Feinstaub in Norditalien und Bioaerosole in den Fleischfabriken
Selten beherrschten Zahlen so heftig und anhaltend die Medien wie in den letzten Wochen und Monaten. Zahlen suggerieren Transparenz und Exaktheit. Doch Transparenz beschränkt sich nicht darauf, dass man Zahlen nennt, sondern es erfordert auch, dass erläutert wird, wie sie entstehen und was sie bedeuten. Fehlende Transparenz ermöglicht, unliebsame Zusammenhänge auszublenden, stiftet Verwirrung und bietet Verschwörungstheorien einen Nährboden.
Das dramatische Geschehen in der chinesischen Stadt Wuhan und in Norditalien versetzte die Welt in Aufruhr. Am 11. März wurde die Corona-Epidemie von der WHO zur Pandemie erklärt. Pandemien sind komplexe Phänomene, die mit Zahlen beschrieben werden, die widersprüchlich erscheinen können, weil sie vom Umgang mit dem Infektionsgeschehen und von den Rahmenbedingungen abhängig sind. Dazu zählen der Zustand des Gesundheitssystems im jeweiligen Land, insbesondere die Verfügbarkeit von Intensivbetten, Maßnahmen zur Überwachung des Infektionsgeschehens, Altersstruktur, Siedlungsdichte, Mobilität, Kontaktsperren usw. Die Zahl der Todesfälle – extremer Ausdruck der SARS-Cov-2 Pandemie – erscheint, bezogen auf die Einwohnerzahl, vergleichbarer als ein Bezug auf die Zahl der Infizierten, deren Ermittlung stark vom Ausmaß der Testung beeinflusst wird. Diese Zahl – Corona-Tote bezogen auf die Einwohnerzahl – variiert extrem. In ausgewählten Ländern betrug sie mit Datum vom 26. Mai, bezogen auf 1 Million Einwohner: Vietnam 0, Südkorea 5, Deutschland 101, Niederlande 342, Schweden 409, Vereinigtes Königreich 544, Italien 544, Spanien 574 und Belgien 806.
Diese Unterschiede in der virusbedingten Sterblichkeit können, wie oben erläutert, verschiedenste Ursachen haben. Zum Beispiel verwies Ignacio Ramonet1, Mitbegründer des Weltsozialforums, in seinem vielbeachteten Aufsatz „Die Pandemie und das Weltsystem“ auf die Erfahrung ostasiatischer Länder im Umgang mit Corona-Virus-Epidemien zwischen 2003 und 2018, was ein wichtiger Faktor für den bislang sehr erfolgreichen Umgang mit der Situation in diesen Ländern gewesen sein dürfte. Es versteht sich von selbst, dass bei einer wirksamen Eindämmung des Infektionsgeschehens an sich auch die Zahl der Todesopfer geringer ist.
Die Rolle der Luftverschmutzung in Bezug auf Ausbreitung, Schweregrad und Todesfolge bei Corona-Infektionen wurde bisher nur wenig beachtet. Die schlechte Luftqualität in den am stärksten betroffenen Regionen Italiens fand in den Medien gelegentlich Erwähnung, doch von wenigen Ausnahmen abgesehen (z.B. NDR vom 5. Mai 2020), fehlt in den Medien eine gründlichere Betrachtung dieses Aspekts.
Luftverschmutzung
Seit langem ist bekannt, dass die Schadstoffbelastung der Luft tödliche Folgen hat, was letztendlich zur Verabschiedung von Grenzwerten und – in den reicheren Ländern – zur Etablierung eines Netzwerks von Messstellen führte. Laut dem letzten „State of Global Air“-Bericht des Health Effects Institute starben im Jahr 2017 weltweit etwa fünf Millionen Menschen an den Folgen von Feinstaub mit einer Partikelgröße unter 2,5 Mikrometer (PM2.5).2 Neben Stickoxiden (NO2) sind diese tief in die Lunge eindringenden, feinen Partikel besonders gefährlich. Die WHO hat ein PM2.5-Limit von 10 Mikrogramm pro Kubikmeter im Jahresdurchschnitt festgelegt. In der EU gilt ein Grenzwert von 25 Mikrogramm pro Kubikmeter. Etwa 90 Prozent der urbanen Weltbevölkerung leben in einer Umgebung, wo der Grenzwert von 10 Mikrogramm pro Kubikmeter überschritten wird. Und bei drei Milliarden Menschen ist häusliche Luft erheblich belastet, weil an offenem Feuer gekocht wird.
Epidemiologische Studien verdeutlichen einen Zusammenhang zwischen Feinstaubbelastung und Beeinträchtigungen von Lungenfunktion und Herz-Kreislauf-System. Drei Faktoren spielen eine wesentliche Rolle. Zunächst ist ein als „oxidativer Stress“ bezeichnetes biochemisches Phänomen zu nennen, das für einen Teil der Effekte in beiden Organsystemen zuständig ist. Hinzu kommt eine Erhöhung der Durchlässigkeit der obersten Schicht der Lungenbläschen durch PM2.5-Partikel, was das Eindringen von Viren erleichtert und somit im Corona-Kontext besondere Relevanz hat. Und schließlich verursachen PM2.5-Partikel eine Überreaktion des Immunsystems. Das trifft Asthmapatienten besonders hart. Eine solche PM2.5-bedingte Regulationsstörung des Immunsystems führt auch zu einem schwereren Verlauf der Corona-Infektionen, ggf. mit Todesfolge.
Feinstaub und Covid-19
Ende April wurde eine in den USA durchgeführte Studie vorab veröffentlicht, in der die Daten aus 3000 Landkreisen (Counties) unter Berücksichtigung von 20 zusätzlichen Einflussfaktoren ausgewertet wurden. Die Ergebnisse zeigen, dass ein Anstieg der PM2.5-Konzentration um nur 1 Mikrogramm pro Kubikmeter mit einer um 8 Prozent erhöhten Covid-19 bedingten Sterberate verbunden war.3 Eine im Auftrag der Weltbank in den Niederlanden durchgeführte und im April publizierte Analyse untersuchte den Zusammenhang zwischen Corona-Infektionen und Feinstaubbelastung. Eine Zunahme der PM2.5-Konzentration von 10 auf 12 Mikrogramm pro Kubikmeter hatte eine Zunahme von 22 Corona-Infizierten pro 100.000 Einwohner zur Folge.4
Es ist notwendig, auf die Mikroebene zu blicken, um Dinge zu erkennen, die sonst im Zahlenrauschen untergehen. Einem holländischen Zeitungsbericht zufolge ist die Corona-Sterblichkeit in einigen Gemeinden von Ost-Brabant und Nord-Limburg zehnmal höher als im Durchschnitt anderer niederländischer Provinzen. Diese Gemeinden zeichnen sich durch intensive Viehhaltung aus – eine bekannte Emissionsquelle für Feinstaub – woraus sich eine höhere Feinstaub-Belastung für die Anwohner ergeben dürfte. Das Nationale Gesundheitsinstitut der Niederlande (RIVM) beschloss, dort zusätzliche Messpunkte zu installieren. Seit 1977 ist belegt, dass eine Beschäftigung in Massentierhaltungen mit einer Beeinträchtigung der Lungenfunktion einhergeht, sowohl beim Vergleich der Lungenfunktion zwischen Schichtbeginn und Schichtende als auch in Bezug auf die Zahl der Beschäftigungsjahre.
Vieles, was in den letzten Wochen mit konkreten Corona-Zahlen untermauert wurde, war den Experten jedoch schon vor der jetzigen Krise bekannt. Ein Zusammenhang von Feinstaubbelastung und Sterblichkeit bei Virusepidemien (SARS und Influenza) wurde unter anderem 2003 und 2007 in Fachjournalen beschrieben.5 Dabei wurde auch explizit Norditalien als stark belastet identifiziert.6 Unter den europäischen Städten mit der größten Luftverschmutzung befinden sich norditalienische Städte regelmäßig weit oben auf der Liste. Dass in der Poebene seit Dezember eine Inversionslage herrschte, muss den Verantwortlichen bekannt gewesen sein. Trotzdem lief dort die Industrieproduktion mitsamt ihren Emissionen zu großen Teilen weiter, während für private Haushalte Kontaktsperren erlassen wurden. Inzwischen gibt es Hinweise, dass sich SARS Cov-2 nicht nur über Tröpfcheninfektion, sondern auch über Feinstaub verbreitet.6 Die Vermutung, dass eine durch den Lockdown reduzierte Feinstaubbelastung auch die Übertragungsrate verringert wurde, liegt also nahe.
Covid-19, Schlachthöfe, Bioaerosole
Während diese Zeilen geschrieben werden, beherrschen die Corona-Infektionen von Schlachthofarbeitern die Schlagzeilen. Völlig zu Recht werden die skandalösen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Vertragsarbeiter und das deutsche System der Produktion von Fleisch- und Wurstwaren angeprangert, das an die Verhältnisse in Upton Sinclairs Roman „Der Dschungel“ (1906) erinnert. In der medialen Verkürzung wird kaum erwähnt, dass dieses System weder an den Toren der Schlachthöfe beginnt noch dort aufhört. Doch wenn sich die mediale Empörung auf die Situation der Schlachthofarbeiter beschränkt, gerät aus dem Blickfeld, dass die Ursache des Systems „Billigfleisch“ ursächlich dem Preisdruck der Lebensmittelketten geschuldet ist. Dazu bedürfte es einer tiefergehenden Analyse, die jedoch hier nicht geleistet werden kann. Das „Schlachthof-Phänomen“ ist nicht auf Deutschland beschränkt. Knapp die Hälfte der 25 Corona-„Hotspots“ in den USA, also Orte, die als besonders gravierende Infektionsquelle identifiziert wurden, sind Schlachthöfe und fleischverarbeitende Betriebe, die im Guardian vom 15. Mai als Corona-„Inkubatoren“ bezeichnet werden. An diesen Arbeitsstätten kommt vieles zusammen. In den deutschen Medien wurde die prekäre Unterbringung der vorwiegend ausländischen Arbeiter hervorgehoben. Die größten Infektionsgefahren dürften jedoch vor allem durch die Situation am Arbeitsplatz entstehen. Schlachthöfe stellen einen „Hotspot“ für Bioaerosole dar, was nicht nur die Übertragung von SARS Cov-2 begünstigen dürfte, sondern erwiesenermaßen auch zur Vorschädigung der Lungen der dortigen Arbeiter führt.7 Es bedarf keiner besonderen Phantasie, um sich vorzustellen, dass unter den in dieser Branche herrschenden Arbeitsbedingungen persönliche Befindlichkeiten hintanstehen, was letztendlich dazu führt, dass die betroffenen Arbeiter das Corona-Virus deutlich länger unerkannt übertragen als normalerweise.
Fazit
Das Aufeinandertreffen verschiedener Krisen führt zur Potenzierung ihrer Wirkung. Diese nicht gerade neue Erkenntnis wird durch die Corona-Pandemie einmal mehr verdeutlicht. Luftverschmutzung durch Feinstaub und Bioaerosole verstärken die Wirkung von SARS Cov-2. Umgekehrt wird die tödliche Wirkung von Luftschadstoffen durch Corona-Infektionen verstärkt – Stichwort „Vorerkrankungen. Durch prekäre Umwelt- und/oder Arbeitsbedingungen sind bestimmte Regionen bzw. Bevölkerungsgruppen besonders stark betroffen. Das wiederum schlägt zurück auf die Allgemeinheit – die „Hotspots“ wirken in die Fläche. „Symptomatische“ Behandlungen bleiben Stückwerk und die Zeit für eine grundlegende Krisenbewältigung – weit über Corona hinaus – läuft uns davon.
Peter Clausing ist Toxikologe und publiziert unter anderem zu den Auswirkungen von Pestiziden auf Gesundheit und Umwelt. Sein Buch Naturschutz und Welternährung erschien 2014 im Unrast-Verlag Münster.
Anmerkungen:
1 Ignacio Ramonet, Die Pandemie und das Weltsystem, in: amerika21 – Nachrichten und Analysen aus Lateinamerika, 9. Mai 2020. https://amerika21.de/analyse/239652/die-pandemie-und-das-weltsystem
2 Health Effects Institute (2019), State of Global Air 2019. https://www.stateofglobalair.org/sites/default/files/soga_2019_report.pdf
3 Wu, X. et al. (2020), Exposure to air pollution and COVID-19 mortality in the United States: A nationwide cross-sectional study. medRxiv preprint: https://doi.org/10.1101/2020.04.05.20054502
4 Andreé, P.J. (2020), Incidence of COVID-19 and Connections with Air Pollution Exposure Evidence from the Netherlands. Policy Research Working Paper 9221, The World Bank Group
5 Cui, Y. et al. (2003) Air pollution and case fatality of SARS in the People‘s Republic of China: an ecologic study, Environmental Health: A Global Access Science Source, 2 http://www.ehjournal.net/content/2/1/15; und Ciencewicki, J. & Japsers, I. (2007), Air Pollution and Respiratory Viral Infection; Inhalation Toxicology 19:1135–1146
6 Sciomer, S. et al. (2020), SARS-CoV-2 spread in Northern Italy: what about the pollution role? Environ Monit Assess 192:32
7 Kasaeinasab, A. et al. (2017), Respiratory Disorders among Workers in Slaughterhouses. Safety and Health at Work 8:84-88