Warum erst 1971?

50 Jahre Frauenstimmrecht und Wahlrecht in der Schweiz

Mit vielen Diskussionsveranstaltungen, Ausstellungen, Publikationen und viel Wohlwollen in den Medien wird dieses Jahr in der Schweiz der 50. Jahrestag seit der Einführung des Frauenstimm- und

Wahlrechts begangen. Am 7. Fe-bruar 1971 stimmten die Schweizer Männer der Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts mit einer Zweidrittelsmehrheit zu. Bis zu diesem Datum war es ein langer hartnäckiger Kampf von mehreren Frauengenerationen für ein Menschenrecht, das bereits während der Französischen Revolution proklamiert wurde, unter anderem von Olympe de Gouges. Jedoch wurde mit der Einführung des „code civil“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts, der überall in Europa als „Meisterleistung liberaler Gesetzgebung“ gepriesen wurde, die Unmündigkeit der Frauen zementiert. Umso mehr gilt es, der vielen Generationen unermüdlicher Frauenrechtskämpferinnen respektvoll zu gedenken.

Warum so spät?

Eine Frage, mit der Schweizerinnen ausserhalb der Landesgrenzen immer wieder konfrontiert wurden und werden, lautet: Warum hat das bei euch so lange gedauert? Nun lässt sich dies nicht mit ein paar Worten beantworten. Dazu gebe es verschiedene Theorien, wie die Historikerin Brigitte Studer erklärt. Die eine kommt zum Schluss, dass kriegsgeschädigte Länder ihre Politik mit dem Frauenstimmrecht stabilisieren wollten. Sie definierten ihren Souverän nach dem Krieg neu, was in Deutschland und Österreich nach dem Ersten, und in Frankreich und Italien nach dem Zweiten Weltkrieg umgesetzt wurde. Da die Schweiz vom Krieg verschont blieb, bestand dafür politisch keine Notwendigkeit.

Es war vielmehr das System der direkten Demokratie – im Land der „Urdemokratie“ –, das ein Problem darstellte. Die Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts verlangte eine Verfassungsänderung, die nur mit einer Volksabstimmung erreicht werden konnte. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts forderten Arbeiterinnenvereine, Frauenstimmrechtsgruppen und die sozialistische Bewegung die Einführung des Frauenstimmrechts. Das „Oltener Aktionskomitee“, welches den Generalstreik von 1918 organisierte, nahm das Frauenstimmrecht an zweiter Stelle im Katalog von neun Forderungen auf, neben Forderungen wie Einführung der 48-Stunden-Woche, Sicherung der Lebensmittelversorgung oder einer Alters- und Invalidenversicherung. Von all diesen Forderungen wurde das Frauenstimmrecht zuletzt, mehr als 50 Jahre später, eingeführt.

Bei den Freisinnigen1 und den Liberalen waren es nur Einzelpersonen, die das Frauenstimmrecht befürworteten. Zudem standen viele Frauenstimmrechtskämpferinnen tendenziell dem Freisinn nahe, deren Männer nicht mitzogen. Dieser Umstand verlangte von den Frauenrechtlerinnen die Face-to-Face-Konfrontation mit dem rein männlichen Souverän. Es galt, gegen Brüder, Väter, Ehemänner, Söhne anzutreten, was für vertrauensvolle familiäre Beziehung kaum förderlich war. Den freisinnigen und liberalen Männern war mehr daran gelegen, die bürgerliche Allianz nicht gefährden zu wolle, die sich mit den Katholisch-Konservativen, der späteren Christlichdemokratischen Volkspartei und der Bauern, Gewerbe und Bürgerpartei, der späteren Schweizerischen Volkspartei zusammensetzte, beides vehemente Gegnerinnen des Frauenstimmrechts.

Eigenständige Frauengeschichte dank Frauenstimmrechtskampf

Der Kampf für das Frauenstimm- und Wahlrecht in der Schweiz war zweifelsohne lang. Viele Generationen von Frauen haben dafür unermüdlich und beharrlich gekämpft und gearbeitet, was ihnen kaum Lob und Ehre einbrachte. Im Gegenteil, sie mussten Ablehnung, Verachtung und Spott erfahren und waren vielen Anfeindungen ausgesetzt. Dennoch trug dieser lange Kampf mit allen Widerwärtigkeiten dazu bei, eine eigene Geschichte zu schreiben. Dabei konnte nicht einfach auf Vorbilder im Ausland zurückgegriffen werden. Über Generationen hinweg mussten eigene Strategien entwickelt werden, die geprägt waren von Energie Kampfeslust, Mut wie auch von List und Ironie.

Nach dem Ersten Weltkrieg und kurz nach dem Generalstreik gab es immerhin von Hermann Greulich, dem Gründervater der Schweizerischen Sozialdemokratie (SP), und vom Freisinnigen Emil Göttisheim je eine Motion (parlamentarischer Vorstoss) zur Einführung des Frauenstimmrechts. Die Politik hätte darauf eine Abstimmungsvorlage ausarbeiten können. Es war aber offensichtlich der Bundesrat, der dieses Frauenstimmrecht nicht wollte und 40 Jahre inaktiv blieb.

In den darauffolgenden Jahren waren es von Seiten Politik vor allem die SP und die kommunistische Partei, welche sich, trotz nicht geringem internen Widerstands, für die Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts einsetzten. In den Kantonsparlamenten wurden regelmässig Vorlagen eingereicht, und Abstimmungen durchgeführt, die aber keine Mehrheiten erreichten. Zudem formierten sich nach dem Ersten Weltkrieg Frauengruppen, die gegen das Frauenstimmrecht auftraten, was nicht unterschätzt werden darf.

Es ist verständlich, dass nach all den Misserfolgen in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Frauenstimmrechtsvereine in eine Krise verfielen. Dennoch bildeten sich immer wieder punktuelle Allianzen zwischen linken und bürgerlichen Frauenorganisationen. Dank der organisatorischen Erfahrung von Sozialistinnen, Sozialdemokratinnen und Gewerkschafterinnen konnte 1929 eine Petition zur Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts lanciert werden. Innerhalb von drei Monaten kamen nahezu eine Viertelmillion Unterschriften zusammen, davon rund 175.000 von Frauen. Ein Meilenstein in dieser Geschichte.

Im Februar 1957 präsentierte der Bundesrat auf Druck der Frauen die seit Jahrzehnten mehrfach geforderte Vorlage für die Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts. Er sah sich zu diesem Schritt gedrängt wegen der Zivilschutzvorlage, die auch die Frauen betraf, zumal sie in den Zivildienst einbezogen werden sollten. Die Zivilschutzanlage scheiterte zwei Jahre später an der Urne. Ebenso scheiterte die erste eidgenössische Abstimmung über das Frauenstimmrecht 1959 gegen einer Zweidrittelmehrheit. In Basel empörten sich die Lehrerinnen des Mädchengymnasiums dermassen, so dass sie am Dienstag nach dem Abstimmungssonntag in den Streik traten. Dieser Streik radikalisierte einen Teil der Frauenstimmrechtsbewegung.

„Keine Menschenrechte ohne Frauenrechte“

Ein weiterer Meilenstein in diesem Kampf um das Frauenstimmrecht war der „Marsch auf Bern“ am 1. März 1969. Dieser wurde von Frauenorganisationen durchgeführt. Er brachte 5000 Frauen aber auch Männer auf die Straße. Auf dem Bundesplatz pfiff Emilie Lieberherr als Präsidentin des Aktionskomitees mit den Teilnehmenden im wahrsten Sinn des Wortes auf den Bundesrat und auf die Männer. Solche Aktionen waren damals unüblich und beeindruckten. Dies brachte der Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts neuen Auftrieb. Und siehe da, Frauen wurden plötzlich als ernst zu nehmende politische Kraft wahrgenommen. Dem verlieh nicht zuletzt die Rede von Emilie Lieberherr Nachdruck: „Wir Schweizerinnen hier auf dem Bundesplatz fordern das volle Stimm- und Wahlrecht auf eidgenössischer und kantonaler Ebene. Die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten des Europarates darf erst dann unterzeichnet werden, wenn dieser Vorbehalt nicht mehr nöt ig ist.“ Der Nachsatz dieser Rede bezog sich auf die Unterzeichnung der europäischen Menschenrechtskonvention durch die offizielle Schweiz 1969. Da die Frauen in der Schweiz das Stimmrecht noch nicht hatten, gab es Bestrebungen, die Menschenrechtskonvention nur mit einem Vorbehalt zu ratifizieren. Unisono erklärten unzählige engagierte Frauen „Keine Menschenrechte ohne Frauenrechte“.

Schließlich stimmten die Schweizer Männer am 7. Februar 1971 der Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts mit grosser Mehrheit zu. Danach mussten Kantone und Gemeinden nachziehen, wobei es bei einzelnen Kantonen noch länger dauerte.

Therese Wüthrich ist Gewerkschafterin, journalistisch und publizistisch tätig, und arbeitet in verschiedenen frauen- und sozialpolitischen Projekten. Sie lebt in Bern.