Politik lässt sich nur auf der Grundlage einer richtigen, den Tatsachen entsprechenden, Analyse und einer sich darauf gründenden Perspektive erreichen.“ (8.5.1925, S. 1017) Auch die Redaktion der „Internationalen Pressekorrespondenz“, in der seine Konjunkturberichte erschienen, wies 1930 („sicherheitshalber“) darauf hin, dass die Berichte „nicht als irgendwelche offizielle oder offiziöse Veröffentlichungen leitender Instanzen der Komintern zu betrachten sind,“[2] denn kurz zuvor war er wieder einmal als „Rechter“ und nun auch noch als „Bucharinist“ verleumdet worden.

Kurzfristig viel zu optimistisch und im Einzelnen falsch, aber langfristig durchaus richtig und ungemein hellsichtig, meinte er am 5. Februar 1926 zur Zukunft Europas: „Der Kampf um die Eroberung der Macht durch das Proletariat … kommt in Gang. Endet er nicht mit einem Sieg des Proletariats, … so kann er mit einer Vernichtung der ‘überflüssigen’ Produktionsmittel und der Vernichtung der ‘überflüssigen’ Menschen durch Krieg, Hungersnot und Seuchen enden, und auf dieser Grundlage kann dann für Europa – als ein Anhängsel Amerikas – eventuell ein neuer Aufbau des Kapitalismus stattfinden.“ (S. 300/301) Zwanzig Jahre später, 1946, als sich seine Langzeitprognose für Westeuropa zu bestätigen begann, schrieb er in eben diesem Sinne sein Buch über „Veränderungen in der Wirtschaft des Kapitalismus im Ergebnis des Zweiten Weltkriegs“.[3] Der wahre Hintergrund der sich anschließenden „Varga-Kontroverse“, in deren Ergebnis das Buch und sein Verfasser öffentlich verdammt und das von ihm über 20 Jahre geleitete Institut geschlossen wurde, war allerdings die stark antisemitisch akzentuierte Kampagne gegen den sogenannten Kosmopolitismus. Die damals übliche „Selbstkritik“ gab Varga erst ab, als – seine Worte – „die Kriegshetzer im imperialistischen Lager … die Lüge verbreiteten“, er sei jemand „mit einer westlichen Orientierung … ein konterrevolutionärer Verräter der Arbeiterklasse“, eine Einordnung, die dieser Erzrevolutionär niemals auf sich sitzen lassen konnte.[4]

Natürlich enthielten Vargas Analysen auch Fehler, darunter durchaus gravierende. So war er über Jahre ein vehementer Verfechter der sogenannten Sozialfaschismus-These, hatte noch am 20. August 1934 die Hoffnung auf einen baldigen „zweiten Turnus der Revolutionen“ (S. 1909), schrieb am 25. Januar 1935 gar über eine „sich zersetzende NSDAP“ (S. 468) usw. Auf ganz anderer Ebene dagegen lag seine zwar falsche, aber sehr klare und damals auch einleuchtende Definition dessen, was er als erster „die allgemeine Krise des Kapitalismus“ nannte: Die Terminologie Lenins weiterentwickelnd schrieb er am 18. November 1933, sie sei „jene Periode des Imperialismus, in der sich der sterbende Kapitalismus in einen zum Teil bereits gestorbenen Kapitalismus verwandelt hat, in der das kapitalistische Gesellschaftssystem auf einem sechsten Teil der Erde bereits gestürzt ist und der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie bereits die Form des Kampfes zweier Wirtschaftssysteme angenommen hat.“ (S. 1709)

Beim Schreiben dieser Passage hatte er wahrscheinlich vergessen – oder verdrängt? – was er zwölf Jahre zuvor geschrieben hatte: „… dagegen besteht die Gefahr einer Ausschaltung Russlands als Motor der internationalen Revolution. Denn es soll nicht verschwiegen werden: Es gibt in Russland Kommunisten, die, des langen Wartens auf die europäische Revolution überdrüssig geworden, sich endgültig auf eine Isoliertheit Russlands einrichten wollen. Dies bedeutet: Friede mit den Imperialisten, regelmäßigen Güteraustausch mit den kapitalistischen Ländern und Konzessionen verschiedener Art … Diese Strömung, welche den Proletarierstaat Russland und seine proletarische Wirtschaft isoliert innerhalb der kapitalistischen Welt zu stabilisieren wünscht, ist heute noch schwach und bedeutungslos. Aber sie kann stark werden, wenn das proletarische Russland noch lange isoliert bleibt. Mit einem Russland, welches die soziale Revolution der anderen Länder als eine ihm fremde Angelegenheit betrachten würde, welches sich friedlich in den internationalen Güteraustausch einfügen wollte, würden die kapitalistischen Länder dann allerdings in friedlicher Nachbarschaft leben können.“

Unbeschadet der Tatsache, dass die Kapitalisten niemals „in friedlicher Nachbarschaft“ mit der Sowjetunion gelebt haben, stellte Varga in einem 1963/64 geschriebenen (leider unvollendet gebliebenen) Vermächtnis dazu fest: „Die Strömung, die vor 42 Jahren ‘schwach und bedeutungslos’ erschien, ist heute siegreich geworden. Obwohl im Programm der Partei und in der täglichen Propaganda ununterbrochen von dem proletarischen Internationalismus gesprochen wird, ist die soziale Revolution der anderen Länder für die oberste Leitung der Sowjetunion tatsächlich eine fremde Angelegenheit geworden: Entscheidend für die Politik ist das Interesse des Staates als solcher!“[5]

In diesem Sinne beantwortete er auch die Frage, warum er nichts mehr zur sozialistischen Wirtschaft publiziere: „Solange man es nicht für richtig hält, sich wieder das Leninsche Prinzip ´Wir dürfen unsere Fehler nicht verheimlichen, weil der Feind das ausnutzen könnte. Wer das fürchtet, ist kein Revolutionär’ zu eigen zu machen, denke ich gar nicht daran.“[6]

Thomas Kuczynski lebt und arbeitet in Berlin. Seine bis Heft 27 erschienenen Beiträge zur “Geschichte und Ökonomie” sind auch als Buch erhältlich: Geschichten aus dem Lunapark (PapyRossa Verlag Köln).

Anmerkungen:

[1] Gesammelt nachzulesen in Eugen Varga: Wirtschaft und Wirtschaftspolitik. Vierteljahresberichte 1922-1939, hg. v. Jörg Goldberg. Bd. 1-5, Berlin (West) 1977. – Im Text wird auf die Berichte mit Erscheinungsdatum und Seitenzahl des jeweiligen Berichts verwiesen.

[2] Zit. ebenda, im Vorwort von J. Goldberg, in Bd. 1, S. 38.

[3] Das Buch erschien nie auf Deutsch; selbst die 1974 in der DDR erschienenen „Ausgewählten Schriften“ enthielten im Band 2 nur vier von insgesamt 15 Kapiteln.

[4] Vgl. Kyung Deok Roh: Rethinking the Varga Controversy, 1941-1953, in: Europe-Asia Studies (London), Vol. 63 (2011), Nr 5, S. 833-55, insbes. S. 850, sowie Jenõ Varga: Unveröffentlichtes Manuskript; abgedruckt bei Gerhard Duda: Jenõ Varga und die Geschichte des Instituts für Weltwirtschaft und Weltpolitik in Moskau 1921-1970. Berlin 1994, S. 405-10.

[5] Jenõ Varga: Unveröffentlichtes Manuskript, S. 365 (mit Bezug auf das Vorwort zur 2. Auflage von Eugen Varga: Die wirtschaftspolitischen Probleme der proletarischen Diktatur. Hamburg 1921, S. 11/12).

[6] Berichtet bei Jürgen Kuczynski: Gesellschaftswissenschaftliche Schulen. Berlin 1977, S. 40 (mit Bezug auf Lenin, Werke, Bd. 32, S. 500).

Mehr lesen:

Vierzig Jahre Diagnose: Der erste Bericht an den Club of Rome und seine Folgen Aus: LunaPark21 – Heft 18 Dass in einem endlichen System wie der Erde auch die Ressourcen endlich sind, also begrenzt, folglich auch jedes quantita...
Der Zahlenteufel Pikettys „Kapital im 21. Jahrhundert" – Geschichten und Probleme Sebastian Gerhardt. Lunapark21 - Heft 28 Thomas Pikettys neues Buch ist ein inter...
Der „Mauerfall” Historisch-kritische Betrachtungen zu einer gescheiterten Revolution Thomas Kuczynski. Lunapark21 - Heft 28 Die Einschätzung dessen, was im Herbst...
Die faschistische „Machtergreifung“ Sozialhistorisches zu einer Konterrevolution Thomas Kuczynski. Lunapark21 - Heft 21 Anarchie und Konkurrenz als Grundcharakteristika kapitalistisc...
Schlafwandler?! Die Europawahlen und der Erste Weltkrieg Thomas Kuczynski. Lunapark21 - Heft 25 Der australische Historiker Christopher Clark hat in einem volumin...