Winfried Wolf. Lunapark21 – Heft 27
Die Regierung in Washington, die Europäische Union und das Merkel-Gabriel-Team in Berlin betreiben seit Frühjahr 2014 gegenüber Russland eine Politik, die sich gefährlich auf einen offenen Wirtschaftskrieg zubewegt. Im Zeitraum März bis September gab es bislang drei Wellen mit Sanktionen. Damit wurde der reale Krieg, den es in der Ukraine bis zum Waffenstillstand von Anfang September gab, immer neu befeuert. Die Grundaussage der Sanktionspolitik lautet: „Wir werden damit Putin in die Knie zwingen“.
Das Ganze wird medial orchestriert. Bereits im März wusste Die Welt „Wo es Moskau weh tun kann“ (12.3.2014). Die gleiche Tageszeitung kommentierte im September die jüngsten Sanktionen mit: „EU will Russlands Wirtschaft austrocknen“ (4.9.2014). Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kommentierte die ersten russischen Gegensanktionen höhnisch mit: „Importverbot [von landwirtschaftlichen Produkten aus der EU] trifft russische Mittelschicht“ (11.8. 2014). Aus London tönte zum gleichen Zeitpunkt die Financial Times: „Russlands Orientierung auf Selbstversorgung wird angesichts krisenhafter Landwirtschaft keine Früchte tragen“ (20.8.2014). Die deutsche Börsenzeitung frohlockte und machte eine „Eiszeit auf dem Moskauer Parkett“ aus (24.7.2014).
Tatsächlich ist die Aussage, man werde Russland mit Sanktionen in die Knie zwingen, eine Quartalslüge. Getroffen werden von den Sanktionen am Ende ganz andere als diejenigen, auf die die Sanktionen angeblich gemünzt sind (siehe Christian Christen S. 12ff).
Ein Teil der Sanktionen zielt – u.a. mit Einreiseverboten für führende Banker und mit Restriktionen bei Krediten und Emissionen – auf den russischen Bankensektor. Argumentiert wird, der Finanzsektor Russlands sei besonders labil und verwundbar. Damit soll wohl an die katastrophale Finanzkrise erinnert werden, die es in Russland 1998 gab. Tatsächlich wurden in Russland als Reaktion auf diesen Finanzcrash Ende der 1990er Jahre und vor dem Hintergrund der weltweiten Finanzkrise 2007/ 2008 wichtige Maßnahmen zur Stabilisierung des Bankensektors (u.a. Erhöhung der Eigenkapitalausstattung der Institute) durchgeführt. Sodann befinden sich die maßgeblichen Banken unter staatlicher Kontrolle; die Finanzinstitute in Staatseigentum beherrschen fast 50 Prozent des Bankengeschäfts.
Der russische Staat selbst wiederum ist finanziell eher stabil ausgestattet. Vergleicht man in Grafik 1 die öffentlichen Schulden und deren Anteil am jeweiligen Bruttoinlandsprodukt in einzelnen EU-Staaten, in Deutschland selbst und im Durchschnitt des Euro-Raums mit dem Anteil der russischen öffentlichen Schulden am BIP, so wirkt Russland geradezu wie ein Musterknabe: In allen aufgeführten Ländern und im EU-Durchschnitt steigt diese Schuldenquote an; teilweise extrem steil (in Irland von 30 auf 120 Prozent); teilweise auf außerordentlich hohem Niveau befindlich und dennoch weiter nach oben kletternd (in Italien von 90 auf 130 Prozent).
Im Fall von Frankreich, Deutschland und im EU-Durchschnitt steigt diese Quote zumindest deutlich über 60 Prozent, was ja angeblich als „Maastricht-Maximum“ fest vereinbart wurde. Und Russland? Hier sank die Quote von 38 Prozent im Jahr 2002 auf bemerkenswert niedrige 10 Prozent im letzten Jahr.
Geht Putin dann möglicherweise bald die Puste respektive das Geld aus, wenn Bankenrettungsaktivitäten erforderlich werden oder wenn z.B. der Landwirtschaft mit Rubel-Milliarden unter die Arme gegriffen werden muss? Auch das ist, zumindest in absehbarer Frist, unwahrscheinlich, wie ein Blick auf die Währungsreserven wichtiger Länder zeigt (Grafik 2). Russland hat im weltweiten Maßstab die viertgrößten Währungsreserven. Diese haben umgerechnet einen Wert von knapp 500 Milliarden US-Dollar und sind überwiegend in US-Papieren, Staatsanleihen von Euro-Staaten und Gold angelegt. Diese Reserven sind immerhin so groß wie die Devisenreserven von Frankreich, Italien und Deutschland zusammengenommen.
Wird dann die russische Landwirtschaft kollabieren oder wird „der Mittelstand“ heftig gegen Putin opponieren, weil er keinen französischen Weichkäse mehr in den Regalen vorfindet? Tatsächlich könnte es wegen der entfallenden Agrarimporte in solchen Kreisen ein Murren und Knurren geben. Doch einerseits dürften die wirklich Reichen immer Wege finden, um ihre eher luxuriösen Bedürfnisse zu befriedigen. Andererseits ist nicht auszuschließen, dass die russische Landwirtschaft unter solchen Krisenbedingungen den erforderlichen Modernisierungsschub erhält – zumal erforderliche Lieferungen von Landmaschinen auch aus China oder solchen westlichen Ländern, die nicht in die Sanktionsfront eingewoben sind, kommen können.
Im Grunde steht etwas ganz anderes auf dem Spiel: die Wärme im kommenden Winter. Und zwar in erster Linie in der Ukraine und in einigen östlichen EU-Ländern. In dieser Hinsicht spielt der Westen – angetrieben von der US-Regierung – im Wortsinn mit dem Gas-Feuer. Eine Steigerung der Sanktionspolitik wird unweigerlich darin münden, dass Moskau und der Staatskonzern Gazprom die Gaslieferungen gen Westen, die an die Ukraine ja bereits eingestellt wurden, weiter drosseln. Die Abhängigkeit der gesamten EU von russischen Gaslieferungen (die ein Drittel des gesamten EU-Gas-Verbrauchs ausmachen) ist bereits enorm. Die Ukraine, die drei baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland und Bulgarien sind zu 100 Prozent auf russisches Gas angewiesen (siehe Grafik 3). Wenn aber die Nato tatsächlich, wie angekündigt, Kampfverbände in den baltischen Staaten stationiert, dann liegt eine entsprechende Gegenreaktion Russlands mehr als nahe.
Sieht man einmal von der Gefahr der Ausweitung der militärischen Auseinandersetzung ab – diese ist durchaus ernst zu nehmen – so nimmt die Politik des Westens bewusst in Kauf, dass im kommenden Winter hunderttausende Menschen frieren und Millionen eine massiv erhöhte Energierechnung zu begleichen haben.