Wo ist die Friedensdividende geblieben?

Dieser Text basiert auf einem Brief, den ich an meine ehemaligen Mitstudierenden der Politologie an der Uni Hamburg geschrieben habe.

Liebe ehemalige Mitstudierende, vor vier oder fünf Jahren haben wir unser Politikstudium an der Universität Hamburg abgeschlossen. Einige von Euch haben inzwischen einflussreiche Positionen in politischen Institutionen und in öffentlichen Medien erreicht. Nach meinem Eintritt in die Rente habe ich mich für die Wissenschaft entschieden, auch um meine über 50-jährige politischer Praxis kritisch zu reflektieren.

Im Moment erfüllt mich der Krieg in der Ukraine mit tiefster Sorge. Der von Putin befehligte Angriffskrieg auf die Ukraine besitzt keinerlei akzeptable, rechtliche, politische oder moralische Rechtfertigung. Die Ukraine hat ohne Zweifel das Recht, sich selbst zu verteidigen und auch um internationale Unterstützung zu bitten.

Aber aus diesem Recht folgt nicht automatisch auch die Pflicht zur militärischen Selbstverteidigung. Und aus dem Recht, die Ukraine militärisch zu unterstützen, folgt auch nicht automatisch die Pflicht, dies zu tun. Denn jeder dieser Schritte muss darüber hinaus auch vor den folgenden beiden zentralen Fragestellungen Bestand haben:

Erstens, sind die menschlichen Opfer und die materiellen Zerstörungen, die mit dieser Verteidigung verbunden sind, angesichts der realistisch zu erreichenden Ziele moralisch gerechtfertigt?

Zweitens, können die militärischen Verteidigungsmaßnahmen angesichts der Gefahren der Verlängerung und globalen Eskalation des Krieges politisch gerechtfertigt werden?

Ich habe bisher noch kein überzeugendes Argument dafür gehört, die eine oder die andere Frage positiv zu beantworten. Bei allen öffentlichen Debatten, in den berüchtigten Talkshows von Anne Will bis Markus Lanz, in den Nachrichtensendungen und Magazinen und in den allermeisten Artikeln der sonstigen vielfältigen Medien wird diesen Fragestellungen konsequent aus dem Weg gegangen. Sie sind zu unbequem. Daher werden sie mit rhetorischen Tricks umgangen.

„Putins Schuld“ reicht nicht

Putin hat Schuld, wird gesagt. Aber selbst, wenn er die alleinige Verantwortung für diesen Krieg haben sollte, würde dies Abertausende von menschlichen Opfern und unvorstellbare Zerstörungen rechtfertigen, die der Verteidigungskrieg aktuell zwangsläufig mit sich bringt?

Es wird gesagt, Putin hat die seit dem Zweiten Weltkrieg bestehende regelbasierte internationale Ordnung zerstört. Diese regelbasierte internationale Ordnung hat es in Wirklichkeit nie gegeben.

Sie gab es nicht im Vietnamkrieg, nicht beim Überfall der USA und Großbritanniens auf den Irak, nicht in Afghanistan, nicht in Nicaragua und in vielen weiteren Fällen ebenfalls nicht. Der Unterschied zur heutigen Situation ist lediglich, dass diese eklatanten Völkerrechtsverletzungen vom Westen begangen und daher auch akzeptiert wurden.

Es heißt, nur mit schweren Waffen kann die Souveränität der Ukraine verteidigt werden. Aber warum fordert dann niemand die Lieferung schwerer Waffen an Palästina, dessen Souveränität seit Jahrzehnten von Israel mit Füßen getreten wird?

Es wird gesagt, Putin lügt. Aber selbst, wenn er der Einzige wäre, der im internationalen Politikgeschäft lügen sollte, wäre es dann richtig, auf jeglichen Versuch eines Waffenstillstandes zu verzichten und bis zu seinem Sturz nur noch die Waffen sprechen zu lassen?

Krieg nicht einzige Option

Aber der Krieg – auch ein Ver-
teidigungskrieg – ist nicht die einzige Option. Als die deutschen Wehrmachtstruppen 1940 Dänemark besetzten, entschloss sich das Land zum zivilen Widerstand. Die Wehracht war nach fünf Jahren wieder weg, aber Dänemark ist geblieben. Als die Truppen des Warschauer Paktes 1968 die Tschechoslowakei überfielen, befahl Alexander Dub ˘ cek der Armee, in den Kasernen zu bleiben. Die sowjetischen Panzer sind schon lange wieder weg, aber Bratislava und Prag wurden nicht zerstört.

Jeder Krieg endet entweder durch den militärischen Sieg einer der beiden Seiten oder durch Verhandlungen. Ein militärischer Sieg der einen oder der anderen Seite ist aktuell jedoch nicht abzusehen. Dennoch zeigen die ukrainische Führung und die Nato-Staaten gegenwärtig keinerlei Schritte in Richtung einer Verhandlungslösung. Stattdessen werden Zehntausende Soldaten und Zivilisten weiterhin für die Ehre und das Vaterland in den Heldentod geschickt.

Als die Sowjetunion 1990 in sich zusammenbrach und der Ostblock sich – einschließlich seines Militärbündnisses, des Warschauer Paktes – auflöste, machte das Wort von der Friedensdividende die Runde. Allseits wurde propagiert, dass die materiellen Ressourcen der Menschheit von jetzt ab nicht mehr für Militär und Krieg, sondern für soziale Verbesserungen, für die Umwelt, für internationale Gerechtigkeit und für den Frieden eingesetzt werden könnten.

Millionen Menschen auf der ganzen Welt hatten die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft. Der Westen hatte die – einmalige – historische Chance, zu zeigen, dass er die bessere Gesellschaftsform besitzt. Er hat kläglich versagt. Statt auf eine solidarische Welt zu orientieren, hat er wirtschaftlich die neoliberale Konkurrenz zum obersten Prinzip erhoben. Er hat nun erst recht auf die eigene militärische Vormachtstellung gesetzt. Die soziale Ungleichheit vertiefte sich in der Welt. Die Umweltzerstörung hat gigantische Ausmaße angenommen.

In Sachen kapitalistischer Ausbeutung im Inneren und militärischer Gewalt nach außen war Putin ein gelehriger Schüler des Westens. Nun führt die Antwort des Westens auf den Überfall auf die Ukraine weiter in Richtung Sozialabbau, Wirtschaftskrise, Armut und noch mehr Krieg. Was haben wir – meine Generation – Euch für eine Welt hinterlassen?

Eure Zukunft wird zerstört

Ich bin gerade 70 Jahre alt geworden, ich werde mit Glück vielleicht noch 10 Jahre zu leben haben. Aber Ihr habt noch 50 Jahre oder mehr vor Euch. Ihr müsst in dieser Welt leben, eine andere gibt es nicht. Eine Welt, in der noch nicht einmal das tägliche Trinkwasser und die Luft zum Atmen sichergestellt sind. Ihr werdet die wichtigen Weichenstellungen für Eure Zukunft treffen, ob Ihr wollt oder nicht.

Ich habe 35 Jahre in der Industrie gearbeitet, ich war Gewerkschafter, ich habe mich seit dem Vietnamkrieg für Gerechtigkeit und Frieden eingesetzt. Ich habe für eine Welt gekämpft, die Allen eine Chance auf ein besseres, auf ein würdiges Leben bietet. Letztlich war es meine Generation, die die deutsche Nazi-Vergangenheit aufarbeitete, die der internationalen Solidarität eine neue Bedeutung gab, die die Friedensbewegung und die Umweltbewegung in Deutschland mehrheitsfähig machte. Wenn ich jetzt jedoch auf das Ergebnis all dieser Anstrengungen schaue, dann überkommt mich eine tiefe Enttäuschung, Erschütterung, Frustration, ja Wut.

Frieden braucht Demokratie und soziale Gerechtigkeit

Ohne demokratische Freiheiten und ohne soziale Gerechtigkeit wird es keinen Frieden geben. Aber das entscheidende Mittel zur Durchsetzung einer sozialen und demokratischen Gesellschaftsordnung kann niemals der Krieg sein, sondern nur die kritische und selbstkritische Reflexion, die Bewusstseinsbildung, die Überzeugungsarbeit und das positive Beispiel.

Lissabon, 13. September 2022

Matthias Schindler (1952) ist Maschinenbautechniker, er war Vertrauenskörperleiter und Betriebsrat der IG Metall in einem Hamburger Industrieunternehmen, er ist langjähriger Aktivist der Nicaragua Solidarität, Politologe und forscht aktuell als Doktorand an der Universidade Nova de Lisboa zum Thema Sozialismus und Demokratie.