Migration

It is not Europe. It is not Persia.

Not Turkey. Rather Balkan.

Rather Italy. But distorted Italy.*

Es ist nicht Europa. Es ist nicht Persien.

Nicht Türkei. Eher Balkan. Eher Italien.

Aber ein entstelltes Italien.*

Emergency Room Lesbos

Essay einer Recherche zwischen Ägäis und Festung Europa

Die Innenminister der EU haben Ende September auf Malta vereinbart, dass im Mittelmeer geretteten Flüchtlinge ab 8. Oktober einen sicheren Hafen und Aufnahme in verschiedenen EU-Ländern finden sollen. Ein Ende der Abschottung also und eine neue Besinnung auf humantistische Werte? Zweifel sind angebracht, zumal viele Bestimmungen auf Freiwilligkeit beruhen. So erreichten Anfang September allein über 1400 Menschen in einer Woche die Küste von Lesbos, dem größten EU-„Hotspot“ in der Ägäis. Dort soll das Lager Moria jetzt mehr als 10.000 Menschen beherbergen, viermal so viel wie ursprünglich vorgesehen und damit nochmals erheblich mehr als in der folgenden Reportage beschrieben. Der EU-Türkei-Deal von 2016 steht stärker denn je in der Kritik. Er verlangt, dass die Menschen auf den Ägäis-Inseln bleiben. Die Flüchtlingslager dort haben sich zu überfüllten menschlichen Sackgassen entwickelt. Menschenrechts-Organisationen sprechen von € 4verheerenden Zuständen“, die dort vorherrschen. Die Regierung in Athen schlägt Alarm. Sie weist u.a. der Türkei die Schuld zu. Athen selbst erledigt nach Medien-Angaben Asylanträge nur schleppend – bei zur Zeit noch 67.000 Verfahren, die auf Halde liegen.

Unser Autor Martin Gerner hat auf der Insel vier Wochen lang recherchiert. Seine Beobachtungen vom Frühjahr sind von unveränderter Aktualität.

Bedrückend. Oft surreal ist die Wirklichkeit auf Lesbos. In rechtlicher wie politischer Hinsicht ist sie intolerabel, gemessen an den Werten und Worten, die wir und unsere gewählten Politiker angeblich hochhalten. Bedrückend, weil die sogenannten Hot Spots, Brennpunkte, gleichbedeutend sind mit einer offenbar intendierten Verschärfung räumlicher Not und Enge in den Flüchtlingslagern, der systematischen Verhinderung von Privatsphäre, administrativer Willkür im Umgang mit den Zugereisten und des Versagens wie der Verweigerung grundlegender Rechte für die hier untergebrachten Menschen.

Kinder vor Containern am Lager Moria, Lesbos/Foto: Martin Gerner

Für viele der über 8000 Flüchtlinge auf Lesbos bedeutet Lager-Alltag: einmal duschen in der Woche, stundenlanges Anstehen für die täglichen Mahlzeiten, die am Ende oft erkaltet sind; keine oder weitgehender Verzicht auf die Teilhabe an Bildung im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter; das Fehlen psycho-sozialer Versorgung; erschwerter Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, um nur einige der Probleme zu nennen.

Moria ist konzipiert für 2000 bis 3000 Menschen. Zur Zeit leben etwa zwei- bis dreimal so viele hier. UN- und EU-Embleme auf den Zelten können nicht darüber hinwegtäuschen: Moria, das sind Not-Behausungen, gleich ob im Lager oder außerhalb des Maschendrahtzauns. Mangel an Wasser, an erster Hilfe – so die Klagen von Menschen, mit denen ich spreche, auch wenn das offiziell abgestritten wird. Wo man hinhört, fehlt es an Übersetzern, an Langzeiterfahrenen bei Behörden und Helfern. Wer unter den Sozialarbeitern, Juristen, Behördenvertretern ist ausreichend vorbereitet, ausgebildet für die Extreme, die hier aufeinandertreffen? Fünfzehn Jahre Entwicklungsarbeit in Afghanistan, im Irak, in Nahost haben mich gelehrt, zu sehen und diese Fragen zu stellen.

Die meisten Flüchtlinge auf Lesbos sind zur Zeit Afghanen, geschätzt rund 75 Prozent aller Ankömmlinge auf der Insel, so ein griechischer Agentur-Journalist. 2015/16 waren es vor allem Syrer und Iraker. Ganze Familien warten im Freien. Die Bootsfahrt über das Meer steckt ihnen noch in den Gliedern.

Moria atmet auf an diesem Tag. Nach vier Tagen Dauerregen. Davor: täglich Wind, Gewitter, Kälte, nachts nahe am Gefrierpunkt. An diesem Tag hängen Wäscheleinen im Freien zum Trocknen der nass gewordenen Kleider. Die Kälte sitzt vielen noch in den Gliedern. Moria gleicht einem Hochsicherheitstrakt, einerseits. Wachtürme, das Hören-Sagen über strenge Polizei und Behörden, lassen vermuten, dass Menschen hier immer wieder grenzwertig behandelt werden, sich wie inhaftiert fühlen. Andererseits ist der Zaun, der das Lager umgibt, an vielen Stellen durchlöchert. Zwar wird kontrolliert, wer an den undichten Stellen ein und ausgeht, aber nicht alle bekommen alles mit. Innerhalb des Lagers gibt es noch einmal einen eigenen Komplex aus Drahtzaun und Wachtürmen. Gefängnisartig. Hier, so die Berichte von Lagerbewohnern, würden jene festgehalten, deren Asylanträge zweimal abgelehnt worden sind. Auch vermeintliche Unruhestifter aus dem Lager, die hier Str afen verbüßten. „Viele der Flüchtlinge hier haben mit immer tieferen Depressionen zu kämpfen, auch mit Selbstmordversuchen“, so Haji Nazari. Nazari ist ein Sprecher und Vertreter der Flüchtlinge im Lager Moria. Ich treffe ihn außerhalb des umzäunten Teils des Lagers, im sogenannten olive grove, dem von Olivenbäumen gesäumten Hang rund um das Lager. Hier leben notdürftig und zwischen den Bäumen weitere 1000 Menschen oder mehr, die innerhalb des Lagers keinen Platz finden.

Surreal ist Lesbos, weil sich Einheimische und Flüchtlinge oft gleichgültig begegnen. Erstere wollen, dass sie weiterreisen. Letztere wollen auch weiter, können aber nicht. Zugleich bleibt die Idee von der Integration ein Tabu-Wort auf Lesbos. Behörden wie Hilfsorganisationen meiden es wie der Teufel das Weihwasser. Denn es würde suggerieren, dass organisiertes Bleiben eine Perspektive auf der Insel ist. Das Gegenteil ist der Fall: Seit dem EU-Türkei-Deal vom Frühjahr 2016 sind Lesbos und die Hotspots in der Ägäis riesige menschliche Parkplätze geworden, für die meisten ohne Aussicht, in absehbarer Zeit weiterzukommen. Der Pakistaner, den ich als Ersten in Moria anspreche, „lebt“ seit über zweieinhalb Jahren im Lager Moria, erzählt er. Wie es weiter geht, weiß er nicht. Wo er Griechisch lernen, arbeiten, sich bilden kann? Kopfschütteln.

Längst ist auch unter den Einheimischen Ernüchterung eingekehrt: Denn auch die Inselbewohner von Lesbos fühlen sich verraten, verschaukelt. Sie vor allem sind es, die jetzt – neben den Flüchtlingen – die Last des EU-Türkei-Abkommens tragen. Das Abkommen hat Lesbos zu einem Flaschenhals gemacht, von dem aus es kein Weiterkommen gibt. Das griechische Festland, aber auch Deutschland, haben sich so vom größten Druck durch ankommende Migranten frei gemacht. Man lässt sie stattdessen auf den Ägäis-Inseln darben. Was sagt das Völkerrecht dazu? Wenige werden von hier abgeschoben zurück in die Türkei. Aber um auf das griechische Festland zu kommen, muss ein Mensch, eine Familie „besonders schutzwürdig“ (vulnerable), also gefährdet sein. Wer darunter fällt, ist oft schwer nachvollziehbar. Transparente Kriterien scheint es nicht zu geben. Die Kriterien, die es gibt, werden immer wieder neu ausgelegt, abgeändert – beklagen Juriste n und Anwälte, mit denen ich hier spreche, auch Parlamentarier-Delegationen, die die Insel besucht haben. So lernen die Flüchtlinge zurzeit das Warten. Sprachkurse auf Griechisch gibt es nur wenige. Informationen zirkulieren spärlich. So verkümmern Talente, Motivationen, Lebensenergien und Hoffnungen auf Seiten der Migranten.

Man muss sich immer wieder kneifen: Mehr als eine halbe Million Menschen sind seit dem Spätsommer 2015 auf Lesbos angekommen, einer Insel, die selbst nur rund 80.000 Einwohner zählt. Rund die Hälfte davon lebt in Mytilene. Moria liegt rund 10 km außerhalb der Stadt in den Bergen. Moria ist Notstandsgebiet spätestens seit 2015. Das schreiben nicht Medien herbei. Der Bürgermeister von Mytiline, Spyros Galinos, wird nicht müde, es zu sagen. Vor vielen Monaten bereits hat er Alarm geschlagen, eine schnelle, faire Verteilung der Flüchtlinge auf das griechische Festland sowie auf die übrigen EU-Länder gefordert. Passiert ist wenig seitdem, während neue Menschen unverändert auf der Insel ankommen. Im November [2018] haben wenige Hunderte Flüchtlinge Mytiline auf Fähren in Richtung Athen verlassen. Eine kurzfristige Entlastung für das überquellende Lager Moria, mehr nicht. Die Notlage in Moria hat das nicht grundlegend verändert.

Die Flüchtlinge landen jetzt nicht mehr wie 2015 an den nördlichen Stränden von Lesbos, dort wo der Weg über das Meer am kürzesten ist. Jetzt werden sie von Frontex- oder griechischen Patrouillen-Booten abgefangen, aufgenommen, an Land und auf kürzestem Weg ins Lager Moria gebracht, wo man ihre Daten aufnimmt. Zehn Kilometer außerhalb von Mytilene Stadt heißt: „out of sight, out of mind“, wie Kritiker sagen. Bewusste Abschreckung? Jedenfalls ist die Festung Europa hier spürbare Wirklichkeit. Nicht mit dem Schwert wird hier gegen ankommende Menschen gekämpft. Vielmehr mit der Spitzfindigkeit juristischer Worte, mit der Dehnbarkeit völkerrechtlicher Bestimmungen und zugleich mit der Ohnmacht desselben Völkerrechts, das wenig Anwälte in der Politik hat. Einer EU-Politik, die immer wieder neue Grenzen und Ordnungsfaktoren formuliert, und deren Mitgliedstaaten sich zunehmend national gebärden.

Die 15-minütige Fahrt von Moria in das Stadtzentrum von Mytilene reicht, um zu begreifen: Dem Anschein nach herrscht Normalität. Asiatische, afrikanische Gesichter gehören zum Stadtbild mittlerweile. Junge Ehepaare aus dem Kamerun, aus Afghanistan, die ihre Kinderwagen durch die Stadt schieben. Aber der Eindruck täuscht. Die wenigsten haben Übergangswohnungen bezogen. Von Arbeit ganz zu schweigen. Die Fahrt in die Stadt, der Einkauf, ein Spaziergang sind oft Flucht aus dem überfüllten Lager. Dort, in Moria, ist an diesem Tag ein Mann umgekommen, heißt es. Getötet im Streit zweier Männer gleicher Herkunft. Einzelheiten sickern nicht durch. Ist die Todesmeldung real? Gerücht oder Mutmaßung? Vieles bleibt unklar. Der Zugang zum Lager bleibt versperrt. Die Bewohner von Lesbos bedrückt dies, naturgemäß. Manche verängstigt es. Wieder andere könnte es radikalisieren. In den Straßen von Mytilene wird gekämpft – mit Grafittis an Hà 4userwänden. Symbolen auch. Am Strand bei Mytiline brachte eine Hilfsorganisation unlängst eine Gedenktafel für im Meer verunglückte Flüchtlinge an. Kurz darauf wurde die Tafel geschändet. Oder das weiße Christus-Kreuz, das eines Tages in einer der Badebuchten in der Hauptstadt emporragte. Die Flüchtlinge nennen den Ort seitdem Nazi-Beach. Gewalt der Symbole, auf die bald rohe Gewalt folgen könnte. Lesbos ist keine Ausnahme von der Regel. Wieso auch? Die Flüchtlinge sagen: Dies hier ist Griechenland. Nicht Europa. Manch ein Lesbier nickt mit dem Kopf. Die Verantwortlichen für den Notstand leben weit weg. Wenn sie kommen, fliegen sie ein. Dialog als Lehre aus den Konflikten der vergangenen Jahre. Eine Kultur der runden Tische? Fehlanzeige.

Touristen kommen seit bald vier Jahren so gut wie keine mehr nach Lesbos. Grund sind die Schlagzeilen über Moria. Oberflächlich genug, um Insel und Bewohner in Misskredit zu bringen, so das allgemeine Gefühl hier. Viele Bewohner finden sich zu Unrecht verunglimpft. Ausländische Journalisten kämen meist nur wegen der Flüchtlinge. Mit ihnen, den Einheimischen, spreche kaum einer, erzählen ihre Gesichter. Dabei haben die Menschen hier anfangs und lange Zeit ein großes Herz gezeigt. Den Ankömmlingen Tür und Tor geöffnet. Gekocht. Eine Schlafstelle geboten, solange es ging. Als die Not am größten war. Straßen und Bürgersteige in Mytilene – voll von Menschen. Das ist noch gar nicht lange her. Straßen, Bürgersteige – überall Menschen, Zelte, Decken, Papp-Planen. Viele der Migranten erinnern sich mit Dankbarkeit an die Hoch-Zeit der Hilfe auf Lesbos. Die Lesbier und Lesbierinnen mussten nicht aufgefordert werden, solidarisch zu hand eln: viele sind selbst Flüchtlinge oder kommen aus Flüchtlingsfamilien. Die Geschichte der „Katastrophe Kleinasiens“, 1922, als Hunderttausende Griechen aus der Türkei fliehen mussten (und im Tausch die türkische Bevölkerung im Zuge einer völkerrechtlich sanktionierten ethnischen Säuberung Lesbos und das übrige Griechenland verlassen mussten), hinterlässt bis heute ihre Spuren. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind viele von Lesbos weggezogen. Aufgrund instabiler Konjunktur und Wirtschaftslagen. Trotz des Segens der Olivenbäume.

Das Meer und der Tod

In der Regel interessieren uns Flüchtlinge, solange sie am Leben sind. Wenn Flüchtlinge auf See zu Hunderten sterben, erfolgt gelegentlich ein inszenierter Trauerakt. So 2013 auf Lampedusa. Tatsächlich ist es eine politische Gratwanderung. Denn der Akt suggeriert, dass die Politik und wir uns um die Toten kümmern. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall.

Gibt es angesichts der vielen Toten im Mittelmeer überhaupt feste Regeln der EU-Länder im Umgang mit den Leichen? Wo finden die Flüchtlinge ihre letzte Ruhe? Wer stellt ihre Identität fest? Wie bekommen Hinterbliebene Nachricht und Zugang zu Verstorbenen und dem, was diese hinterlassen?

Auf Lesbos treffe ich auf einen Friedhof mit toten Flüchtlingen. Der Ort ist ein Tabu, ein Unort, über den die Menschen hier schweigen. Nur der Hinweis anderer Reisender leitet mich nach Kato Tritos. Zwischen Olivenbäumen und Maschendrahtzaun gelegen, ragen hier auf der Fläche eines halben Fußballfelds rund 50 weiße Steintafeln zwischen wuchernden Gräsern unmerklich aus dem Boden. Auf den Tafeln die Namen der Toten. Die meisten Grabsteine sind mit 2015 und 2016 datiert. Viele Gräber werden bereits vom Unkraut verschluckt. Offenbar war lange niemand hier. Aufschriften sind ausgeblichen. „Unbekanntes Opfer, 1 Jahr alt“, heißt es auf einer Grabplatte, „Unbekanntes Opfer, 3 Jahre alt“, eine andere Inschrift. Daneben solche, deren Namen überliefert sind: junge Iraker, Syrer, Afghanen, Babies, Kinder; Männer, Frauen. Wie sind diese Menschen umgekommen auf See? Immer wieder werden Schlauchboote nachts von Schleppern in die Dunkelheit geschickt. D ie Schlepper bleiben zurück, drücken einem der Flüchtlinge das Ruder in die Hand. Himmelfahrtskommandos. Draußen Seegang, vor allem Schlauchboote, oft seeuntüchtig.

Am Rand des Friedhofs steht ein Gartenhäuschen. Die Tür ist angelehnt. Innen eine Trage mit einem leeren Sarg, gehüllt in eine grüne Fahne mit arabischer Aufschrift. Das Sterben geht also weiter. Aber nichts deutet hier an, wer an diesem Ort den Toten das letzte Geleit gegeben hat. Wer schämt sich hier vor wem? Die Einheimischen vor dem Leid der Flüchtlinge und der muslimischen Opfer? Oder die Flüchtlinge, die Ihresgleichen beerdigen, ohne gesehen werden zu wollen? All das bleibt offen. Über Kato Tritos will keiner mit mir offen sprechen. Scham und Schweigen allenthalben. Inselfriedhöfe sind das große Tabu-Kapitel der Fluchten. Zugleich mehren sich anonyme Flüchtlings-Friedhöfe entlang des Mittelmeers. Nur selten tauchen ihre Bilder in den Medien auf.

Rückblende: Lampedusa 2013. Damals ertranken rund 400 Flüchtlinge an einem Tag. Europa schien das Ausmaß der Tragödie nicht mehr verdrängen zu können. Ein Staatsbegräbnis wurde angeordnet. Den toten Flüchtlingen verlieh man postum die italienische Staatsbürgerschaft. Angehörigen wurde dagegen die Einreise zur Teilnahme an der Trauerfeier verwehrt. Die Angehörigen konnten die Leichen also nicht identifizieren. Die Leichen wurden anonym beigesetzt. Wer überlebte, wurde mit dem Vorwurf der illegalen Einreise kriminalisiert. „Solange die Flüchtlinge Grenzen überwinden, sind sie ein Thema“, sagt dazu der Forscher Reiner Sörries in einer Untersuchung der Vorfälle, „nicht jedoch, wenn sie tot und zu bestatten sind.“ In Sidero, auf dem griechischen Festland nahe dem Grenzfluss Evros zur Türkei, ist geregelt, dass tote Flüchtlinge bis zu 80 Tage lang in eine Kühlzelle kommen. Kümmert sich in dieser Zeit keiner um sie, wer den sie zur Beerdigung freigegeben. Tote Flüchtlinge: niemand will sie haben. Auch feste Regeln für ihre Bestattung gibt es in den EU-Staaten offenbar nicht. Überhaupt scheinen europaweit Prozeduren zu fehlen, die versuchen, die Identität der Opfer zu klären. Oft sind es private Vereine und Personen, Hilfsorganisationen, die diese Arbeit übernehmen. In unermüdlicher Kleinarbeit werden Verwandte aufgespürt, um ihnen die verbliebenen Gegenstände der Toten auszuhändigen. Zeit- und nervenaufreibend ist das. „Vielleicht“, so Sörries, „sollte sich der UNCHR“ um solche Helfer „an Europas Küsten bemühen, solange Europa weder für die Aufnahme von Flüchtlingen noch für die Bestattung der Toten zu menschenwürdigen Regelungen gefunden hat.“

Auf Lesbos treffe ich Vassilios, einen dieser stillen, unscheinbaren Helfer. Zusammen mit seinen beiden Söhnen betreibt er eine kleine Gaststätte bei Kato Tritos, die tagsüber Essen serviert. Ein warmes Dach über dem Kopf bietet. Für Flüchtlinge und von Flüchtlingen wird hier gekocht. „Ich bin selbst viel auf der Straße und zwischen den Ländern unterwegs gewesen in meinem Leben“, erzählt Vassilios und steigt in seinen Pick-up. Während der Fahrt winkt er am Straßenrand jedem, der nicht wie ein Einheimischer aussieht. In Mytilene haben Vassilios‘ Söhne ein Internet-Café für Migranten eröffnet. Geöffnet rund um die Uhr. Café und Tee gibt es gratis. Im Café hocken junge Männer mit schwarzem Haarschopf dicht an dicht. Tippen auf ihren Handys, die ihr Gesicht hell erleuchten. Nicht alle Einheimischen, sagt man mir, seien von solchen Initiativen begeistert. Es verderbe die Preise, ziehe die Falschen an. Einige der Helfer a uf Lesbos müssen sich zunehmend rechtfertigen, dass und warum sie sich engagieren. Der stille, wachsende Unmut der Einheimischen ist unübersehbar. Unmut über die Medien auch. Ausländische Reporter, die auf das Eiland kommen, seien nur am Schicksal der Flüchtlinge interessiert. Verständlich auch. Die Wirtschafskrise hat die Insel unverändert im Griff.

Die Krise hat in diesen Monaten auch die Oliven-Bauern auf Lesbos getroffen. In Polichnitos besuche ich den Besitzer einer industriellen Oliven-Presse, der die Ernte mehrerer Kleinbauern sammelt und verarbeitet. Ein Dutzend Familien haben ihre Säcke auf dem Hof abgestellt. Der Griff in die gefüllten Jute-Taschen zeigt, wo das Problem liegt: Würmer haben die Oliven befallen. „Im Winter wird ein Großteil der Oliven-Ernte deshalb ausfallen“, so der Fabrikant. „Dacus oleae“ heißt der Schädling. Eine wiederkehrende, unberechenbare Plage für die Olive und die Bauern in dieser Region. Auf Lesbos trifft es die Menschen besonders hart jetzt. Neben Ouzo, dem weltbekannten Anis-Schnaps, sind Oliven der Reichtum der Insel. „Die Oliven sind unser Öl, unser Gold. Und wenn das Öl wegbleibt, haben wir ein Problem“, so der Fabrikant. Von Polichnitos wenige Kilometer südlich geht es in Richtung des kleinen Ortes Vrissa. Vorbei an thermischen Quellen, an manchen Stellen über 90 Grad heiß. Die Quellen stehen für geologische Verschiebungen. Für Erdbeben. Ein solches hat vor zwei Jahren den Ort Vrissa getroffen. Kein Stein ist auf dem anderen geblieben. Am Ortseingang schaufelt ein Bagger Brocken eingestürzter Hausreste beiseite. Vereinzelt huschen ältere Menschen zwischen Ruinen entlang. Der Kirchenturm im Ortskern – eine not-gestützte Holzkonstruktion. Von Wiederaufbau keine Spur. „Wir hoffen immer noch, dass der Staat uns die versprochene Hilfe zukommen lässt. Noch ist die Schadensfeststellung nicht abgeschlossen, welche Gebäude ganz weichen müssen und wo die Substanz noch erhalten werden kann,“ so der Bagger-Fahrer. Die meisten Bewohner sind umgesiedelt worden. Ihr Herz aber hängt an der zerstörten Heimat, die so schnell nicht wieder aufgebaut wird.

Viele Bewohner in Lesbos geben an, wegen der Krise mittlerweile zwei bis drei Jobs zu haben, um Miete und Unterhalt zahlen zu können. Es gibt Lehrer auf der Insel, die seit mehreren Monaten kein Gehalt bezogen haben. Die Pensionen für Rentner sind radikal gekürzt worden im Zuge der Finanz-Auflagen. Sparen an allen Ecken und Enden. „Merkel will, dass wir den Gürtel enger schnallen“, deutet ein alter Mann auf seinen Bauch. Er lockert die Schnalle, als würde er sich mit dem Gürtel die Luft abschneiden. „Mehr geht nicht. Wie weit noch?“, raunt er fragend. Die Busfahrt vom einen Ende der Insel zum anderen dauert 90 Minuten. Und kostet umgerechnet 15 Euro. Der öffentliche Bus ist fast leer, als ich ihn besteige. „Für viele ist es zu teuer geworden“, sagt der Fahrer, „die Leute bleiben lieber zu Hause.“ Tourismus als Einnahmequelle ist auf Lesbos weitgehend zum Erliegen gekommen. „Business is dead“, winkt der Manager eines Hotels im Hafe n von Mytilene ab. Minus 80 Prozent und mehr. Andere am Ort reden von einer leichten Erholung.

Es sind jetzt Beamte und Helfer der Flüchtlings-Industrie, die jetzt auf Lesbos Zimmer buchen: UN-, NGO- oder Frontex-Mitarbeiter. Es verwundert nicht, dass auch hier nationalistische Parteien versuchen, aus der ökonomischen Krise auf Lesbos Kapital zu schlagen. Ressentiments werden geschürt, Sozialneid geweckt. Die Migranten, heißt es, bekämen hunderte von Euro pro Kopf und Monat. Ein Gerücht. Nach meinen Recherchen erhält ein Flüchtling im Lager Moria pro Kopf 90 Euro im Monat. Jedes Kind die Hälfte dazu. Die Busfahrt von Moria in die Stadt kostet 2 Euro hin und zurück. Bei drei Fahrten in der Woche ist eine Flüchtlings-Familie so einen guten Teil ihres Geldes los. Ob Parteien wie die Goldene Morgenröte, die griechische Version der AfD, daraus Kapital schlagen können? Verhindern könnte dies am ehesten die rasche Verteilung der Asylbewerber auf das griechische Festland und die übrigen EU-Staaten. Darauf drängt Spyros Galinos, der Bü rgermeister von Mytilene. Vor Monaten hat er erneut vor einer Radikalisierung und dem Ausbruch von Gewalt gewarnt. Geld für kommunale Leistungen hat er keines. Die Hände sind ihm gebunden. Sein Hilferuf gilt seiner eigenen Regierung, vor allem der EU in Brüssel und Kanzlerin Merkel. Letztere müssten endlich für die versprochene Entlastung sorgen, damit die Menschen auf andere EU-Mitgliedstaaten verteilt werden.

Die lokale Bevölkerung auf Lesbos kämpft derweil mit ihren eigenen wirtschaftlichen Problemen. Die Not der Einheimischen steht neben der Not der Flüchtlinge. Und Europa? Eine wehrhafte Festung, man spürt es auf Schritt und Tritt. Eine Festung in Flammen, gefühlt. Den drohenden Rauch, der daraus aufsteigt, scheinen jene, die aus der Ferne zusehen, nicht wahrzunehmen.

Martin Gerner ist freier ARD-Korrespondent, Fotojournalist, Filmautor und Privatdozent. Seit 2001 arbeitet er in Kriegs- und Krisengebieten für deutsche Medien, davor war er als Redakteur beim Deutschlandfunk. Beim Aufbau einer neuen Medienlandschaft in Afghanistan hat er viele junge afghanische Journalisten und Journalistinnen ausgebildet. Sein Dokumentarfilm „Generation Kunduz“ wurde international vielfach ausgezeichnet. Er ist auch Blogger des Afghanistan Analysts Network sowie Dozent für Konfliktforschung, Peacebuilding Studies und Medien. Seit 2017 ist er mehrfach ausführlich auf den Wegen von Flüchtlingen auf der Balkanroute und im Mittelmeer unterwegs gewesen und hat Foto-Ausstellungen dazu präsentiert, u.a. auf der Internationalen Photoszene Köln 2018.


Rackete ./. Salvini

Wie eine mutige Kapitänin einen rassistischen Innenminister demütigte

Die Migrationskrise ist mit der politischen Krise in Italien verbunden. Der kometenhafte Aufstieg des Lega-Bosses Matteo Salvini erfolgte auf einer Welle des Rassismus, die von Salvini und seiner Partei Lega vorangetrieben wurde. Sie wurde exakt am 26. Juni 2019 gestoppt – und dies ausgerechnet von einer Frau, die dann noch den programmatischen Namen Carola Rackete hat.

Rackete war damals als Kapitänin des Rettungsschiffes „Sea Watch 3“ mit 40 Migrantinnen und Migranten, die ihre Crew aus dem Mittelmeer gerettet hatten. Sea Watch 3 fuhr unter an diesem Mittwoch dem Kommando von Rackete unerlaubt und gegen die expliziten Befehle des damaligen italienischen Innenministers Salvini in den Hafen von Lampedusa.1 Dies stellte für den Ober-Macho Salvini eine unerhörte Demütigung dar; zumal über die erfolgreiche Landung der Sea Watch 3 in allen Medien ausführlich berichtet wurde. Salvini beschimpfte Rackete unflätig. Er bezeichnete die Humanistin als „deutsche Kommunistin“; die Sea Watch 3 sei „ein Piratenschiff“. Gegen Rackete wurden auf Antrag Salvinis von der italienischen Justiz Ermittlungen „wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung“ eingeleitet.

Die gelungene Aktion zur Rettung von Flüchtlingen trug erheblich zur Entzauberung Salvinis bei. Sie dürfte auch eine Rolle dabei gespielt haben, dass sich der Lega-Partner Cinque Stelle und der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte zu einer Offensive gegen Salvini, zum Hinauswurf der Lega aus der Regierung und zur Bildung der neuen Regierung mit der sozialdemokratischen PD aufrafften. Der Plan Salvinis, auf der rassistischen Welle Neuwahlen, die einen Sieg der Lega herbeigeführt hätten, zu erzwingen, scheiterte.

Carola Rackete hat inzwischen ihrerseits Salvini in einer Verleumdungsklage beschuldigt, zum Hass aufzustacheln und zu einem Verbrechen anzustiften. Die Staatsanwaltschaft Mailand nahm sich im September 2019 des Falls an und hat Vorermittlungen gegen Salvini eingeleitet. Rackete begrüßte die Entscheidung mit den Worten: „Die Entscheidung zeigt, dass die italienische Justiz unabhängig arbeitet. Es ist mir wichtig, mich gegen Hassreden deutlich zu positionieren. Salvinis Worte befeuern den Rassismus, sie haben konkrete negative Auswirkungen auf Flüchtlinge und Migranten.“2 LP21-Redaktion

Anmerkungen:

1 Am 12.6.2019 rettete die Sea Watch 3 53 Menschen vor Libyen. Es handelte es sich um 38 Männer, 9 Frauen, 3 unbegleitete Minderjährige und 3 Kinder, die meisten von der Elfenbeinküste oder aus  Ghana. Einige von ihnen wurden aus medizinischen Gründen nach Italien an Land gebracht, 40 blieben an Bord, während das Schiff vor Lampedusa ohne Erlaubnis zum Einlaufen in Warteposition blieb. Am 26.6.2019 fuhr das Schiff trotz angedrohter hoher Geldstrafen in italienische Hoheitsgewässer und schließlich in den Hafen von Lampedusa ein, da laut Rackete nach zwei Wochen auf dem Schiff die Migranten „es nicht mehr aushielten“ und „einige gedroht hätten, über Bord zu springen“. Angaben nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Sea-Watch_3. Siehe auch: https://sea-watch.org/

2 Spiegel online vom 9.9.2019. siehe: https://www.spiegel.de/politik/ausland/matteo-salvini-staatsanwaltschaft-ermittelt-nach-anzeige-von-carola-rackete-a-1285417.html