Der Paragraf 218 steht seit 1871 im Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich. Wirft man einen Blick in die Geschichte, so wird deutlich, wie wenig es bei dem „Abtreibungsparagrafen“ um „Lebensschutz“ und Menschenwürde geht. Es geht um die Kontrolle weiblicher Reproduktionsfähigkeit und um die Durchsetzung von Macht- und Herrschaftsansprüchen. Für einen Schwangerschaftsabbruch sah das Gesetz eine Zuchthausstrafe von bis zu fünf Jahren vor. Eine dem heutigen Paragrafen 219a StGB vergleichbares Werbe- oder Informationsverbot existierte damals nicht. Mit dem Slogan „Dein Bauch gehört Dir“ stritten Frauen bereits seit der Jahrhundertwende gegen den „Unrechtsparagrafen“ und für die Freigabe des Abbruchs. Sie wussten, dass restriktive Gesetze Schwangerschaftsabbrüche nicht verhindern, sondern nur erschweren und zum Klassenproblem machen. Vermögende ungewollt Schwangere fanden immer einen Arzt, der den Abbruch medizinisch sicher vornahm, w ährend arme Frauen gezwungen sind, illegal und unter prekären Umständen abzutreiben.
Der 1905 gegründete Bund für Mutterschutz und Sexualreform verlangte den freien Zugang zu Verhütungsmitteln, frühzeitige sexuelle Aufklärung und die Streichung des Paragrafen 218 aus dem Strafgesetzbuch, während der 1894 gegründete Bund Deutscher Frauenvereine unter Einfluss der kirchlichen Frauenvereine heftig über den Abtreibungsparagrafen stritt. Dennoch brachte der Bund 1909 eine Petition für eine Reform des Paragrafen 218 in den Reichstag ein, in der er Straffreiheit und eine Fristenlösung vorschlug – ohne Erfolg. Schon damals wurde der Geburtenrückgang beklagt. Der Kaiser brauchte Soldaten und die Fabrikherren ArbeiterInnen. Zu allen Zeiten waren Sexualpolitik, Familienpolitik, Bevölkerungspolitik und Militärpolitik eng verbunden. Zu allen Zeiten beriefen sich die AbtreibungsgegnerInnen auf den christlichen ‚Gott im Himmel‘, der allein über Geburt und Tod entscheiden könne. Unterstützt wurden sie durch Papst Pius IX, der verkündete, die „Beseelung“ des Fötus trete schon mit der Zeugung ein.
Obwohl mit der Gründung der Weimarer Republik 1919 Frauen im Reichstag saßen und trotz der massenhaften Proteste, die sich gegen den Klassenparagrafen richteten, konnten KPD, USPD und MSPD 1920 mit Gesetzentwürfen weder zur Streichung noch zur Liberalisierung des Paragrafen 218 eine Mehrheit erzielen. Die AbtreibungsgegnerInnen in den konservativen Parteien waren mächtiger; und die SozialistInnen waren sich nicht einig. Die politischen Lager der Konservativen befürchteten eine Verrohung der Sitten und die Nationalisten das Aussterben des eigenen Volkes.
Papst Pius, nun der XI., arbeitete den Nazis in die Hände, indem er im Dezember 1930 mit einer Enzyklika Abtreibung zu einer schweren Sünde erklärte. Die Nazi-Faschisten verboten und erzwangen die Abtreibung. Abtreibung, die die Fortpflanzung von nach ihrer Ansicht ‘minderwertigen Volksgruppen‘ verhinderte, blieb straflos oder wurde erzwungen. Für den Fall, dass ‚die Lebenskraft des deutschen Volkes‘ beeinträchtigt wurde, stand die Abtreibung ab 1943 unter Todesstrafe. Es ging nun um eine ‚rassenbiologische‘ staatlich geregelte Geburtenkontrolle, an der konservative ÄrztInnen eifrig mitwirkten. 1933 wurden die Paragrafen 219 und 220 ins Strafgesetzbuch aufgenommen, die Werbung für Abtreibungsmittel und für Hilfe beim Abbruch verbieten; daraus wurde der heutige Paragraf 219a. Er blieb nach dem Zweiten Weltkrieg bestehen. Immer wieder und auch nach seiner kürzlich erfolgten Reformierung wurden informationsbereite Ärztinnen verurteilt.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs regelten die BRD und die DDR Schwangerschaftsabbrüche unterschiedlich. In der BRD galt Paragraf 218 in der Fassung der 1920-er Jahre. In der DDR wurde 1972 gegen die Stimmen der dortigen CDU und gegen den Protest der Kirchen die Fristenlösung eingeführt, nach der ein Schwangerschaftsabbruch innerhalb von drei Monaten ohne Zwangsberatung möglich war.
Auch der Ruf der sich in der BRD nach 1968 formierenden Neuen Frauenbewegung „Mein Bauch gehört mir!“ und die Selbstbezichtigungskampagne: „Wir haben abgetrieben“, wurden von scharfen Protesten durch VertreterInnen der christlichen Kirchen begleitet. Die im Juni 1974 beschlossene Fristenlösung trat nie in Kraft, weil die Unionsparteien das Bundesverfassungsgericht anriefen, das eine Grundgesetzverletzung bestätigte. So trat 1976 lediglich eine Neufassung des Paragrafen 218 in Kraft mit einer Fristenlösung und einer gesetzlich vorgeschriebenen Pflichtberatung.
Nach der Wiedervereinigung 1990 bestanden in Ost und West verschiedene Rechtslagen. Wieder demonstrierten Zehntausende von Menschen erfolglos: Eine Übernahme der DDR-Fristenlösung fand keine politische Mehrheit. Am 1. Oktober 1995 trat das heute noch geltende Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz in Kraft. Schwangerschaftsabbrüche regelt weiterhin das Strafgesetzbuch. Ein Schwangerschaftsabbruch ist nach Paragraf 218/219 „rechtswidrig aber straffrei“. Straffrei bleibt er, wenn die ungewollt Schwangere sich einer Pflichtberatung unterzieht und danach eine Bedenkzeit von drei Tagen einhält. Dass die Beratung „ergebnisoffen“ aber zum „Schutz des ungeborenen Lebens“ geführt werden soll, zeigt die Handschrift von selbsternannten „LebensschützerInnen“. Nachdem das Thema beinahe erledigt schien, wird infolge der Prozesse gegen Ärztinnen, die nach Paragraf 219a angezeigt wurden, weibliche Selbstbestimmung und die Streichung von Paragra f 218 wieder lautstark gefordert.
Wie sieht das in anderen Ländern aus?
In den Ländern der EU gibt es unterschiedliche Regelungen. Die meisten Länder haben eine Fristenregelung. Eine Zwangsberatung wie in Deutschland gibt es nirgends.
In Polen, einem Land mit ohnehin strengem Abtreibungsrecht, gilt künftig ein nahezu vollständiges Abtreibungsverbot. Die Verschärfung des Gesetzes trat trotz heftiger Proteste Ende Januar 2021 in Kraft. Abtreibungen sind nur noch legal, wenn die Gesundheit der Schwangeren in Gefahr oder die Schwangerschaft das Ergebnis einer Straftat ist. Bereits im Herbst vergangenen Jahres trieb der Beschluss des Obersten Gerichts von Polen, der die Abtreibung schwer fehlgebildeter Föten als „unvereinbar“ mit der polnischen Verfassung bezeichnete, Zehntausende Menschen auf die Straße. Die Proteste richteten sich auch gegen die katholische Kirche, die für den Richterspruch mitverantwortlich gemacht wird. Bischöfe hatten ein totales Abtreibungsverbot gefordert. Frauenrechtsorganisationen schätzen, dass pro Jahr etwa 200.000 Polinnen illegal abtreiben oder dafür ins Ausland gehen. Nun wird befürchtet, dass diese Zahl noch steigt.
Gute Nachrichten gibt es aus dem katholischen Argentinien. Dort hat die Mitte-Links-Regierung am 14. Januar 2021 ein Gesetz unterzeichnet, das Frauen bis zur 14. Schwangerschaftswoche einen Abbruch bei Übernahme der Arztkosten erlaubt. Argentinien ist damit das erste Land Lateinamerikas, das diesen Schritt vollzogen hat. Das Gesetz war zwar von Präsident Alberto Fernández eingebracht worden, wäre jedoch ohne den hartnäckigem Kampf der Frauen, die in der Öffentlichkeit in grüner Kleidung für die Legalisierung demonstrierten, weshalb sie auch als „grüne Flut“ bezeichnet wurden, nicht durchzusetzen gewesen. Es bedeutet für ungewollt schwangere Frauen nicht nur Schutz für Gesundheit und Leben, sondern schützt sie auch vor dem Gefängnis. Der aus Argentinien stammende Papst Franziskus hatte sich noch kurz vor der entscheidenden Abstimmung gegen das Gesetz ausgesprochen, in diesem Fall ohne Erfolg.
Die fortschrittlichste Regelung findet sich in Kanada. Dort gibt es seit 1988 überhaupt kein Abtreibungsgesetz. Dennoch gebe es dort nicht mehr Abtreibungen als in anderen Ländern, wie Strafrechtsprofessorin Julia Hughes 2015 auf einer Tagung in Wien berichtete. Die Zahl der Abtreibungen habe, trotz anwachsender Bevölkerung sogar abgenommen.
Zu seinem 150. Geburtstag sollte das Gesetz auch in der Bundesrepublik in seinen „wohlverdienten Ruhestand“ geschickt werden. Es hat schon viel zu viel Schaden angerichtet.
Gisela Notz war bis 2010 Bundesvorsitzende von profamilia und ist Mitbegründerin des Bündnisses für sexuelle Selbstbestimmung, sie lebt und arbeitet in Berlin.