Regieren per Krise?

US-Wirtschaftspolitik nach den Wahlen
Sebastian Gerhardt. Lunapark21 – Heft 28

Vier Wochen nach dem Sieg der Republikaner in den Mid-Term-Elections, dem Wahltermin zwischen zwei Präsidentschaftswahlen, kehrt ein Gespenst nach Washington zurück: das Gespenst eines Haushaltsstreits. Wieder drohen Republikaner damit, durch die Verweigerung von Finanzmitteln für die US-Regierung die Durchsetzung von diesem oder jenem politischen Teilziel zu erpressen. Es kursieren bereits Listen mit verschiedenen Daten und Regierungsprogrammen, die davon betroffen sein könnten. Besorgt warnen Experten vor der Rückkehr eines „Regierens per Krise“ und den gesamtwirtschaftlichen Kosten.[1]

Gründe der Vorsicht
Sie warnen lange bevor die Gefahren akut sind. Tatsächlich haben sich mit der wirtschaftlichen Erholung auch die Steuereinnahmen erhöht.[2] Die Kürzungspolitik der letzten Jahre greift, nicht zuletzt im Gesundheitswesen.[3] Schließlich wurden seit Jahren nicht so viele neue Jobs eingerichtet, wie 2014. Aber die Experten warnen dennoch. Denn die letzte Runde des Haushaltsstreites hat keine Lösung der strategischen Konflikte der US-Eliten gebracht.[4] Die aktuelle Mitteilung zum US-Konjunkturverlauf im dritten Quartal führt das Wachstum auf positive Einflüsse des privaten Konsums, der privaten Anlageinvestitionen, der öffentlichen Ausgaben, der Exporte und des Wohnungsbaus zurück. Auf keinen einzigen dieser Punkte will man verzichten, auch nicht auf das begrenzte Wachstum der öffentlichen Ausgaben. Denn besonders stabil ist die Lage nicht.

Zwar beträgt die offizielle Arbeitslosenrate nur mehr 5,8 Prozent. Die Zahl der Beschäftigten steigt seit über vier Jahren und hat mit bald 140 Millionen im Frühjahr den Vorkrisenstand (138 Millionen) erstmals wieder überschritten. Von 2010 bis heute kamen über 9 Millionen Jobs dazu. Doch auch die Bevölkerung ist gewachsen. Der Anteil der Erwerbstätigen an der Bevölkerung über 16 liegt in den USA bei nur 59,2 Prozent: 4 Prozentpunkte weniger als vor der letzten Krise. Verglichen mit dem Hoch des New Economy Booms 1998 bis 2001 beträgt der Rückgang sogar 5 Prozentpunkte.[5] So lag auch die Arbeitslosenquote vor der Krise, im Jahr 2007, mit 4,3 Prozent immer noch deutlich unter dem aktuellen Niveau.

Mehr Jobs, weniger Geld
Und viele der neuen Jobs sind alles andere als gut: Teilzeitarbeit, schlecht bezahlt. Das zuständige Bureau of Labor Statistics definiert als Teilzeit alle Erwerbsarbeit mit 1 bis 34 Wochenstunden. Von den 26 Millionen Teilzeitarbeitern werden für 19 Millionen „nicht-ökonomische“ Gründe dafür angegeben, dass sie nicht Vollzeit arbeiten. Dazu zählen Probleme mit der Kinderbetreuung, familiäre oder persönliche Verpflichtungen, Ausbildung oder Einkommensbeschränkungen der Rentenversicherung. Für 7 Millionen werden „ökonomische Gründe“ aufgeführt, wie Kurzarbeit, schlechte Konjunktur, Mangel an anderen Jobs. Zwar waren es vor einem Jahr noch mehr, fast 8 Millionen. Doch über 2 Millionen US-Amerikaner stecken in gleich zwei Teilzeitjobs, um über die Runden zu kommen. Und auch die Vollzeitbeschäftigten kommen mit einem Gehalt oft nicht aus: Etwa 4 Millionen haben noch einen Nebenerwerb.

Die Folgen hat der britische Guardian nicht nur in Zahlen ausgedrückt, sondern in Geschichten verfolgt: Die 25 jährige Kiana Howard, Kassiererin bei Wal-Mart, Teilzeit, 9,80 die Stunde. Anthony Goxtia, 33 Jahre, der bei Wal-Mart 10,20 bekommt.[6] Jessica Davies, Soziologiestudentin, 26 Jahre, sagte dem Blatt: „Ich arbeite bei McDonalds jetzt 5 Jahre. Ich bekomme 9,13 Dollar die Stunde. Ich bin seit einem Jahr bei der Kampagne für einen 15-Dollar Mindestlohn. Ich habe dreimal gestreikt und wurde zweimal für zivilen Ungehorsam verhaftet.“

Notgroschen aufgebraucht
Tatsächlich ist die Frage nicht, ob die Beschäftigten kämpfen, sondern nur wo. Denn wer auf Arbeit nichts für eine gewerkschaftliche Organisierung riskieren will oder kann, muss doch zu Hause irgendwie über den Monat kommen. Für viele ist schon das ein Kampf – von Zahlungstermin zu Zahlungstermin. Anders als die Rechnungen des täglichen Lebens, die regelmäßig zugestellt werden, treffen die Einkommen bei immer mehr Familien unregelmäßig ein.[7] Das Ersparte haben sie in den Krisenjahren angreifen müssen. In einer Studie der Zentralbank, der Federal Reserve, heißt es, nur 39 Prozent der befragten Haushalte hätten einen Notgroschen für drei Monate. Und nur 48 Prozent der Befragten könnten eine außerordentliche Ausgabe von gerademal 400 Dollar ohne neuen Kredit oder den Verkauf von Eigentum sicherstellen.[8] 52 Prozent können es nicht. Schon ein kleiner Unfall kann so einen Haushalt ins Unglück stürzen.

Selbst Gesetze helfen nicht immer. Das US-Arbeitsministerium hat jüngst Verstöße gegen den Mindestlohn in Kalifornien und New York untersuchen lassen.[9] Auf der Grundlage von Daten aus dem Jahr 2011 kamen die Forscher zu dem Ergebnis, dass in diesen beiden Staaten etwa 11 Prozent der Niedriglöhner weniger als den geforderten Mindestlohn erhielten. Die Verluste für die Betroffenen waren beträchtlich: In New York 38 Prozent, in Kalifornien gar 49 Prozent des ihnen zustehenden Einkommens. Die meisten Verstöße entfallen auf das Hotel- und Gaststättengewerbe, gefolgt vom Gesundheits- und Bildungswesen sowie dem Handel. Betroffen waren eher Frauen als Männer, eher junge als ältere Beschäftigte. Dabei liegt der heutige US-Mindestlohn im Kaufkraftvergleich auf dem niedrigsten Niveau seit Jahrzehnten.

Wachstum für wen?
Die sozialen Probleme stören die US-Eliten sicher nicht. Je geringer die Löhne, um so mehr Personal kann man sich leisten. Doch wirtschaftliche Unsicherheit betrifft ihre Investitionsvorhaben sehr wohl. Die Bruttoinvestitionen im privaten Sektor haben nur nominell wieder zum Vorkrisenstand aufgeschlossen. Unter Berücksichtigung der Abschreibungen und der Preisentwicklung liegen die Nettoinvestitionen des privaten Sektors heute wieder bei knapp 70 Prozent des höchsten Vorkrisenstandes (2005). Nach dem Absturz von 2009 – damals lagen die Abschreibungen über den Investitionen, der Kapitalstock ging zurück! – ist man noch lange nicht wieder auf einem Wachstumspfad angekommen. Doch nur mit Neuinvestitionen lässt sich technischer Fortschritt in die Wirtschaft einbauen. Auf die Dauer kann sich ohne massive Investitionen keine Weltmacht auf den Weltmärkten behaupten (siehe Grafik).

Deshalb tragen die US-Eliten – wie in der Haushaltskrise vor einem Jahr – einen rücksichtslosen Kampf gegen die Regierung Barak Obama nicht mit. Viele der neugewählten republikanischen Abgeordneten und Senatoren haben nicht vor, ihre Perspektive für eine Regierungsübernahme 2016 durch einen Nahkampf um Einzelfragen zu sabotieren. Republikanische Gouverneure in immer mehr Bundesstaaten entscheiden sich für die Ausweitung der Sozialleistung Medicaid im Rahmen von Obamacare: Im Januar kommt Pennsylvania hinzu. Anfang Dezember verkündete der Gouverneur von Wyoming, dass er ebenfalls nachzieht.[10] Immerhin winken Millionen aus Washington für das regionale Gesundheitswesen und eine Entlastung von Sozialleistungen. Auch in Indiana, Tennessee und Utah bereiten sich die Republikaner auf diesen Schritt vor. Dann blieben von 28 republikanisch regierten Bundesstaaten nur noch 15 bei ihrer Verweigerung gegenüber Obamacare. (Siehe hierzu den folgenden Artikel von H. Hofbauer zu „Obamacare“).

No Vacation Nation
Ein allgemeiner Sinneswandel kündigt sich damit nicht an. Die Selbstverständlichkeiten des US-Kapitalismus finden sich im Kleingedruckten. Nach wie vor gibt es im Land der unbegrenzten Möglichkeiten keinen gesetzlichen Urlaub. Im privaten Sektor gibt es im Schnitt ganze 16 bezahlte Urlaubs- und Feiertage. Doch damit nicht genug. In einer Umfrage gab die Mehrheit der Beschäftigten an, nur die Hälfte der ihnen zustehenden freien Tag in Anspruch zu nehmen.[11] Die BBC kommentierte das unter der Überschrift: „Kultur der Angst“.

2013 hatte der demokratische Abgeordnete Alan Grayson ein Gesetz in den Kongress eingebracht, das für Firmen mit mehr als 100 Beschäftigten einen gesetzlichen Urlaub von einer Woche auf 12 Monate vorsah. Das Gesetz wurde an den zuständigen Ausschuss überwiesen. Die durchschnittliche Arbeitszeit der US-Amerikaner liegt trotz der vielen Teilzeitarbeit heute bei 1800 Stunden pro Jahr. Das liegt über dem OECD-Durchschnitt und weit über dem deutschen Niveau, das bei 1400 Arbeitsstunden pro Jahr liegt.

Sicher, viele Beschäftigte brauchen – angesichts des niedrigen Lohnniveaus – auch die vielen Stunden, um über die Runde zu kommen. Doch einer der Gründe für die hohen Kosten des US-Gesundheitswesens könnte auch hier zu finden sein. Stress ist selten gesund. Ein wenig Hoffnung besteht allerdings. Anders als andere Demokraten konnte Alan Grayson seinen Wahlkreis in Florida im November verteidigen.

Anmerkungen:

[1] Jonathan Weismandec, Uncertainty in Washington Poses Long List of Economic Perils, in: New York Times vom 3.12.2014.

[2] Monthly Budget Review, US-Kongress, November 2014, https://www.cbo.gov/publication/49806

[3] Center for Medicare und Medicaid Services, http://www.cms.gov/ Research-Statistics-Data-and-Systems/Statistics-Trends-and-Reports/NationalHealthExpendData/index.html

[4] planwirtschaft.wordpress.com/2013/10/18/ besen-besen-seis-gewesen/

[5] Bureau of Labor Statistics, http://data.bls.gov/timeseries/ LNS12300000

[6] Jana Kasperkivic, Faces of part-time workers: food stamps and multiple low-paid jobs, http://www.theguardian.com/money/2014/nov/ 28/faces-us-recovery-low-paid-part-time-jobs

[7] Patricia Cohendec. Regular Bills, Irregular Work. Unsteady Incomes Keep Millions Behind on Bills, in: New York Times vom 4.12.2014.

[8] Report on the Economic Well-Being of US-Households in 2013, Washington, Juli 2014, http://www.federalreserve.gov/econresdata/2013-report-economic-well-being-us-households-201407.pdf

[9] Steven Greenhouse, Study Finds Violations of Wage Law in New York and California, in: New York Times vom 4.12.2014

[10] Shadee Ashtari: Another GOP Governor Flips For Medicaid Expansion, http://www.huffingtonpost.com/2014/12/03/matt-mead-wyoming-medicaid-expansion_ n_6262138.html

[11] http://www.glassdoor.com/press/glassdoor-survey-reveals-average-american-employee-takes-earned-vacationpaid-time-61-report-working-vacation

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