Zwischen Selbstverwirklichung und Armut

„Alleinstehende“ Frauen: Legendenbildung und Situation
Gisela Notz. Lunapark21 – Heft 24

Der Begriff „alleinstehende Frauen“ bezeichnet Frauen, die ohne einen Mann und ohne minderjährige Kinder in der Wohnung leben. In der Statistik ist „alleinstehend“ ein Begriff für Ein-Personen-Haushalte. Frauen werden oft bedauert, weil sie nicht den „richtigen“ Partner gefunden haben, weil sie gewissermaßen auf einem Bein stehen. Einsamkeit im Alter ist angeblich vorprogrammiert und es geht die Mär, dass insbesondere an Weihnachten, dem „Fest der Liebe“, diese Spezies Mensch in einem Tal der Tränen versinkt.

Das ist natürlich Unsinn. In unserer Gesellschaft gibt es DIE „alleinstehenden“ Frauen ebenso wenig als Kollektivsubjekt, wie es DIE Frauen, DIE Männer oder DIE Familien gibt. Zu unterschiedlich sind die Lebensweisen und die Unterschiede nach sozialer und ethnischer Herkunft. Die Unabhängigkeit haben sich Frauen oft selbst ausgesucht oder sie haben ihren Partner oder ihre Partnerin auf welche Weise auch immer verloren. Viele Ehen sind zerbrochen oder Frauen haben sich gegen eine unbefriedigende Beziehung entschieden. Einer empirischen Untersuchung zufolge betrachten mehr als die Hälfte der befragten Alleinlebenden ihre Situation als eine eigenständige Lebensform. Die meisten können sich auf ein freundschaftliches Netzwerk verlassen. Die überwiegende Mehrheit ist in der Lage, mit Konflikten und Krisen klar zu kommen. Die meisten berichten über ein positives Lebensgefühl.[1] Zunehmend sind es Frauen, die ihre traditionelle Rolle als fügsame Ehefrau und Mutter verweigern und lieber allein leben.

Nach einem Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 26.8.2012 können Frauen besser alleine leben als Männer: Die Zeitung zitiert Richard Scase, Soziologieprofessor an der Universität Kent, der in einem Report, den er für die britische Regierung anfertigte, erklärte: „Single-Frauen zwischen 30 und 50 haben gut ausgebildete soziale Netzwerke und sind in eine große Bandbreite von Aktivitäten eingebunden. Alleinstehende Männer hingegen erscheinen als traurige, isolierte, einsame Gestalten. Die harte Wahrheit ist, dass das Alleinleben gut für Frauen ist, aber schlecht für Männer.“ Nun, das ist ebenso ein Klischee wie das von der depressiven „alleinstehenden“ Frau. Aber einiges deutet allerdings darauf hin, dass Frauen besser für das Alleinleben gerüstet sind.

„Alleinstehende“ Frauen hat es immer gegeben
„Alleinstehende“ Frauen sind keine neue Erscheinung. Vielmehr hat es sie immer und in beträchtlichem Ausmaß gegeben. Im Mittelalter gingen sie ins Kloster oder wohnten in Beginenhöfen, wenn sie nicht heiraten wollten. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es über sieben Millionen Frauen mit und ohne Kinder, die alleine lebten und wirtschafteten. Das durch die Adenauer-Regierung im Westen propagierte Modell der „Normalfamilie“ verhinderte die Herausbildung einer neuen Lebensform. Nach wie vor waren Erwerbsarbeit und Wohnungsbau am Modell der Kernfamilie orientiert, auch wenn es damals schon Frauenwohngemeinschaften gab und das Alleinernährermodell nicht (mehr) stimmte.

Unabhängige Frauen könnte man sie auch nennen. Immerhin leben laut Statistischem Bundesamt (2010) insgesamt 43 Prozent der erwachsenen Bevölkerung als Alleinstehende; laut Mikrozensus (2005) sind es 8,65 Millionen Frauen, was 26 Prozent aller deutschen Frauen entspricht; bei den Männern liegt der Anteil bei 18 Prozent. In den USA leben bereits mehr als 50 Prozent aller Frauen allein. Einen Hintergrund für diese Entwicklung bildet die Tatsache, dass Frauen zunehmend an Schulen und Universitäten erfolgreich sind, sie verdienen stetig besser und werden finanziell unabhängiger.

Auch die unabhängige Frau ist kein eindeutig zu definierendes Wesen. Sie ist alt, im mittleren Lebensalter oder jung, hat Kinder, die außerhalb ihrer Wohnung leben oder keine, ist von unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe und spricht unterschiedliche Dialekte und Sprachen. Sie liebt Frauen oder Männer oder beide. Sie ist in Deutschland geboren oder als Kind oder Erwachsene zu uns gekommen, oft weil wir zu einer Zeit des Arbeitskräftemangels nach ihr, ihrem Vater oder ihrem (ehemaligen) Partner gerufen haben. Als „alleinstehend“ werden Frauen auch dann noch bezeichnet, wenn sie in Hausgemeinschaften, Wohngemeinschaften, Kommunen oder Wagenburgen ohne „feste“ Beziehung leben. Wobei zu fragen wäre, was eine „feste“ Beziehung ist. Unabhängige Frauen können zu den gutverdienenden Top-Frauen gehören, aber es gibt auch solche, die sich von Hartz-IV ernähren müssen, dazwischen gibt es eine bunte Palette von Frauen mit unterschiedlichen Ein- und Auskommen. Für die Hartz-IV-Empfängerin oder die Rentnerin mit der Mini-Rente ist die Unabhängigkeit fragwürdig, wenn sie von anderen Personen unabhängig lebt, denn Hartz-IV, fälschlich Grundsicherung genannt, ist einfach „zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben“, wie der Volksmund sagt.

Unabhängig ist nicht gleichbedeutend mit ungebunden oder bindungslos, sondern verbunden mit Werten wie der selbständigen Entscheidung von Frauen über ihre Lebensform, mit der Möglichkeit, mit der eigenen Hände und/oder des eigenen Kopfes Arbeit die eigene Existenz zu sichern oder aus eben dieser Arbeit eine ausreichende Rente zu bekommen und damit nicht angewiesen zu sein auf die Alimentation durch wen auch immer. Aber auch das gelingt angesichts von Erwerbslosigkeit, prekärer Arbeit, Armut und Ausgrenzung von „Fremden“ und „Anderen“ vielen Frauen nicht.

Viele unabhängige Frauen sind arm
In Deutschland liegt die Armutsgrenze bei einem Jahreseinkommen von 11278 Euro, also bei knapp 940 Euro im Monat. Nach den Zahlen des Statistischen Bundesamts von Oktober 2012 steigt die Armut langsam aber stetig. Schon jetzt gilt jede/r Sechste als armutsgefährdet, insgesamt fast 13 Millionen Menschen. Frauen sind der Statistik zufolge mit 16,8 Prozent häufiger von Armut betroffen als Männer (14,9 Prozent). Besonders betroffen sind Alleinerziehende und deren Kinder.[2] Alleinlebende Frauen unter 65 Jahren waren zu 36,1 Prozent armutsgefährdet. In Haushalten von zwei Erwachsenen unter 65 Jahren traf dies auf „nur“ 11,3 Prozent zu. Das resultiert unter anderem daraus, dass ein erheblicher Prozentsatz der allein stehenden Frauen erwerbslos ist und überproportional viele alleinstehende Frauen sich mit Mini-Jobs und anderer nicht existenzsichernder Arbeit durchschlagen müssen.[3] Immerhin waren 2012 16 Prozent der Frauen, die ausschließlich vom Mini-Job lebten, alleine lebende Frauen und 33 Proznt der Gesamtheit dieser Mini-Jobberinnen sagten, dass sie keinerlei Familienverpflichtungen hätten. Es ist also nicht das vielzitierte „Vereinbarkeitsproblem“, das Frauen arm macht.

Frauenarmut wird nach dem 4. Armutsbericht der Bundesregierung einseitig zurückgeführt auf die fehlende Erwerbstätigkeit von Müttern sowie auf eine unausgewogene Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit innerhalb von Paarbeziehungen. Was der Bericht auslässt: Auch kinderlose Frauen mit durchgängiger Erwerbsbiografie und unabhängige Frauen verfügen über weniger Einkommen als Männer. Das überdurchschnittliche Armutsrisiko bei Alleinlebenden und Alleinerziehenden resultiert häufig aus der in der vormals gelebten Partnerschaft noch gemeinsam getragenen Arbeitsteilung. Eine Individualisierung und Privatisierung der Ursachen von Erwerbslosigkeit, Unterbeschäftigung und Niedriglöhnen, wie es der Bericht nahe legt, wenn er von Armut als Ergebnis „individueller Lebensentwürfe“ spricht, ist vor diesem Hintergrund unangemessen. Wenn die Erwerbsverläufe der „Frauen im (jetzt) mittleren Lebensalter“ sich weiter entwickeln wie bislang, werden von den Frauen, die Anfang der 1960er Jahre geboren sind, im Westen 41 Prozent und im Osten 21 Prozent eine Rente unter der „Grundsicherung“ auf Hartz-IV-Niveau zu erwarten haben. Das geht aus der Studie „Die Lebens- und Erwerbsverläufe von Frauen im mittleren Alter“ vom Januar 2012 hervor.

Bei Fortschreibung der gegenwärtigen Politik und Entwicklung werden im Jahr 2023 10 Prozent der Rentnerinnen und Rentner auf Grundsicherung angewiesen sein. Besonders betroffen sind alleinlebende und geschiedene ältere Frauen im westlichen Teil der Bundesrepublik. Die Niedrigentlohnten von heute sind demnach die armen Alten von morgen, die weitaus meisten sind Frauen. Die Tageszeitung (taz) schrieb am 14. Januar 2012 unter der Überschrift „das teure lange Leben“, dass wer ein höheres Einkommen erhält, länger lebt. Die Kleinrentnerin stirbt früher. Das führt zu neuen Kluften zwischen verschiedenen Gruppen von Ruheständlerinnen.[4]

Die seit Beginn der Industrialisierung andauernde Niedrigbewertung der Frauenarbeit hat sich bis heute kaum verändert, nach der Wiedervereinigung hat sie sich sogar verschlechtert. Analysen zeigen, dass Frauen selbst dann weniger als Männer verdienen, wenn sie die gleichen Arbeitszeiten und beruflichen Positionen haben und in den gleichen Sektoren beschäftigt sind, das gilt auch für unabhängige Frauen. Auch sie sind in einen Arbeitsmarkt integriert, der Frauen vornehmlich als „Zuverdienerinnen“ betrachtet; selbst dann, wenn sie niemals Ehefrau waren oder werden wollen.

Sind die Singles schuld?
Berlin wird als die „Hauptstadt der Singles“ bezeichnet. Jeder und jede zweite sei single. Es sind hier etwa gleich viele Frauen wie Männer. Sie werden für den Wohnungsmangel, den Anstieg der Mieten und der Kaufpreise verantwortlich gemacht. Ist der/die Single wirklich schuld? Oder ist es individuelle Raffsucht, Profitgier und die verfehlte Wohnungsplanung? In Berlin sind in den letzten Jahren die Mieten flächendeckend gestiegen und das ist nicht allein der Marktdynamik geschuldet, sondern muss, so der Stadtsoziologe Andrey Holm, „als sichtbare Oberfläche einer umfassenden wohnungspolitischen Destruktion verstanden werden, denn die Entfaltung marktwirtschaftlicher Mechanismen ist immer nur so stark, wie es die politisch-administrativen Eingriffe zulassen.“

Konsequenzen und Ausblick
Vom Ziel des „Frauenrechts als Menschenrecht, als Recht der Persönlichkeit, losgelöst von jedem sozialen Besitztitel“, wie es Clara Zetkin 1911 weltweit forderte, sind wir noch weit entfernt. Auch für alleinlebende erwerbslose Frauen ist es eine allererste Notwendigkeit, das Arbeitslosengeld II und das Sozialgeld auf einen Betrag, von dem sie leben kann, aufzustocken. Und die Einrichtung eines Mindestlohns und einer Mindestrente, von der Frauen mit Berufsunterbrechungen ebenfalls leben können. In einigen anderen europäischen Ländern ist das selbstverständlich. Dringend notwendig wird, dass alle Lebensformen gleiches Recht und gleiche Existenzbedingungen genießen. Sozialversicherungs- und Entlohnungssysteme müssen auf Eigenständigkeit von Frauen und Männern und nicht auf bestimmte Lebensformen ausgerichtet sein. (Auch) Frauen sind nicht nur Opfer der Verhältnisse, sondern handelnde Subjekte.
Berlin war wie kaum eine andere Stadt Schauplatz von politischen Auseinandersetzungen und Mobilisierungen, nicht erst in jüngster Zeit. Proteste gegen städtebauliche Veränderungen, gegen Großprojekte und Gentrifizierung und für eine soziale Wohnungspolitik gehören zum Alltag. Unabhängige Frauen spielten dabei immer eine große Rolle. Aktuelle Beispiele sind die seit Mai 2012 begonnenen Bewegungen von Mieterinnen und Mietern: „Wir bleiben, bis die Mieten runtergehen“, sagen Einheimische und Migrantinnen und Migranten am Kottbusser Tor. Sie sind sichtbare Zeichen, dass es sich Menschen nicht einfach gefallen lassen, aus ihren Wohngebieten verdrängt zu werden, um Finanzstärkeren Platz zu machen. Die meisten haben türkischen Hintergrund, viele Frauen sind dabei.
Positives Beispiel sind auch die Rentnerinnen, die ihren Seniorentreff in der Stillen Straße 10 in Berlin-Pankow besetzt haben, nachdem der Bezirk angekündigt hatte, das Haus wegen leerer Kassen verkaufen zu müssen. Sie wollten sich das nicht gefallen lassen. „Dieses Haus ist besetzt“, schrieben sie auf ein großes Transparent, zogen in die Villa ein und machten so weltweit auf sich aufmerksam. „Unsere Standhaftigkeit und Ihre Solidarität haben sich gelohnt. Wer sagt denn, dass man in der Welt nichts mehr ändern kann? Egal wie alt oder jung, wir sind für unsere Überzeugung eingestanden!“, schrieben die „unwürdigen Greisinnen“ an ihre Unterstützerinnen, nachdem die Bezirksverordnetenversammlung beschlossen hatte, dass die Verhandlungen für die Übernahme durch einen neuen Träger beginnen können. Ruhe werden sie auch in der Zukunft nicht geben.

Gisela Notz lebt und arbeitet freiberuflich in Berlin, ihre letzten Veröffentlichungen sind Der Wandkalender 2014, Wegbreiterinnen XII mit 12 Frauenporträts aus der Geschichte, der jährlich im AG-SPAK-Verlag Neu-Ulm erscheint und Freiwilligendienste für alle, 2012 im gleichen Verlag erschienen.

Anmerkungen:

[1] www.querelles-net.de/index.php/qn/article/ view/226/234

[2] Zu den Alleinerziehenden Frauen siehe den Artikel von Antje Asmus in LP21, Heft 21.

[3] Siehe hierzu den Artikel von Hannelore Buls in diesem Heft.

[4] Barbara Dribbusch: Das teure lange Leben, in: taz vom 14./15.1.2012, S. 9.

Mehr lesen:

Weibliche Altersarmut Ursachen, Realität und Gegenstrategien Hannelore Buls. Lunapark21 - Heft 24 Im Durchschnitt verfügen in Deutschland Frauen heute über 41 Prozent d...