Interozeanischer Korridor durch mexikanische Landenge
spezial 2: globalisierung & transport
Es sind gut zwanzig Jahre her, da reisten Winfried Wolf und ich mit der Bahn über den Isthmus von Tehuantepec. Wir berichteten über die mexikanischen Regierungspläne, die Transportroute zwischen dem Pazifikhafen Salina Cruz im Bundesstaat Oaxaca und dem Atlantikhafen Coatzacoalcos im Bundesstaat Veracruz konkurrenzfähig zum Panama-Kanal zu machen. Das Vorhaben, den Schienenweg auszubauen und parallel dazu eine Autobahn über den Isthmus zu führen, lief unter dem Namen „Integriertes Programm zur wirtschaftlichen Entwicklung für den Isthmus von Tehuantepec“. „Vision oder Wahn?“ fragten wir uns angesichts einer Streckenführung durch Hügelketten und nahezu unberührte Wälder. Das unter der neoliberalen Regierung von Ernesto Zedillo geplante Megaprojekt scheiterte damals am Widerstand der Bevölkerung und fehlender Finanzierung. Ähnliches geschah im Rahmen des Plans Puebla Panama unter Präsident Vicente Fox (2000-2006).
Ein Vierteljahrhundert später: Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO), verbal einer der schärfsten Kritiker der neoliberalen Vorgängerregierungen, hat das Vorhaben wiederbelebt. Es erscheint wie eine erweiterte Blaupause der früheren Pläne. Nun unter dem Namen „Interozeanischer Korridor“.
Vorgesehen sind unter anderem: Ausbau der beiden Küstenhäfen, Modernisierung und Zweigleisigkeit der bisher nur eingleisigen 308 Kilometer langen Bahnstrecke. Ausbau der über weite Strecken parallel zur Bahn verlaufenden einspurigen Bundesstraße M-185 sowie Instandsetzung der zubringenden Landstraßen. Bau einer Gaspipeline. Dazu als wesentlicher Bestandteil die Ansiedlung von insgesamt zehn Industrieparks, die „Entwicklungspole für den Wohlstand“ genannt werden. Diese Parks sollen im Wesentlichen wie die Freizonen an der mexikanischen Nordgrenze zu den USA funktionieren: reduzierte Mehrwert- und Unternehmenssteuern, Ansiedlung von Teilfertigungsunternehmen.
Ganz offen preist AMLO eine besondere Funktion dieser Unternehmensansiedlungen: Sie sollen als „Damm“ gegen die Migrantinnen und Migranten dienen, die sich aus Mittelamerika und Mexiko Richtung USA aufmachen. Die Industrieparks sind teilweise auf die Migrationsrouten abgestimmt. Neben der einheimischen Bevölkerung stünden den Unternehmen die Flüchtlinge als billige Arbeitskräfte zur Verfügung. Die geplante Wiederaufnahme des unter Präsident Zedillo eingestellten Personentransports auf der Bahnstrecke ist ebenfalls vor diesem Hintergrund zu sehen.
Vision oder Wahn heute
Die Fragen nach dem Sinn des gesamten Vorhabens stellt sich heute wie in den 1990er Jahren. Für den Transportkorridor wird angeführt, dass er gegenüber dem Panama-Kanal eine enorme Zeitersparnis biete. Nach der Modernisierung der Bahnstrecke sollen die Güterzüge für die Querung des Isthmus dreieinhalb Stunden benötigen, etwa die Hälfte der derzeitigen Fahrtdauer. Doch Container müssten einmal im Salina Cruz und einmal in Coatzacoalcos umgeladen werden. Das erhöht Kosten und Zeitaufwand. Derzeit werden nur eine halbe Million Tonnen Waren pro Jahr über die Bahnstrecke transportiert, weniger als die Hälfte dessen, was zu den Boomzeiten transportiert wurde. Das war – 1913.
Selbst wenn die erwartete kurzfristige Verelffachung des Transportvolumens nach dem Ausbau der Bahnstrecke erreicht würde: Die dann erzielten fünf bis sechs Millionen Tonnen Umschlag sind immer noch lächerlich im Vergleich zu den 475 Millionen Tonnen, die im vergangenen Jahr durch den Panama-Kanal geschleust wurden. Der Isthmus von Tehuantepec könnte nach heutigem Stand immer nur eine Ergänzung, aber keine wirkliche Alternative zum Panama-Kanal sein. Die Frage ist auch, ob sich die Hafenerweiterungen auszahlen. In Salina Cruz werden jährlich nur etwa acht Millionen Tonnen umgeschlagen, in Coatzacoalcos 30 Millionen. Dabei machen Rohöl und petrochemische Derivate den Löwenanteil aus. Die heutigen Installationen sind auf den Bedarf des staatlichen Ölkonzerns PEMEX ausgerichtet, dessen Sanierung ganz oben auf der Prioritätenliste AMLOs steht.
Wer kontrolliert und finanziert?
Historisch gesehen bestand die Sichtweise der USA darin, die Transportroute Isthmus von Tehuantepec als Verlängerung des Mississippi anzusehen. Es passt ins Bild, dass die Kansas City Southern als gesetzte Kandidatin für eine Betreiberkonzession für die Bahnstrecke gilt. Sie kontrolliert bereits einen Großteil des Gütertransportes auf mexikanischen Schienen. Andererseits hat der mexikanische Präsident wiederholt geäußert, der Isthmus habe strategische Bedeutung für die mexikanische Souveränität. Investitionen sollen vor allem mit öffentlichem und privatem mexikanischen Kapital getätigt werden. Die Oberaufsicht über den Interozeanischen Korridor und die Verwaltung der Häfen wird Aufgabe des Marineministeriums seinsein, was sich in die Tendenz fügte,, den mexikanischen Militärs immer mehr zivile Aufgaben zuzuweisen.
Die Finanzierung des Gesamtvorhabens ist völlig unübersichtlich. Die genannten Summen variieren stark und werden immer nur für Teilprojekte angegeben. Das angespannte Verhältnis zwischen großen Teilen des mexikanischen Privatsektors und der Regierung lässt offen, ob die Privatwirtschaft überhaupt bereit ist, relevante Summen zu investieren, solange sie sich der Profitbedingungen nicht sicher ist. Die Regierungsvertreter sorgen für wenig Klarheit. Projekt-Direktor Rafael Marín Mollinedo behauptete Mitte 2019 beispielsweise ein Interesse der Europäischen Investitionsbank, den interozeanischen Korridor mitzufinanzieren. Auf der Webseite der EIB lassen sich jedoch keinerlei Hinweise auf ein entsprechendes Engagement finden. Die Erfüllung der Zielvorgabe AMLOs, zumindest die Bahnstrecke bis Ende 2023 fertigzustellen, ist mehr als fraglich.
Widerstand
Ein Grund dafür ist auch der Widerstand in Teilen der Bevölkerung. Regierungsvertreter rechtfertigen das Großprojekt damit, eine der „rückschrittlichsten Regionen“ Mexikos zu entwickeln. Doch gerade viele indigene Gemeinden, deren Territorien im Isthmus von Tehuantepec liegen, wollen sich ihre „Rückschrittlichkeit“ nicht nehmen lassen. Die indigenen Völker der Binnizá (Zapoteco), Ayuuk (Mixe), Zoque, Ikoots (Huave), Chontal, Chinanteco, Mazateco und Mixteco in Oaxaca, Popoluca, Náhua, Totonaco und Chinanteco in Veracruz bearbeiten vielfach Kollektivland. Die Gemeinden überleben mit landwirtschaftlicher Subsistenzwirtschaft, als Marktteilnehmende treten sie kaum in Erscheinung. Anfangs schlug die Regierung vor, die Gemeinden sollten ihr Land für die Industrieansiedlungen verpachten, um regelmäßige Einnahmen zu erzielen. Nun will sie die Gemeinden vom Verkauf überzeugen.
Ein stark erweiterter Güterverkehr sowie die Einrichtung der Industrieparks mit den Teilfertigungsfabriken würden die sozioterritoriale Bevölkerungsstruktur der Region enorm verändern. Sich ansiedelnde Migrantinnen und Migranten, zuziehende Arbeitskrräfte aus anderen Regionen Oaxacas sowie lokale Dorfbevölkerung, der die Lohnarbeit attraktiver erscheinen mag als die eigenen Felder zu bewirtschaften, würden den Alltag der Gemeinden und Kleinstädte radikal transformieren. In den Zonen der „Entwicklungspole für den Wohlstand“ konzentrieren sich 46 Prozent der Isthmus-Bevölkerung und 19 Prozent der zum Isthmus gerechneten Fläche.
Zuletzt Ende Mai sprach sich ein Zusammenschluss von Isthmus-Gemeinden unter dem Motto „Nicht der Fortschritt, den wir brauchen“ gegen den interozeanischen Korridor aus. Das Bündnis wies auf Dörfer ohne Trinkwasserversorgung, fehlende Gesundheitsdienste und prekäre Stromversorgung hin. Diese Defizite zu beheben, müsse Vorrang haben. Die Gemeinden beklagen auch die Spaltung, die die Diskussion über den interozeanischen Korridor hervorruft. Die Regierung hat in den betroffenen indigenen Gemeinden Befragungen zu den Industrieparks durchgeführt. Die Gegner der Entwicklungspole führen an, dass diese Konsultationen in keiner Weise den Standards der Befragung standhalten, wie sie in der ILO-Konvention 169 über „Indigenous and Tribal Peoples“ festgelegt sind. Die Beteiligung ist zudem oft gering, die Regierung mobilisiert dabei vor allem ihren Anhang. Einige Gemeinden geben ihre Stimmen auf ihre Art ab: Mehrfach haben sie Vermessungen blockiert und Bauarb eiter aus ihren Territorien vertrieben.
Gefahr eines Ökozids
Die indigenen und kleinbäuerlichen Gemeinden haben die üppige Natur des Isthmus von Tehuantepec über die Jahrhunderte bewahrt. Die Region weist noch eine enorme Bio-diversität auf. Mit den Chimalapas-Bergen befindet sich eines der letzten zusammenhängenden Urwaldgebiete Mexikos in der Region. Doch das extraktivistische Kapital nimmt schon lange den Isthmus in den Blick: Die Ausbeutung von Gold, Zink, Silber, Kupfer, Aluminium, Blei, Eisen, Bronze, Antimon, Marmor, Onix, Salz, Sand, Schwefel, Kies und Kalk hatte bisher logistische Grenzen. Je umfangreicher die Erschließung, desto mehr Möglichkeiten für das Kapital, sich die Ressourcen der Region anzueignen.
Für den interozeanischen Korridor in Mexiko scheint vorgezeichnet: Statt eine Alternative zum Panama-Kanal kann er höchstens ein Ausweichventil sein. Wird er jedoch tatsächlich zu einer logistischen Plattform mit erheblicher Industrieansiedlungen entlang seines Verlaufs ausgebaut, hat er das Potenzial, eine ganze Region zu zerstören.
Gerold Schmidt lebt in Mexiko Stadt. Er schreibt seit Gründung von Lunapark21 für diese Zeitschrift. Der erwähnte Bericht von ihm und Winfried Wolf erschien in der Zeitschrift Utopie kreativ 103/104, Mai-Juni 1999, Seiten 74-85.