„Die vielfältigen Wechselwirkungen u.a. chemischer Stoffe auf die menschliche Gesundheit werden ignoriert“.
Ein Interview mit Kathrin Otte vom Gemeinnützigen Netzwerk für Umweltkranke
Was war der Anlass, Grund und das Ereignis, das Dich zur Beschäftigung mit Reaktionen auf chemische Stoffe veranlasste?
Schon während meiner Kindheit nahm ich die Unlebendigkeit der Flora und Fauna in den Obstplantagen meines Vaters intuitiv wahr. Es war ein sogenannter Musterobstbaubetrieb, dessen spezielle Intensivanbaumethoden mit einer Unzahl an Herbizid-, Fungizid- und Insektizideinsätzen einhergingen. Ich suchte den Kontrast zu diesen Plantagen und wandte mich der Natur zu, wie sie von mir als echt wahrgenommen wurde: mit einer Vielfalt an Lebewesen. Erst viele Jahre später fielen mir bestimmte Beeinträchtigungen bei mir auf, wie schwere Erschöpfung bei leichten Fieberzuständen, bis zum Abitur zunehmende Beeinträchtigung kognitiver Prozesse wie z.B. rasche Ermüdung, Konzentrationsschwächen, Verringerung der Merkfähigkeit. Niemand in meiner Umgebung mochte diese Beeinträchtigungen wahrnehmen, geschweige denn diese mit toxischen Auslösern in Verbindung bringen.
Von dem Wunsch eines Medizin- bzw. Biologie-Studiums musste ich bereits vor dem Abitur v.a. aufgrund der verringerten Merkfähigkeit Abstand nehmen. Nach dem Abitur habe ich stattdessen eine Lehre zur Tischlergesellin absolviert, während der sich mein Gesundheitszustand allerdings massiv verschlechterte.
Die Vielfalt und Art der Symptome (auffällige Infektanfälligkeit, Erschöpfungssyndrom, massive Hauterkrankungen sowie eine beginnende Krebserkrankung) überzeugten mich Anfang der 80er Jahre davon, dass es sich hier um ein komplexes toxisches Geschehen handeln musste. Erst viele Jahre später lernte ich den international in der Umweltmedizin verwendeten Begriff der „Multisystemerkrankung“ durch Umweltschadstoffe kennen.
Dann begann die Tortur eines Ärzte-Hoppings, die über 19 Jahre anhielt, bis man mir in einer Spezialklink solche beachtlichen Mengen an Schwermetallen entfernte, dass ich mit fast 40 Jahren endlich ein halbwegs erträgliches Leben beginnen konnte.
Zur selben Zeit – um die Jahrtausendwende – wurde die einzige Multiple Chemikalien Sensitivität-Studie (MCS-Studie) des Umweltbundesamtes und des Robert-Koch-Instituts veröffentlicht. Diese Studie war offenbar mit der Hypothese angegangen worden, dass es sich bei einem chemikalienassoziierten Syndrom wie MCS um eine psychogene Erkrankung handelt. Und dies, obwohl im ICD-10-Katalog MCS klar unter physiologischen Krankheiten mit Analogien zu Allergien gelistet ist. Tatsächlich kam MCS beim Ranking der schlechtesten Lebensqualität bei chronischen Erkrankungen auf Platz 2 und somit noch vor Krebserkrankungen, nur noch getoppt von einer Dekompensation des Herzens. Es zeigte sich auch, dass MCS-Kranke keineswegs stärkere psychische bzw. psychiatrische Auffälligkeiten aufwiesen als andere chronisch Erkrankte. Diese Forschungsergebnisse erlauben hier eine psychogene Ursache auszuschließen und sich der systematischen Erforschung der physiologischen Zusammenhän ge zu widmen. Nichts dergleichen hat seitdem stattgefunden.
Wie hat sich daraus das Netzwerk als Selbsthilfeorganisation für umweltkranke Menschen entwickelt?
Bereits Mitte bzw. Ende der 90er Jahre bekam ich durch Selbsthilfegruppen Hinweise auf die von medizinischer „Mainstream“-Seite angeblich nicht erkennbaren physiologischen Zusammenhänge. Hingegen wurden internationale diagnostische und Therapie-Hinweise in unseren Kreisen bekannter – auch durch die niedergelassenen klinischen Umweltmediziner. Diese konnten zunehmend nur noch privat die spezielle Therapie abrechnen, weshalb arme Menschen keine medizinische Hilfe erhielten und erhalten, außer, die Betuchteren unter den Umweltkranken vermittelten ihre Erkenntnisse aus ihrer Behandlung in den Selbsthilfegruppen. In den letzten 30 Jahren gab es eine größere Zahl an Selbsthilfegruppen von und für Umweltkranke, die sich überwiegend lokal um die Abfederung der schlimmsten Probleme kümmerten. Bis zum Jahr 2000 gab es noch einige Kliniken als Anlaufpunkte, heute nur noch eine. Bis 2004 gab es noch eine anerkannte Arzt-Zusatzausbildung im Bereich der Klinischen Umw eltmedizin (was erst seit kurzem wieder möglich ist).
Die Aufbruchstimmung wurde durch verschiedene Entwicklungen um die Jahrtausendwende massiv zurückgedrängt. Es gab Kampagnen gegen die „Ökochonder“. Die zur Ausleitung von Schwermetallen unabdingbaren Chelat-Therapien wurden mit Fakenews als lebensgefährlich verteufelt. Die Kommission Umweltmedizin des Robert-Koch-Instituts war mit ihrer Initiative zur Abschaffung kassenfinanzierter Untersuchungsparameter recht erfolgreich. Hinzu kam, dass mit der neoliberalen Politik auch die zunehmende Marktorientierung des Gesundheitswesens die Hoffnung auf die Einführung der klinischen Umweltmedizin auf Kassenbasis stark schwinden ließ.
Wir wussten genau, was die Industrie unternommen hatte, um den Begriff „Chemikalien“ aus dem im ICD-Code eingetragenen Kürzel „MCS“ (Multiple Chemikalien Sensitivität) herausstreichen zu lassen. Stattdessen gab es die Industrievorlage zur Einführung der Bezeichung „IEI“ (Idiopathic Environmental Intolerance), womit jeglicher konkrete Schadstoffbezug fehlte. Dies ließ sich aufgrund des Widerstands von Umweltkranken zwar nicht komplett umsetzen, wurde aber begierig von der Arbeitsmedizin aufgenommen. Diese hatte sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend selbst diskreditiert, indem sie die Auswirkungen der ungezählten Chemikalien und ihre Auswirkungen am Arbeitsplatz standardmäßig bagatellisierte. Die geringe Anzahl von anerkannten Berufskrankheitsverfahren spricht eine deutliche Sprache. Staatliche Zuständigkeiten für Umweltkranke werden systematisch verweigert. Dies alles hat unter den Selbsthilfegruppen den Eindruck verstärkt, sich z usammenschließen zu müssen. Das war die Geburtsstunde von GENUK, dem Gemeinnützigen Netzwerk für Umweltkranke.
Mit diesem breit angelegten Netzwerk, das z.B. auch Krebskranken zur Verfügung steht, wollten wir auf die allgegenwärtigen Gefahren durch die unzähligen chemischen Substanzen aufmerksam machen. Für uns selbst versuchten wir händeringend endlich das zu erreichen, was in diesem Land jeder Person auch auf Grundlage der Menschenrechte zusteht: eine adäquate medizinische Behandlung. Da wir ohne jegliche gesellschaftliche Lobby erst eine Sensibilisierung auf die systematische Problematik hinter dem meist unerkannten Erscheinungsbild „Umweltkrankheiten“ leisten müssen, haben wir ab 2013 entschieden, uns in den neuen breiten Widerstand gegen Fracking und Glyphosat einzuklinken. Ziel dabei war beispielsweise beim Fracking, zunächst den tatsächlichen Gesundheitszustand der Menschen in den zentralen Gasfördergebieten aus konventionellen Förderstätten aufzudecken. Mit der wachsenden Zahl von Meldungen über Gesundheitsschäden durch Fracking in de n USA im Rücken wollten wir hier derartige Technologien, die nachhaltig Umwelt-, Grund- und Trinkwasser und die Gesundheit zerstören, verhindern. Tatsächlich ist uns die Aufdeckung signifikanter hämatologischer Krebsraten gelungen. Davon hat sich die Bundesregierung allerdings unbeeindruckt gezeigt: Das Sandstein-Fracking wurde erlaubt. Eine Berücksichtigung von Gesundheitsschutz wurde in das Fracking-Regelungspaket nicht aufgenommen.
Könnt ihr euch beim Begriff der Umweltkrankheiten auf althergebrachte Definitionen von Krankheit stützen und was musstet ihr an Widerstand überwinden?
Wenn mit althergebracht gemeint ist, „ein Erreger – eine Krankheit“, dann fallen wir aus einer solchen Definition heraus. Vielmehr haben wir es mit unzähligen chemischen bzw. physikalischen Auslösern zu tun, die durchaus organübergreifende Auswirkungen haben können. Multifaktorielles Geschehen, multiple Symptome und individuell variierende Krankheitsbilder überfordern eine Kausalitätsdefinition, die aus dem vorvergangenen Jahrhundert stammt, mit der jedoch heute noch in der vorherrschenden Medizin gearbeitet wird. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, insbesondere solche im Bereich Spitzenwissenschaft, wissen mit Chaos- und Komplexitätstheorie umzugehen. Diese wären am ehesten in der Lage zu verstehen, wie sich die Einwirkung von Schadstoffen über verschiedene Organsysteme und über komplexe biochemische, immunologische u.a. Ketten im Organismus fortsetzen. Ein Beispiel: In unseren Breitengraden halten wir uns bis zu 80 Prozent unserer Zeit i n Innenräumen auf, wo uns bis zu 300 Schadstoffe begegnen können wie Schimmel, imprägnierte Teppiche, Kunststoffbeschichtungen, Laminat, Pestizide, Teppichkleber, Formaldehyd u.v.m. Dass nicht jeder Mensch davon krank wird, hat u.a. mit der individuellen genetischen Ausstattung mit Entgiftungssystemen zu tun. Dass beispielsweise die Hälfte der Bevölkerung hierzulande Schwierigkeiten mit der Ausscheidung von Schwermetallen hat, die andere Hälfte aber nicht, steht zwar in universitären Lehrbüchern, findet aber in der Praxis keinerlei Berücksichtigung. Wer Hartz IV bezieht, bekommt die Standard-Amalgamplombe. Im Klartext: Er erhält ein Langzeit-Gift-Implantat.
Es sind noch extrem viele Widerstände zu überwinden, bis unsere Erkrankung eine bis in die sozialversicherungsrechtliche Regulierung hineinreichende Anerkennung erlangt. Hier gibt es eine Systematik des Widerstands. So agieren etwa Krankenkassen zunehmend wie Profitcenter; sie möchten keine weiteren Ausgaben mit neuer (umwelt-) medizinischer Diagnostik und Therapie finanzieren. Kassenärztliche Vereinigungen möchten bei den Verteilungskämpfen der fachärztlichen Sparten keine weiteren „Esser“ wie die klinische Umweltmedizin am Tisch haben. Vom neoliberalen Staat und dessen legitimierten Zuständigkeiten ausgelagerte Entscheidungsgremien wie der „Gemeinsame Bundesausschuss“, lassen eine Mitbestimmung von Patienten und Patientinnen nicht zu.
Entscheidungen über Sinn und Unsinn der Finanzierung medizinischer Parameter werden durch „Evidence based Medicine“ (EbM) – meist in jahrelangen großen Kohortenstudien – legitimiert. Aber eine von Industrie-Interessen dominierte und finanzierte Drittmittelforschung wird keinesfalls an Krankheitsbildern forschen, deren wirksamste Behandlungsmethode die Expositionskarenz ist, also darin besteht, dass man sich der schädigenden Wirkung des betreffenden Stoffes nicht mehr aussetzt. Damit ist nicht nur kein Markt zu machen. Der Nachweis einer Chemikalienassoziierung zieht vor allem nachhaltige rechtliche Konsequenzen für Produktion und Handel nach sich. Folglich ist unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen kaum mit einer Anerkennung zu rechnen.
Woran liegt es, dass in der Bundesrepublik die auftretenden Folgen und Erkrankungen durch Stoffe und Einflüsse aus der Umwelt nicht so berücksichtigt werden, wie es internationalen Standards entspricht?
Die Frage ist: Welche internationalen Standards sind gemeint? Sicher, es gibt arbeitsrechtliche Regelungen im Falle einer Arbeitsunfähigkeit durch Arbeitsunfälle. Aber bei chemikalien- oder strahlenassoziierten Berufskrankheiten wird es ungleich schwieriger, den Nachweis zu erbringen. Dies bis zur Auszahlung einer Berufsunfähigkeitsrente durchzukämpfen, ist schon ein riesiger Kraftaufwand, der nicht leicht zu gewinnen ist. 2017 ist dies nur in 6 Prozent der Verfahren gelungen. Weltweit gibt es rund 2,4 Millionen vorzeitige Todesfälle am Arbeitsplatz, die durch Chemikalien, Strahlen, Staub u.a. verursacht werden. Das entspricht 86 Prozent aller vorzeitigen Todesfälle am Arbeitsplatz.
Insofern gibt es eigentlich nur unzureichende Arbeitsschutzstandards, denn sie schützen die Arbeitskräfte nicht vor Berufskrankheit und Tod. In Deutschland unterhält die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) mit hoher Definitionsmacht ausgestattet ein derart intransparentes System, dass nur eine große gesellschaftliche Kraftanstrengung die Voraussetzungen für eine tiefgreifende Umwandlung in eine bedürfnisorientierte Struktur schaffen könnte.
Für die gänzlich ungeregelten Auswirkungen unzähliger Chemikalien und deren Wechselwirkung auf die Organismen gibt es erst gar keinen Standard. In vielen Ländern der Erde gibt es Human Impact Assessment, was auf Deutsch derzeit „Gesundheitsfolgenabschätzung“ heißt, aber bisher gänzlich bedeutungslos ist. Es gibt weder bemerkenswert entwickelte Umweltrechts-Standards noch gibt es Fortschritte bei dem ins Stocken geratenen europäischen REACh-Prozess zur „Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe“. Die Glyphosat-Farce und der weltweite Widerstand gegen dieses gesundheitsgefährdende Herbizid haben die Maske angeblicher staatlicher Regulierung und Wahrnehmung des Vorsorgeprinzips ein Stück weit heruntergerissen. Dahinter taten sich die über Jahrzehnte im rechtsfreien Raum gewachsenen Abgründe auf: dreiste Schwärzung bis geschickte Wissenschafts-Fälschung bei den Zulassungsverfahren, die Kooperation ni cht gerade interessenfreier Ausschussmitglieder bei der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (European Food Safety Authority – EFSA) und deutsches Durchwinken des Monsanto-Antrags durch das neoliberal gestrickte Bundesinstitut für Risikobewertung, Bruch der wissenschaftlichen OECD-Standards, Bedrohung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die Monsanto-Blacklist, auf der ihre Gegner verzeichnet sind.
Dies und mehr zeigt, dass kapitalkräftige Konzerne und Hedgefonds über staatliche Maßnahmen und somit über die Gesundheit bzw. Krankheit der Menschen bestimmen.
Als Hauptproblem der mörderischen Praxis mangelnder Chemikalien- und Strahlenkontrolle kann man mit Sicherheit ausmachen: Eine Produktionsweise, die wie selbstverständlich von einer „Internalisierung externer Effekte“ ausgeht, nämlich davon, dass die Kosten für Natur- und Gesundheitsausbeutung auf die Sozialversicherungs- und steuerfinanzierten Systeme umgelegt werden. Würde es in Deutschland eine Anerkennung der umweltassoziierten Erkrankungen geben, wäre die Bundespolitik gezwungen, Unternehmen massive Auflagen bei der Stoffauswahl, Produktion und Distribution aufzuerlegen. Folgt man marxistischen Denkern wie Paul Sweezy, dann hört bei der Frage der Freiheit zur kapitalistischen Akkumulation die Freiheit zur Einhaltung des Vorsorgeprinzips durch den Staat auf: „Lange bevor dieser Punkt [an dem die Existenz des Systems selbst bedroht ist] erreicht ist, mobilisieren die kapitalistische Klasse und der Staat, der von ihr kontrolliert wird, ihre Verteidi gungskräfte, um die als gefährlich extrem wahrgenommenen Umweltschutzmaßnahmen abzuwehren.“1
Nun ist aber bereits ins gesellschaftliche Bewusstsein durchgesickert, dass der systematische Raubbau an den endlichen Ressourcen und die unkontrollierte Stofffreisetzung zu einer Unbewohnbarkeit des Planeten führt.
Dazu hatte ich 2008 in einer Rede im Europa-Rat anlässlich einer Veranstaltung zu „Indoor Pollution“ (Schadstoffbelastung in Innenräumen) gesagt: „Parallel zur Klimakatastrophe, die unsere äußeren Lebensumstände gefährdet, vollzieht sich eine leise Implosion im Inneren lebender Organismen. Das nicht mehr zu bewältigende Einströmen von toxischen Stoffen auf Flora, Fauna und Mensch.“
Mit den „Planetary Bounderies“, also planetarischer Grenzen, zeigt die Wissenschaft seit ein paar Jahren ein für alle erkennbares Szenario der weltweiten Bedrohungslagen auf, deren Überschreiten die Überlebensfähigkeit von Menschheit, Flora und Fauna fraglich werden lässt. Vier dieser Grenzen, nämlich Klimakatastrophe, Integrität der Biosphäre, biochemischer Stofffluss und Änderung der Landnutzung wurden bereits 2015 überschritten.
Unter „novel entities“ – also den Dingen, die von Menschen geschaffen und in die Umwelt ausgebracht werden und die zerstörerische Auswirkungen auf die Natur haben können – wird auch die Gesundheitsgefährdung durch Umweltschadstoffe gelistet. Hier wird noch an einer Definition des Umschlags in Irreversibilität analog zu den anderen Gefährdungslagen gearbeitet. Unabhängig davon hat sich eine „Planetary Health“- Initiative gegründet, die den Gesundheitszustand der menschlichen Zivilisation und der sie umgebenden Umwelt behandelt. Das renommierte Medizinjournal The Lancet ist ebenfalls an diesem Projekt beteiligt und hat die konservative Rechnung aufgemacht, dass 9.000.000 Menschen allein in dem Jahr 2015 durch toxische Stoffe zu Tode gekommen sind.
All diese Kritiken am „Anthropozän“ – dem Zeitalters, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist – sind nur Hinweise auf ein sich entwickelndes zivilisationskritisches Bewusstsein, das aber nicht die kapitalistische Produktionsweise als solche als Verursacherin benennt. Es wäre sehr wünschenswert, wenn sich die Wissenschaft zur vordringlichen Aufgabe die Untersuchung machen würde, wie eine bestehende kapitalistische Wirtschaft in eine vergesellschaftete Kreislaufwirtschaft umgewandelt werden kann. Denn nur so können wir dieser Wirtschaftsweise, die unzertrennlich mit der Zerstörung der natürlichen Umwelt verbunden ist, eine Überlebensperspektive gegenüberstellen.
Welchen Abwehrmechanismen begegnet ihr bei den Einrichtungen, die eigentlich für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung zuständig sind? Bleibt nur die Selbsthilfe als Ausweg?
Wie beschrieben gibt es unserer Erfahrung nach keine einzige Institution im Gesundheitssystem, die sich der Sicherung der Gesundheit der Bevölkerung gegen Risiken und Gefahren durch Chemikalien und Strahlen verpflichtet sieht. Seit Zerschlagung des Bundesgesundheitsamts nach dem Blutkonservenskandal wurden dessen Aufgaben unter mehreren Instituten aufgeteilt.2 Wer aber nun beispielsweise von dem 2002 gegründeten Bundesinstitut für Risikobewertung erwartet, es müsse sich mit der Risikoabwehr zugunsten der Gesundheit der Bevölkerung beschäftigen, sieht sich getäuscht. Nach Aussagen ihres Chefs, Dr. Dr. Andreas Hensel, beschreiben gesetzlich festgelegte Grenzwerte möglicher Schadstoffe wörtlich „nicht die Grenze zwischen giftig und nicht giftig, […] denn Höchstgehalte oder Grenzwerte sind Handelsstandards, keine wissenschaftlich begründeten Interventionsgrenzen“.
Ob Selbsthilfe nun das Mittel der Wahl ist? Ich würde eher von der Organisierung von Bewusstwerdung und Selbst-ermächtigung sprechen, wenn ich mir organisierte Kampagnen gegen die Unterwerfung des Bereichs Gesundheit unter das Diktat der Profitmaximierung vorstelle. Nur, wenn wir unsere Natur als gesellschaftliches Wesen, als „zoon politicon“, wiederentdecken, wie auch unsere über Jahrtausende gewachsene kooperative Natur voll entfalten, können wir emanzipative Prozesse in Gang setzen. Erst auf diesem Weg können wir unsere Produktivität, die in diesem System weitgehend brachliegt, sinnvoll für eine Grundlagensicherung für alle Lebewesen einsetzen. Dann wird das „kapitalistische Anthropozän“ einer globalen Phase gesundender gesellschaftlicher Entwicklung weichen.
Kathrin Otte ist Vorsitzende des Gemeinnützigen Netzwerks für Umweltkranke, GENUK e.V.
vorstand@genuk-ev.de · www.genuk-ev.de. Die Fragen für Lunapark21 stellte Jürgen Bönig.
Anmerkungen:
1 Capitalism and the Environment, Paul M. Sweezy, Monthly Review, 1.10.2004.
2 Es gab 1993/94 einen Skandal um HIV-infizierte Blutprodukte mit hunderten Toten und zweitausend infizierten Blutern. Wikipedia: „Die Regierung Kohl löste es [Das Bundesgesundheitsamt] schließlich am 30. Juni 1994 nach fast 600 Toten infolge von Infektionen durch HIV-kontaminierte Blutprodukte“ HIV-verseuchter Blutpräparate auf.“